Im Koalitionsvertrag von Union und SPD sind diverse strafrechtliche Verschärfungen vorgesehen. Thomas Fischer über Inkonsistenzen, Strafbarkeitslücken und einen Freud'schen Versprecher, der viel über das Denken der Koalitionäre aussagt.
Es ist nun vollbracht. Die "grundlegende Wende" der Politik, welche ja auch stets eine des formellen Rechts sein muss, hat im Koalitionsvertrag vom 9. April 2025 kommunikative Gestalt angenommen. Er firmiert unter dem Titel "Verantwortung für Deutschland" und befasst sich, neben zahllosem anderen, auch einmal wieder mit dem Strafrecht, indem es im Abschnitt "Sicheres Zusammenleben" mehr oder minder wolkige Erklärungen über gemeinsame Absichten auflistet.
Wer Koalitionsverträge kennt, weiß, dass Papier geduldig, die Welt und das Leben etwas komplizierter sind als zehnmal redigierte Kompromiss-Slogans. Die "Verträge", die da geschlossen werden, sind luftige Vorschläge, auf deren Erfüllung niemand klagen kann. Gleichwohl lassen sie Tendenzen, Stimmungen und Absichten erkennen. Daher soll hier einmal kurz vom Programm der Koalition die Rede sein, soweit es das materielle Strafrecht betrifft. Es ist ab Zeile 2860 (S. 89) des Dokuments nachlesbar.
"Verschärfungen des Schutzes"
Ein wenig auffällig ist, dass Überschriften und Texte gelegentlich nicht zusammenpassen. So wird eine "ergebnisoffene Evaluation" des Cannabisgesetzes unter der Überschrift "Strafprozessrecht" in Aussicht gestellt, unter der Überschrift "Familienrecht" eine Bekämpfung von Gewaltkriminalität. Das ist nur eine Formalie, deutet aber auf eine gewisse eilige Nonchalance hin.
Das Strafrecht soll "weiter entwickelt" werden. Diese Entwicklung kennt, soweit ersichtlich, nur eine Richtung: die "Verschärfung des strafrechtlichen Schutzes". Dieser Begriff (Zeile 2862) wirkt wie ein sogenannter Freudscher Versprecher, denn einen Schutz kann man eigentlich nicht "verschärfen", sondern nur verstärken (oder schwächen), und "verschärft" wird hier nur eines: das Strafrecht. Dahinter steht natürlich die unausgesprochene und ersichtlich ungebrochene Überzeugung, dass die Androhung von mehr und höheren Strafen sich proportional in mehr Rechtsgütersicherheit umsetzt. Das ist bekanntlich streitig und lässt sich jedenfalls in seiner schlichten Linearität nicht belegen.
Mehr "Schutz" für (fast) Alle
Die "Verschärfung des Schutzes" soll stattfinden für Einsatz- und Rettungskräfte sowie Polizisten (Zeile 2862). Die sind schon jetzt über § 115 Abs. 3 in Verbindung mit §§ 113, 114 Strafgesetzbuch (StGB) (Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungskräfte, Rettungsdienste, Feuerwehr usw.) mit Strafdrohungen bis zu fünf Jahren geschützt; was da noch mit Aussicht auf Erfolg verschärft werden sollte, ist schwer erkennbar.
Neu ist die Absicht, allgemein "Angehörige der Gesundheitsberufe" in diese Schutzverschärfung einzubeziehen. Das beruht offenbar auf Meldungen über "immer häufigere" Attacken unzufriedener oder eiliger Patienten (bzw. Angehörigen) auf Bedienstete in Notaufnahmen von Krankenhäusern. Auch dies ist natürlich schon jetzt strafbar (Körperverletzung, Nötigung). Dass angetrunkene Randalierer von Angriffen absehen, wenn die Mindeststrafe von einem auf drei Monate erhöht wird, ist kaum zu erwarten. Die Ausweitung auf alle "Gesundheitsberufe" erscheint darüber hinaus überzogen und nicht veranlasst.
Schließlich soll ein "erweiterter Schutz" für Kommunalpolitiker sowie "für das Allgemeinwohl Tätige" geprüft werden. Was man sich darunter vorzustellen hat, ist unklar: Schutz vor Gewalt, Ehrenschutz? Und wer ist für das Allgemeinwohl tätig? Lehrer, Rechtsanwälte, Straßenbahnfahrer, Journalisten? Welche Klientel möchte man "besser" schützen als andere?
