Björn Höcke ist wegen öffentlichen Verwendens verfassungswidriger Kennzeichen angeklagt. Er behauptet, obwohl Geschichtslehrer, nicht gewusst zu haben, was die Parole bedeutet. Führt das zum Freispruch mangels Bildung, Herr Fischer?
Der Fraktionsvorsitzende der Partei Alternative für Deutschland im Landtag des Freistaats Thüringen, der Abgeordnete Höcke aus Lünen (NRW), Abitur in Neuwied (RP), erlernter Beruf: Oberstudienrat für Geschichte und Sport in Hessen, wird von der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) beschuldigt, zum Abschluss einer Rede, welche er am 29. Mai 2021 bei einer Wahlveranstaltung seiner Partei in Merseburg vortrug, die Parole ausgerufen zu haben: "Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland!"
Der Beschuldigte hat zwei Semester Rechtswissenschaft studiert (Bonn). Er trägt den Scheitel rechts und die vordere, nach links weisende Haartolle ein wenig länger, was Anlass und Gelegenheit zu gelegentlichem neckischem Zurückstreichen gibt, einer Geste, die in anderer personeller Zusammensetzung schon Frau Winifred Wagner ganz wuschig gemacht haben soll. Dass seine Heimat Sachsen-Anhalt sein könnte, hat bisher noch niemand behauptet; auch Großvater Höcke kam aus Ostpreußen, nicht aber aus Merseburg oder Erfurt.
Angeklagt ist er wegen des Verwendens eines Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation. Dieses Vergehen ist in § 86a StGB mit Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen bedroht:
1. im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet oder
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(II) Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Den in Satz 1 genannten Kennzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
§ 86 Abs. 1 Nr. 4, auf den hier verwiesen wird, zählt unter anderem "ehemalige nationalsozialistische Organisationen" auf.
Verfahrensstand
Im Juni 2023, also glatte zwei Jahre nach der möglicherweise öffentlich begangenen und aufgezeichneten Tat, hat die Staatsanwaltschaft Halle Anklage erhoben. Vielleicht war das Ermittlungsverfahren sehr kompliziert: Kann sein, dass die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten jahrelange verfassungsrechtliche Prüfungen erforderte. Möglicherweise wurden hunderte von Zeugen vernommen; vielleicht wurde monatelang gutachtlich ermittelt, ob sich wohl in der Geschichte Deutschlands eine Organisation finde, deren "Kennzeichen" der Redner verwendet haben könnte. Wie auch immer: Es gibt in Halle ja auch noch ein paar andere Verfahren, die dringend der Beschleunigung bedürfen, und Verjährung droht vorerst nicht.
Die Staatsanwaltschaft hat Anklage zum Landgericht erhoben und beantragt, das Hauptverfahren dort zu eröffnen (§ 199 Abs. 2 Satz 1 Strafprozessordnung (StPO)). Das geht nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG): "…wenn die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage zum Landgericht erhebt" (§ 74 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 3, Var. 3). Nun kann man über die Frage, ob der Fall, dass der Vorsitzende einer Landtagsfraktion öffentlich ein nationalsozialistisches Kennzeichen verwendet habe, "besondere Bedeutung" im Sinn von § 24 I Nr. 3 GVG zukommt, vielleicht diskutieren. Schon formal unzulässig in dieser Diskussion wäre allerdings das Argument, § 86a StGB betreffe ja nur ein nach der gesetzlichen Strafdrohung minder schweres Vergehen, sei also per se einer Strafkammer des Landgerichts (drei Berufsrichter, zwei Schöffen) nicht würdig.
Denn genau für solche Fälle ist § 74 Abs. 1 Satz 2 ja formuliert: Straftaten, die zwar nicht per se immer vors Landgericht gehören (wie "Verbrechen" im Sinne von § 12 Strafgesetzbuch (StGB) i.V.m. §§ 74a ff. GVG), aber trotzdem "bedeutend" sind. Der Maßstab, an welchem die Zuständigkeit hier zu messen war, waren also nicht z.B. Verbrechen des Totschlags oder des schweren Raubs, die zwingend beim Landgericht angeklagt werden müssen, sondern der Durchschnitt aller Fälle des § 86a StGB.
Das Landgericht Halle hat das Hauptverfahren zwar – wegen "hinreichenden Tatverdachts" – eröffnet (§ 203 StPO), allerdings "vor einem Gericht niedrigerer Ordnung" (§ 209 Abs. 1 StPO), nämlich vor dem Amtsgericht Halle. Die Beurteilung als "nicht von besonderer Bedeutung" erscheint dogmatisch vor dem Hintergrund der hervorgehobenen politischen Rolle des Angeklagten, mutig. Aber die Entscheidung steht erst einmal. Das Gericht, "vor dem" eröffnet wurde, kann sich dagegen nicht wehren (§ 270 StPO – Verweisung nach "oben" aufgrund von Ergebnissen der Hauptverhandlung – bleibt aber unberührt); der Beschuldigte wartet ggf. auf die Anfechtung der Entscheidung. Den interessierten Laien und Staatsbürger beschäftigen solche Fragen nicht wirklich; er will wissen, was hinten rauskommt.
Kennzeichen
§ 86a StGB verfolgt ein Strafkonzept der Tabuisierung. Kennzeichen der inkriminierten Art sind im Grundsatz (Ausnahme: § 86 Abs. 5: staatsbürgerliche Aufklärung gerade über die Verwerflichkeit) verboten. Man darf sie weder affirmativ (bestätigend) noch ironisch, weder humoristisch noch kritisch, weder "ähnlich" noch verfremdend verwenden, nicht zur Werbung für Wurst noch zur Promotion für Panzer.
Ein solches "Tabuisierungs-Konzept" ist natürlich auch der Kritik ausgesetzt: Wiederholt man damit nicht den Symbol-Fetischismus derjenigen, die man politisch-kommunikativ bekämpfen will? Ist die Tabuisierung des Irrationalen nicht vielleicht eine Niederlage vor den Intentionen der Feinde des demokratischen Rechtsstaats?
"Kennzeichen" im Sinn von § 86a StGB sind nicht nur körperliche Gegenstände, sondern auch unkörperliche Zeichen, also etwa Parolen, Bilder (z.B.: das "offizielle" Kopfbild Adolf Hitlers) oder Gesten ("Hitlergruß"). Das ist seit vielen Jahren ständige Rechtsprechung "vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus". Im Einzelfall kann man an der Sinnhaftigkeit zweifeln, etwa wenn besoffene Randalierer wegen (angeblich "ironischen") Zeigens des "Hitlergrußes" gegenüber Polizeibeamten wegen § 86a verfolgt werden und nicht wegen § 185 (Beleidigung).
Das ändert aber an der Legitimität und Verfassungsmäßigkeit des § 86a StGB nichts, auch wenn die Anknüpfung an eine endlos entlarvte, irrational-dumme Symbolistik dem aufgeklärten Bürger schmerzlich erscheinen muss. Das Hauptargument für die Strafbarkeit ist, dass verhindert werden soll, dass die entsprechenden Kennzeichen und Symbole zum Teil der Alltagskultur werden und aus beliebigen Motiven Verwendung finden, und dass dadurch die kommunikative und politische Stigmatisierung der dahinter stehenden Ideologie unterlaufen würde. Dagegen spricht das Argument, das jede Symbol-Verfolgung trifft: Die "Bedeutung" der Zeichen und Formeln wird dadurch nicht aufgehoben, sondern ausdrücklich bestätigt.
Beweiswürdigung
Der Beschuldigte Höcke verteidigt sich, wie man liest, mit dem Argument, er habe nicht vorsätzlich gehandelt, genauer gesagt: Er habe nicht gewusst, dass "Alles für Deutschland!" das Kennzeichen einer NS-Organisation war. Ein schlichter Tatbestandsirrtum also, § 16 Abs. 1 StGB: Vorsatz entfällt, Fahrlässigkeit ist bei § 86a StGB nicht strafbar – klarer Fall des Freispruchs für jeden Amtsrichter. Wenn es so wäre, wäre es so. Ich habe die Beweiserhebung und die Beweiswürdigung des zuständigen Gerichts hier nicht vorwegzunehmen.
Die Frage, ob die bloße objektive "Unwiderleglichkeit" der Einlassung eines Beschuldigten zur Anwendung des Zweifelssatzes ("in dubio pro reo") führen müsse, ist vom Bundesgerichtshof viele Male ausführlich beantwortet worden. Der Zweifelssatz schreibt nicht vor, dass das Gericht unter den einen oder anderen Umständen Zweifel haben müsse, sondern ist eine Entscheidungsregel für den Fall, dass das Gericht tatsächlich Zweifel hat. Das verkennen übrigens ungefähr 95 Prozent der Beschwerdeführer, die dem BGH oder dem BVerfG dicke Schriftsätze wegen angeblichen Verstoßes gegen diesen Grundsatz zuleiten.
Die Parole "Alles für Deutschland" war nicht irgendeine von zahllosen Phrasen, sondern die zentrale Losung der "SA" (Sturmabteilung) der nationalsozialistischen Bewegung ab Anfang der 1920er Jahre. Zunächst als "Saalschutz", später als paramilitärische Organisation in Konkurrenz zu Reichswehr und Polizei, spätestens seit der "Machtergreifung" (eher: demokratische Wahl der Diktatur) bis zu ihrer Liquidierung 1934 in tödlicher Konkurrenz zur "Schutzstaffel": Die völlige Unklarheit der Kompetenzen der Exekutiv- und Gewaltorgane war wesentliches Merkmal des NS-Staats.
Der Beschuldigte Höcke tänzelt über die Parkette und durch die Medien wie ein Ballett-Eleve nach der Pediküre. Er weiß, wie der Gefreite vor dem Feldmarschall den Treuediener machte, und kann dies im Plenarsaal des Landtags scheinbar spontan repetieren. Er kennt, soweit ich sehe, jede Nuance der Symbolik, welcher er nahestehen möchte. Dass er übersehen haben könnte, was "Alles für Deutschland!" bedeutet, erscheint völlig fernliegend. Als der Kreisverband Passau der AfD kürzlich die Parole plakatierte und die Polizei die Plakate entfernte, teilte der dortige Landesvorsitzende der Partei sogleich mit, die Plakate seien nicht genehmigt gewesen; "es gebe gewisse Sprüche, die werden einfach nicht verwendet".
Ich will und kann damit der Beweisaufnahme des AG Halle (Saale) nicht vorgreifen. Aber immerhin sagen: Wenn der Angeklagte das nicht wüsste, wäre er wesentlich ungebildeter, als ein hessischer Oberstudienrat nach der gerichtlichen und Lebenserfahrung sein könnte.
Da kann man dann gespannt sein, mit welchen Anträgen ein solches Maß an Ungebildetheit in der Hauptverhandlung unter Beweis gestellt werden wird. Insofern ist es – ein weiteres Mal – erstaunlich, wie obrigkeitshörig, kleinkariert und furchtsam sich die kleinbürgerlichen Protagonisten des angeblich erneuten Erwachens des Volks gerieren, wenn sie persönlich in Konflikt mit dem ihnen verhassten Rechts-"System" geraten. Es gilt in der Szene als "schlau" sich auf Schulbub-Niveau zu entlasten, statt die rechtsextreme Gesinnung zuzugeben. "Formal" immer gesetzes- und staatstreu, obgleich das das erste ist, was die "Volksfreunde" zerschlagen wollen. Genauso agierte auch die NSDAP in den 20er Jahren.
Antworten, im Ergebnis:
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"Kennzeichen" im Sinn von § 86a StGB sind ausdrücklich auch unkörperliche Symbole und Parolen.
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Die genannte Parole war die Leitparole der nationalsozialistischen "SA" und ist daher von § 86a Abs. 1 i.V.m. § 86 Abs. 1 StGB erfasst.
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Die Strafbarkeit des Verwendens dieser Kennzeichen beruht auf einem Konzept des Tabuisierens, das eine Veralltäglichung der Symbole verbrecherischer Organisationen und Parteien verhindern will. Durchgreifende verfassungsrechtliche Einwände dagegen bestehen nicht.
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Voraussetzung einer Bestrafung nach § 86a Abs. 1 StGB ist, dass der Täter das Wesen des von ihm verwendeten Kennzeichens kennt oder billigend in Kauf nimmt. Ob die Angabe eines Oberstudienrats für Geschichte und Vorsitzenden einer Landtagsfraktion, er habe die Bedeutung der von ihm verwendeten Parole nicht gekannt, glaubhaft ist, ist eine Tatfrage, die das Gericht zu entscheiden hat.
Eine Frage für Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52732 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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