Eine Frage an Thomas Fischer: Muss das Jugend­straf­recht nach dem "Stadt­park-Urteil" ver­schärft werden?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

04.12.2023

Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht. Doch der Volksseele erscheinen die Ergebnisse des Stadtpark-Urteils wegen Sexualdelikten an einer 15-Jährigen in Hamburg als zu lax. Das ist purer Unverstand, meint Thomas Fischer.

Eine Jugendkammer des Landgerichts (LG) Hamburg hat neun zur Tatzeit (September 2020) jugendliche und heranwachsende Angeklagte wegen Sexualdelikten an einem damals 15 Jahre alten Tatopfer zu Jugendstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren neun Monaten verurteilt. In vier Fällen wurde die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, in vier weiteren Fällen wird über die Verhängung von Jugendstrafen in sechs Monaten entschieden. 

Einmal mehr kocht die Volksseele. Sie gewinnt die Kraft dazu vor allem aus der Fantasie, darüber hinaus aus dem Umstand, dass acht Täter "Migrationshintergrund" haben, aus mehr oder minder intuitiven "Gerechtigkeits"-Postulaten sowie aus purem Unverstand. 

Letzterer fängt schon beim schlichten Sachverhalt an. Die Öffentlichkeit war im Verfahren vor der Jugend(schutz)kammer zum Schutz des Opfers ausgeschlossen. Sie weiß also nicht, was die Beweisaufnahme in 65 Verhandlungstagen (!) im Einzelnen erbracht hat. Man muss sich mit dem begnügen, was von der teilweise öffentlichen Urteilsverkündung berichtet wurde. Nur beispielhaft einige Schnipsel: 

In diesen Zitaten offenbart sich Wirrnis über die festgestellten Tatsachen und ihre rechtliche Würdigung. Es reicht im Strafrecht nicht aus, irgendeine Handlung "ekelerregend", empörend, strafwürdig zu finden. Strafen werden aus gesetzlichen "Strafrahmen" zugemessen, und deren Anwendung ist von bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen abhängig. Bei Anwendung von Jugendstrafrecht gelten die Strafrahmen des Erwachsenenstrafrechts nicht, selbstverständlich aber die Tatbestandsvoraussetzungen des materiellen Strafrechts.  

In den Zitaten aus "Bild" und "NDR" sind mindestens vier verschiedene Varianten des Tatbestands des § 177 StGB angedeutet: 

  • Übergriff gegen den erkennbaren Willen;
  • Übergriff gegen willensunfähige Person;
  • Übergriff gegen eingeschränkt willensfähige Person ohne ausdrückliche Zustimmung;
  • Sexuelle "Nötigung" durch Ausnutzen einer schutzlosen Lage. 

Alle vier Varianten heißen "Vergewaltigung", wenn es zu einem "Eindringen in den Körper" kam. Das ist dann ein "besonders schwerer Fall" des jeweiligen Tatbestands (nicht aber eine "besonders schwere Vergewaltigung"; das ist wieder etwas anderes; Abs. 8). 

Außerdem hat hier jedenfalls teilweise "Gemeinschaftlichkeit" vorgelegen; diese Variante ist in Abs. 6 Nr. 2 beschrieben und ist wieder etwas anderes als die allgemeine Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB). Soweit aus Presseberichten ersichtlich, haben aber nicht alle Angeklagten zusammen "gemeinschaftlich" gehandelt. 

Rechtsfolgen

Die genannten rechtlichen Voraussetzungen sind dank des unermüdlichen Verschärfungs- und Lückenfüllungs-Willens des Gesetzgebers inzwischen extrem kompliziert. Das Publikum gibt sich daher, angeleitet durch die Empörungspresse, meist gar nicht mehr mit ihnen ab, sondern verlangt Strafen und Vergeltungen je nach Bauchgefühl, das wiederum in hohem Maß davon gesteuert wird, welche Wörter, Beschreibungen, Assoziationen und Verbindungen in den Medien benutzt und hergestellt werden. Denn wie (fast) stets war ja keiner dabei, weiß jeder alles nur aus zweiter oder dritter Hand.