Neue Mordmerkmale im Anflug
Es sollen "insbesondere Frauen" besser vor Gewaltkriminalität geschützt werden, außerdem "besonders verletzliche Personen": Kinder, Gebrechliche, Behinderte. Damit dürfte nicht gemeint sein, dass Gesunde, Männer und Diverse bereits hinreichend geschützt seien; vielmehr vermischen sich hier einmal mehr allgemeine gesellschaftspolitische mit strafrechtlichen Gedanken.
Erstaunlich ist, wie der bessere Schutz verwirklicht werden soll: Durch ein "neues Qualifikationsmerkmal bei den Tatbeständen von Mord" (Zeile 2920). Gemeint ist offenbar ein neues Mordmerkmal. Hier kann man sich allerlei mehr oder minder abenteuerliche Formulierungen vorstellen, von der Auslistung des "Femizids" bis zum "Ausnutzen von besonderer Verletzlichkeit". Mit beidem wären freilich weitere Unklarheiten in den Tatbestand des § 211 StGB hineingetragen.
Geprüft werden soll die genannte neue Qualifikation auch bei gefährlicher Körperverletzung (§ 224) und schwerem Raub (§ 250). Was man sich darunter vorzustellen hat, ist unklar: Soll das Berauben von Frauen höher bestraft werden als das von Männern, das Verletzen von Alten höher als das von Jungen? Und warum nur bei Körperverletzung und schwerem Raub, nicht aber bei gewaltsamen sexuellen Übergriffen oder ganz allgemein beim Einsatz oder der Androhung von Gewalt? Warum nur bei schwerem, nicht aber bei einfachem Raub mit Gewalt? Die Sache bleibt noch gänzlich unklar.
Schärfere Strafen für besseren Schutz?
Unter der Überschrift "Familienrecht" (Unterüberschrift "Gewalt gegen Frauen", Zeile 2916) folgen neben den schon oben erwähnten Plänen noch allerlei weitere: Verschärfung des Tatbestands der Nachstellung (§ 238, "Stalking"), Erhöhung der Strafrahmen des Gewaltschutzgesetzes, Einführung des "Spanischen Modells" (Elektronische Fußfessel bei Gewaltschutz). Welche Änderung des Nachstellungs-Tatbestands erwogen wird, teilt der Vertrag nicht mit; auch hier dürfte bevorzugt eine Strafrahmenerhöhung gemeint sein (bislang: bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe in einfachen Fällen, bis zu fünf Jahren in schweren Fällen, bis zu zehn Jahren bei – fahrlässiger – Todesfolge). Da ist theoretisch natürlich immer noch Luft nach oben; ob es praktisch irgendetwas nützt, ist eine andere Frage.
Geprüft werden soll – immer noch unter der genannten Überschrift –, bei der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) die Varianten "mittels einer Waffe" (Nr. 2) und "mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung" (Nr. 5) als Verbrechen (§ 12) einzustufen, also mit Mindeststrafe von einem Jahr zu bedrohen (Zeile 2927). Das mag zunächst plausibel klingen ("angesichts der gestiegenen Gewaltkriminalität und der Gefährlichkeit"), öffnet aber den Raum für neue weitreichende Unklarheiten.
Was ein "gefährliches Werkzeug" ist, ist bekanntlich hochstreitig. Im Fall des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB kann es jeder beliebige Gegenstand sein, wenn er im Einzelfall – die Körperverletzung ist ein Erfolgsdelikt – zu einer Verletzung geführt hat. Es werden daher nicht etwa nur Fälle spektakulärer Gewaltausübung erfasst, sondern auch bagatellnahe Verletzungserfolge.
Bei § 224 Abs. 1 Nr. 5 (lebensgefährdende Behandlung) ist zu bedenken, dass der Tatbestand schon eine abstrakte ("potenzielle") Gefährlichkeit ausreichen lässt, die nicht selten schon bei Handlungen wie einem Griff an den Hals, dem Schubsen eines Betrunkenen usw. angenommen wird und Gegenstand interessanten Gutachterstreits sind. Dass die derzeitige Strafdrohung von bis zu 10 Jahren nicht ausreichen sollte, wäre schwer zu begründen, nicht zuletzt, weil im Bereich konkreter Lebensgefährlichkeit der Tatbestand oft mit versuchten Tötungsdelikten zusammentrifft und die Strafrahmen dann sowieso höher sind.
Mal wieder Lücken im Sexualstrafrecht
Schließlich noch das Sexualstrafrecht (ebenfalls unter "Gewalt gegen Frauen"). Dazu heißt es: "Für Gruppenvergewaltigungen wollen wir den Strafrahmen grundsätzlich erhöhen, insbesondere bei gemeinschaftlicher Tatbegehung, bei Vergewaltigung und bei Herbeiführung einer Schwangerschaft" (Zeile 2930). Was das bedeuten soll, bleibt wiederum rätselhaft. Gibt es auch "Gruppenvergewaltigungen" ohne gemeinschaftliche Begehung? Was soll der Unterschied sein? Was ist eine "Gruppe" (siehe dazu auch "Straftaten aus Gruppen", § 184j StGB).
Wieso soll die Verschärfung nur bei "Vergewaltigung" (= sexueller Übergriff mit Eindringen in den Körper", § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB) vorgenommen werden? Der gegenwärtige Strafrahmen für Vergewaltigung beträgt zwei bis 15 Jahre, ebenso der für eine gemeinschaftliche (zwei Personen reichen) Begehung eines sexuellen Übergriffs (Abs. 6 Nr. 2; auch ganz ohne Vergewaltigung). Wohin soll das erhöht werden? Und was ist mit dem seltsamen Begriff "grundsätzlich erhöhen" gemeint? Mir scheint, die Rechtspolitik verliert immer mehr die intellektuelle Kontrolle über Inhalt und Grenzen ihres beständigen „Kampfs“ gegen das sexuell motivierte Böse.
Denn abschließend werden – wieder einmal – neue Strafbarkeitslücken" entdeckt: "gezielte, offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen". Die belästigende körperliche Berührung unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des sexuellen Übergriffs ist schon in § 184i StGB unter Strafe (bis fünf Jahre!) gestellt. Die neu entdeckte "Lücke" klafft nun bei verbalen Belästigungen (inzwischen gern als "verbale Gewalt" bezeichnet).
Man darf gespannt sein, was die neue Bundesregierung sich dazu einfallen lässt. Jedenfalls wird sich ein weites Feld für die Auslegung der Merkmale "offensichtlich unerwünscht" und "erheblich" sowie für die Beweisführung auch zum Vorsatz ergeben. Eines kann jedenfalls mit Sicherheit vorhergesagt werden: Nach Einführung eines Tatbestands "verbale sexuelle Gewalt" wird die polizeiliche Kriminalstatistik alsbald von einer besorgniserregenden Zunahme der registrierten Sexualdelikte berichten.
Spione zittern – der Umwelt zu Liebe
Ein wenig überraschend wirkt der Plan, die Strafrahmen für die geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99 StGB) umzugestalten und zu erhöhen (Zeile 2866). Bislang ging die Strafdrohung von einem Monat bis fünf Jahre, in schweren Fällen von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Künftig soll sie sechs Monate bis zehn Jahre, in minder schweren Fällen einen Monat bis fünf Jahre betragen. Da zittert der Spion und stellt die unerlaubte Tätigkeit ein.
Schön ist die Einleitung zum Thema Umweltkriminalität (Zeile 2870): "Umweltkriminalität ist eines der wichtigsten Betätigungsfelder für die Organisierte Kriminalität und bedroht unsere Lebensgrundlagen." Dass die OK-Abteilungen von Polizei und Staatsanwaltschaften sich "wichtigst" mit Umweltkriminalität befassen, kann man nicht behaupten. Im Gegenteil fristen die Strafvorschriften der §§ 324 ff. StGB seit jeher ein bescheidenes Leben am Rande des Gesetzbuchs. Das rührt unter anderem daher, dass die allermeisten die Lebensgrundlagen bedrohenden Handlungen eben nicht "unbefugt" und daher strafbar sind, sondern befugt. Vom Rest ist ein Großteil nicht beweisbar.
Nun soll also die "Bekämpfung verstärkt" werden, und zwar mittels eines Nationalen Aktionsplans, in dem man sich auf "Ziele und Maßnahmen" zu verständigen beabsichtigt. Man darf gespannt sein, wie die "überbordende Bürokratie" die neuen Zukunftspläne gestaltet.
Wahlrechtsentzug als Disziplinierungsmaßnahme
Ein interessantes Vorhaben ist die Einführung eines (obligatorischen oder fakultativen?) Entzugs des passiven Wahlrechts bei mehrfacher (zweimaliger?) Verurteilung wegen Volksverhetzung (Zeile 2890). Die Nebenfolge des Entzugs der Wählbarkeit bei öffentlichen Wahlen ist in § 45 StGB geregelt: Bei Verurteilung wegen eines (beliebigen) Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ist der Entzug schon jetzt zwingend (Abs. 1). Bei Verurteilung wegen anderer Taten zu einer Strafe von mindestens sechs Monaten kann er vom Gericht angeordnet werden, wenn der jeweilige Straftatbestand dies ausdrücklich zulässt (siehe z.B. § 92a StGB).
Die Nebenfolge ist kürzlich durch das Urteil eines französischen Gerichts gegen die Politikerin Marine Le Pen zu allgemeiner Aufmerksamkeit gelangt, wobei die Rechtslage in Frankreich sich von der deutschen unterscheidet und insbesondere eine Anordnung des Sofortvollzugs zulässt. Zur Information hierüber kann die aktuelle Ausgabe des LTO-Podcast “Die Rechtslage” empfohlen werden.
Grundsätzlich ist gegen den Plan, die Nebenfolge auch bei Volksverhetzung (§ 130 StGB) zuzulassen oder vorzuschreiben, wenig einzuwenden. Es könnte Politiker oder solche, die es werden wollen, veranlassen, sich bei den öffentlichen Frieden störenden Äußerungen und Aufrufen zu Willkürmaßnahmen gegen Teile oder Gruppen der Bevölkerung oder gegen einzelne Personen aus diesen Gruppen zurückzuhalten. Allerdings dürfte die praktische Bedeutung der Gesetzesänderung jedenfalls derzeit nicht groß sein.
Nazipropaganda in Chats soll strafbar werden
Eine "noch intensivere Bekämpfung" verspricht der Vertrag den Phänomenen Terrorismus, Antisemitismus sowie "Hass und Hetze" (Zeile 2891). Hierzu soll "insbesondere" der Tatbestand der Volksverhetzung (erneut) verschärft werden. Ob dies durch Erhöhung der Strafrahmen oder durch weitere Tatbestandsvarianten geschehen soll, bleibt offen. Die Strafrahmen reichen schon jetzt bis zu fünf Jahren. Noch höhere Strafen für reine Äußerungsdelikte anzudrohen, dürfte kaum verhältnismäßig sein.
Ein anlassbezogenes Vorhaben ist die Prüfung einer Strafbarkeit "für Amtsträger und Soldaten, die im Zusammenhang mit der Dienstausübung antisemitische und extremistische Hetze in geschlossenen Chatgruppen teilen" (Zeile 2893). Das zielt auf die bekannt gewordenen Fälle entsprechender Gruppen bei Polizei und Bundeswehr ab. Hintergrund für dieses Vorhaben dürfte die Entscheidung des OLG Frankfurt sein, nachdem das bloße Teilen von Nazipropaganda in einer Chatgruppe von Frankfurter Polizisten kein „Verbreiten“ im Sinne des Volksverhetzungs-Tatbestands nach § 130 Abs. 2 StGB iist. Darüber mag man streiten. Strafgrund und Legitimation eines speziellen „Chatgruppen“-Tatbestands für alle Amtsträger (das sind, siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB, neben hessischen Polizisten zum Beispiel auch Abschleppunternehmer, Postdienstleister, Fluglotsen oder Angestellte kommunaler Krankenhäuser) und Soldaten bleiben im Dunkeln, wenn zugleich entsprechende Chatgruppen von Fuß- oder Handballfreunden, Hausmännern oder Kindergärtnerinnen in der “Lücke” unbeachtet bleiben.
Antworten, im Ergebnis:
- Koalitionsverträge sind, wie sie sind, und jedenfalls keine Gesetzentwürfe. Soweit konkrete Vorhaben beschrieben sind, sollten sie aber ernst genommen werden, weil sie Ziele des zukünftigen Regierungshandelns benennen und damit zu rechnen ist, dass die Ministerialbürokratien diese auch umzusetzen versuchen.
- Das (materielle) Strafrechtsprogramm der neuen Bundesregierung besteht, mit einer kleinen Ausnahme (Ankündigung, einmal mehr prüfen zu wollen, ob vielleicht Tatbestände überflüssig sind), ausschließlich aus Verschärfungen sowie Absichten, "Lücken" durch neue Tatbestände schließen zu wollen. Das gibt erneut Anlass zu dem Hinweis, dass die "Lücke" gerade das Wesen des Strafrechts ist und per se nicht kritikwürdig, sondern begrüßenswert ist – jedenfalls so lange nicht jegliches menschliche Verhalten unter Strafdrohung gestellt wird.
- Das Programm ist daher insoweit nicht mehr als die Fortsetzung der allgemeinen öffentlichen Sicherheits-Diskussion der vergangenen Jahre, die sich inzwischen weitgehend auf "immer schlimmer" und "mehr Strafe" reduziert hat. Über einzelne konkrete Vorhaben wird zu sprechen sein. Vorerst bleibt der enttäuschende Eindruck einer bloßen Fortschreibung der gewohnten Einfallslosigkeit.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 11.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56991 (abgerufen am: 25.04.2025 )
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