In diesem jugendrechtlichen Fall weiß man darüber hinaus auch aus dem Verfahren und der Hauptverhandlung fast nichts. Alle Empörung über das angebliche "Skandalurteil" beruht also weitgehend auf Gerüchten, selektiven Wiedergaben und allgemeinen "Gefühlen". Selbst wenn aber Letzteres heutzutage viel gilt, ist es doch offenkundig ungeeignet, eine sinnvolle Beurteilung einer konkreten Rechtsentscheidung oder gar der Regeln zu erlauben, auf denen sie beruht.

§ 105 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 S. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) lauten: 

"(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. 

(3) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre." 

§§ 17 Abs. 2 und 18 Abs. 1 JGG lauten: 

§ 17

"(2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist. 

§ 18 

(1) Das Mindestmaß der Jugendstrafe beträgt sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre. Handelt es sich bei der Tat um ein Verbrechen, für das nach dem allgemeinen Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe angedroht ist, so ist das Höchstmaß zehn Jahre. Die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelten nicht."

Vorliegend betrug der Strafrahmen für die zur Tatzeit Jugendlichen also sechs Monate bis zehn Jahre, wenn die Tat ein "Verbrechen" nach § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB war; das folgt aus § 18 Abs. 1 S. 2 JGG. War die Tat nur ein "Vergehen" nach § 177 Abs. 1 oder 2 StGB, jeweils in Verbindung mit dem "besonders schweren Fall" ("Vergewaltigung") des Abs. 6 Nr. 1, so blieb die Höchststrafe bei fünf Jahren, weil dieser besonders schwere Fall kein "Verbrechen" ist (das steht in § 12 StGB). Für die Heranwachsenden betrug die Höchststrafe in allen Fällen zehn Jahre. Für die Kompliziertheit dieser Regelung gilt das oben Gesagte. 

Es bedeutet aber im Ergebnis, dass es auf das oben zur Tatbestandsmäßigkeit Ausgeführte durchaus ankommt: Wer gar nicht genau weiß, welche Tatbestände erwiesen wurden, kann jedenfalls das Strafmaß für die Jugendlichen nicht sinnvoll kritisieren.  

Vollstreckung

§ 21 Abs. 1 und 2 JGG lauten:

"(1) Bei der Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Jugendliche sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Jugendlichen, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind."

(2) Das Gericht setzt unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Jugendstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aus, wenn nicht die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen geboten ist."

Das klingt, wie gewiss auch die Freunde "konsequenter Erziehung" zugeben müssen, ziemlich vernünftig. Wohl jeder, der Kinder im Alter zwischen 14 und 21 hat, möchte, dass ihnen nach strafbarem Abweichen vom rechten Weg andere Chancen eingeräumt werden als erwachsenen Straftätern mit langjährig verfestigter Persönlichkeit. Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht. Das von Gustav Radbruch entworfene JGG wurde vor genau 100 Jahren als Meilenstein einer menschenwürdigen Strafrechtspflege eingeführt. Liest man heute die Aufwallungen der "sozialen Medien", so könnte man den Eindruck gewinnen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung schnurstracks zurück ins 19. Jahrhundert möchte oder in die Kinder- und Jugend-Zuchthäuser von Charles Dickens-Romanen strebt. 

Allerdings sind diejenigen, die bei jeder Gelegenheit nach der berüchtigten "vollen Härte des Gesetze" rufen und entgegen jeder Erfahrung behaupten, diese habe "noch nie geschadet", tatsächlich meist in der (lauten) Minderheit. Spätestens, wenn es die eigenen so genannten "Jugendsünden" oder die der eigenen Sprösslinge betrifft, laufen auch die Hardliner zum Strafverteidiger und erbitten höchste Bemühungen um Milde für die verwirrten, scheidungsgeschädigten, hoch- oder minderbegabten, spätpubertierenden Kindlein.   

Re(Integration)

Schließlich noch die "Süddeutsche" mit der Fundamentalfrage: 

"Kann man solche Täter wieder in die Gesellschaft integrieren?" (SZ, 29.11.2023) 

Was könnte damit wohl gemeint sein? Was ist ein "solcher Täter"? Da die SZ-Autorin die Hamburger Angeklagten vermutlich nicht persönlich kennt, kann sie eigentlich nur die "Beteiligten einer solchen Tat" meinen. Zwischen Tat und Täter bestehen schon begrifflich Unterschiede: Das eine beschreibt ein bestimmtes strafbares Ereignis, das andere eine Person im Ganzen ("Persönlichkeit"; neudeutsch "Identität"). 

Wenn "Vergewaltigung" die Tat ist, kann der Täter oder die Täterin entweder Klempner oder Chefredakteur, US-Präsident oder wohnsitzloser Alkoholiker sein. Die allermeisten Täter von Vergewaltigungen (jeder Art, siehe oben) sind, jedenfalls nach den üblichen Maßstäben, "in die Gesellschaft integriert", wenn damit gemeint ist, dass sie "sozial unauffällig" sind, einer Erwerbsarbeit oder Ausbildung nachgehen, ihre Nachbarn grüßen und sich jederzeit zur Verteidigung der Geschlechtsehre bereiterklären.   

Der Begriff der Re-Integration wird regelmäßig verkannt, verdreht oder willkürlich verwendet. Unter "Resozialisierung" verstand man ursprünglich die "Wieder-Eingliederung" von verurteilten Straftätern nach Verbüßung einer Haftstrafe. Dann kam man darauf, dass manche nicht "wieder", sondern erstmals eingegliedert werden mussten. Seither geht es mit der "Integration" begrifflich wild durcheinander; verschärft noch dadurch, dass sich jetzt auch jede Person "mit Migrationshintergrund" angeblich lebenslang "integrieren" muss, selbst wenn sie deutsche Staatangehörige ist. 

Verschärfung

Soweit ich sehe, befassen sich die Empörungswillen über das angebliche "Skandalurteil" des LG Hamburg nicht oder nur am Rande mit einer Verschärfung des Jugendstrafrechts im Allgemeinen. Vorschläge dazu sind mir derzeit nicht bekannt. 

Vielmehr wird eine "verschärfte Anwendung" verlangt, also höhere Strafen; besonders wichtig immer "Knast", also möglichst lange Haft. Am besten schon vor der Verurteilung:  Stichwort „Untersuchungshaft als Abschreckungsmaßnahme“.  Menschen, die dies – gern mit einem gewissen Fanatismus – nach jeder Tat und zahllosen Urteilen, die ihnen nicht gefallen, immer wieder fordern, sind oft für Argumente schwer erreichbar und können auch selten empirische Anhaltspunkte dafür liefern, dass sie Recht haben. Die üblichen Weissagungen ("Freibrief" usw.) offenbaren nur schematische Vorurteile.  

Antworten, im Ergebnis

1. Die Berichterstattung und Diskussion über das Hamburger Urteil vom 28. November 2023 ist (zwangsläufig) lückenhaft, teilweise schlicht falsch. 

2. Das Verständnis des festgestellten Tathergangs entzieht sich der Öffentlichkeit weitgehend ebenso wie die den Schuldsprüchen zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschriften.

3. Die Strafzumessung ist Sache des Tatgerichts, nicht irgendwelcher Empörungs-Kartelle. Wer bei einer Hauptverhandlung nicht dabei war und die Strafzumessungsgründe eines Gerichts nicht im Einzelnen kennt, kann über die verhängten Rechtsfolgen gar nicht sinnvoll reden.

4. Eine "Verschärfung" des Jugendstrafrechts aus Anlass dieses konkreten Falles ist durch nichts veranlasst. 

 

* Anm. d. Red.: Artikelversion vom 5.12.23, 12:19 Uhr - Eine Vorfassung enthielt noch Ausführungen zu § 27 JGG, sie beruhten auf einer Verwechslung mit einer Pressemitteilung und Presseberichten. Die Passage wurde gelöscht.

Außerdem wurde am 4.12.23, 20:45 Uhr geändert: In einer Vorfassung des Artikel wurde Kritik an einem ZDF-Beitrag geübt. Hintergrund war die dort zu findende Aussage "Das ‚Ja heißt Ja Gesetz‘ verlangt zum Sex die Zustimmung beider. Sexueller Übergriff und Vergewaltigung werden nicht mehr unterschieden." Die Einbindung der Aussage in den Artikel erweckte den Eindruck ihrer Zugehörigkeit zum Artikel. Die Aussage bezog sich als Videounterschrift allerdings auf die Rechtslage in Spanien, ohne dass dies erkennbar gewesen wäre. Nach Hinweis des ZDFs in Bezug auf die missverständliche Einbindung wurde die Passage enfernt. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53330 (abgerufen am: 02.12.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen