Zur Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland hat der US-Sender CBS eine Doku ausgestrahlt - ein tendenziöses und desinformatives Machwerk, meint Thomas Fischer. Aber auch die interviewten Staatsanwälte haben sich übertölpeln lassen.
I. CBS
"Hassrede online zu posten, kann in einem europäischen Land zu einer polizeilichen Durchsuchung Ihres Heims führen" ("Posting hateful speech online could lead to police raiding your home in European country") hieß eine CBS-Dokumentation vom 16. Februar 2025. Das europäische Land, von dem hier die Rede war, ist die Bundesrepublik, und Anlass für die Dokumentation war der "Aktionstag gegen Hasskriminalität" am 12. November 2024, der den Schwerpunkt "antisemitische Hasskriminalität" hatte und bei 127 polizeilichen Maßnahmen zu mehr als 50 Wohnungsdurchsuchungen führte.
CBS mit Produzent Michael Karzis und Reporterin Sharyn Alfonsi hängte sich zur Aufklärung der (US-amerikanischen) Öffentlichkeit über die seltsamen und beunruhigenden Vorkommnisse ("policing in a way most Americans could never image") im "nordwestlichen" Germany (gemeint: Niedersachsen) an eine Hausdurchsuchung ("06.01 in the morning; six armed officers…") und führte unter anderem ein Interview mit drei Staatsanwälten der niedersächsischen Zentralstelle zur Verfolgung von Hasskriminalität im Internet. Mit ungläubigem Staunen teilte man dazu mit, Deutschland verfüge über 16 solcher (polizeilicher) Stellen, allesamt auch mit zugeordneten Staatsanwälten. Dass jener ferne Staat Deutschland aus Bundesländern besteht, bei denen verfassungsrechtliche Zuständigkeiten für Justiz und Polizei liegt, wurde nicht erwähnt.
Der bundesweite "Aktionstag" wird seit einiger Zeit jährlich durchgeführt und vom Bundesministerium des Innern koordiniert. Er findet vor dem Hintergrund von Berichten und Statistiken über beständig steigende Zahlen von Hass- und Hetze-Äußerungen in sog. Sozialen Medien, über weitreichende soziale und psychische Folgen für ihre Opfer sowie über die sozialpsychologischen Folgen unkontrollierter Internet-Hetze statt: Weitreichende Gewöhnungseffekte, Abstumpfung gegen gezielte Ausgrenzung von Personen oder Teilen der Bevölkerung, internetspezifische ideologische Radikalisierung, "Normalisierung" von Gewaltbefürwortungen und -aufrufen, Anleitung zu Gewalttaten, Stärkung organisatorischer Strukturen von gewaltgeneigten Extremisten.
Über den "Aktionstag" 2024 berichtete das Bundeskriminalamt (BKA):
"Knapp zwei Drittel der heute durchgeführten Maßnahmen basierten auf Ermittlungen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität (PMK) -rechts-. Hinzu kommen zudem Fälle aus den Bereichen PMK -sonstige Zuordnung-, PMK -ausländische Ideologie- und PMK -religiöse Ideologie-. Die häufigsten Straftaten waren Volksverhetzung (§ 130 StGB), Beleidigung von Personen des politischen Lebens (§ 188 StGB) und das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB)."
Von all dem erfuhren CBS-Zuschauer nichts. Der Redaktion reichte vielmehr eine Differenzierung auf einem sehr niedrigen amerikanischen Rezipienten-Niveau: Einerseits "First Amendment" (Freedom of Speech), andererseits "police raiding your home".
Dazu muss man anmerken, dass der berüchtigte Erste Verfassungszusatz der USA –
"Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt, oder eines, das Rede- und Pressefreiheit (…) einschränkt." –
nach herrschender Auslegung mitnichten anordnet, kommunikative Äußerungen jeglicher Art seien für alle Zeit sakrosankt. Was er konkret bedeutet, entscheidet vielmehr seit 200 Jahren auch westlich des Atlantischen Ozeans die – für unsereins sehr kompliziert organisierte – Rechtsprechung von 50 selbständigen Staaten und einer davon unterschiedenen Bundeszuständigkeit.
"Free Speech" ist in der politischen Neuzeit selbstverständlich ein hohes Verfassungsgut: Institutionell und individuell. Jeder Bürger darf nicht nur denken ("Die Gedanken sind frei"), sondern sogar sagen, was immer er will. Denn auf das öffentliche Sagen (und Bewirken), nicht auf das heimliche Denken kommt es ja an. Nachdem Amerika "entdeckt" und mittels Pocken und Kavallerie von indigenen Meinungen weitgehend "gereinigt" war, schworen sich die aus der europäischen Glaubens-Bedrückung geflohenen Sieger, von nun an alle religiösen Spinnereien sowie jedwede Äußerung welchen Schwachsinns auch immer als heilige Güter der göttlich gegebenen weißen Freiheit als solcher zu achten.
Man muss das Vorstehende ein wenig relativieren: Man darf im Land der Free Speech keinesfalls weibliche Brustwarzen zeigen (gern aber groteske chirurgische Gestaltungen von Kunststoff-Körperteilen, an denen sie befestigt sind). Daneben sollte man sich internetmäßig im Mutterland der Religionsfreiheit von jeder Art von Islam, Islamismus und jeweils für antiamerikanisch gehaltenen Umtrieben fernhalten. Wenn man Gewässer oder Berge anders bezeichnet als der derzeitige Präsident es wünscht, wird man nicht mehr zu Pressekonferenzen zugelassen, und wer sagt, schreibt oder entscheidet, dass versuchte Staatsstreiche strafbar seien, wird seinen Arbeitsplatz in einer Bundesbehörde wohl leider räumen müssen.
In den USA wütet seit geraumer Zeit ein kommunikativer Delegitimierungs-Krieg: Unter dem ins Absurde verdrehten Banner der "Meinungsfreiheit" und dem Vorwand deren angeblicher Gefährdung bekämpfen sich ideologische Extremisten-Gruppen, deren stärkste soeben die Macht im Land übernommen hat. Die Informations-Medien haben sich dem Zustand inzwischen vielfach angepasst: Der Kunde ist König!
II. Staatsanwaltschaft
Als Betrachter der CBS-Dokumentation kann man nicht einschätzen, wie lang das mit den drei niedersächsischen Staatsanwälten geführte Interview tatsächlich war. Ziemlich gut kann man allerdings als halbwegs medien-erfahrener Mensch, Staatsanwalt und Justizvertreter wissen und in Kauf nehmen (oder auch nicht), dass gegebenenfalls kleinteilige Ausschnitte verwendet und redaktionell "angespitzt" werden. Justizvertreter müssen sich solche Verwendungen, falls sie nicht gänzlich unvorhersehbar und willkürlich sind, zurechnen lassen, und die Justiz insgesamt muss sich öffentliche Äußerungen ihrer Bediensteten zurechnen lassen. Unter diesem Blickwinkel erscheint der Auftritt der drei Staatsanwälte in der CBS-Doku bemerkenswert misslungen.
Erstens:
Das Interview-Setting ist bodenlos schlecht: Eine perfekt gestylte und ausgeleuchtete Interviewerin, sich locker bewegend, sitzt an einem Tisch, der für sie groß und weit ist, drei Schülern gegenüber, die offenbar nicht darüber nachgedacht haben, ob sie sich für potenziell 300 Millionen Zuschauer ein wenig ein- und abstimmen sollten. Auch an der Souveränität der (behördlichen) Selbstpräsentation ließe sich noch arbeiten. Aus Blickrichtung der Interviewten wirkt das Tischlein für die Zuschauer schmal. Das Setting ist so aufgebaut, dass die drei Staatsanwälte vor einer 60er-Jahre-Rippenheizung mit Überputz-Wasserleitungen sitzen; auf den Fensterbänken liegen Aktenstapel. Es war grob fehlerhaft, eine so offenkundig tendenziöse Anordnung zu akzeptieren.
Ebenso fernliegend: Ein "Dreier"-Interview, bei dem die scheinbar lockeren, empathisch vorgetragenen Fragen an die Gruppe und nicht an eine bestimmte Person gerichtet werden. Das unterstreicht die "Lehrerin-Schüler"-Attitüde, setzt die Interviewten einem massiven Druck aus (jeder muss gruppen-kompatible Antworten liefern) und demonstriert eine – in der Sache unangebrachte, in der Form unakzeptable, im Inhalt demütigende – Überlegenheitsgeste. Die drei Staatsanwälte glaubten vermutlich tatsächlich, die Interviewerin sei ihre "Freundin". Sie haben nicht verstanden, dass CBS-Moderatoren durchgehärtete Profis sind, deren stets präsentes Ziel es unter anderem ist, Interviewpartner zu übertölpeln.
Zweitens:
Frage CBS: "Was ist die typische Reaktion, wenn die Polizei an jemandes Tür klopft (die Moderatorin klopft auf den Vernehmungstisch: klopf, klopf!) und sagt: Hey, wir glauben, dass Sie dies oder das im Internet geschrieben haben"? Antwort StA: "Sie sagen: Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen… Die Leute sind überrascht, dass das wirklich ungesetzlich ist… They don’t think it was illegal."
Das ist eine tolle Antwort. Die Beschuldigten sind also durchweg der Ansicht, das ihnen zur Last gelegte Verhalten sei erlaubt: Klarer Fall von Verbotsirrtum (§ 17 Strafgesetzbuch, StGB). Welche rechtsdogmatische Beurteilung das in den USA und welche staatsanwaltliche Heiterkeit es in Niedersachen auslöst, mag dahinstehen: Man weiß es nicht. Zwei der staatsanwaltschaftlichen Beispiele für Hass-Kommunikation: Die Internet-Aufforderungen zur Tötung Walter Lübckes sowie die Abbildung von Hochspannungs-Strommasten mit der Unterschrift: "Kletterpark für Flüchtlinge". Wie man in diesem Zusammenhang als erstes auf den Verbotsirrtum zu sprechen kommen kann, bleibt ein Rätsel.
Drittens:
"How do people react, when you take their phones from them?", fragt die Interviewerin. "They are shocked", antwortet der niedersächsische Chef-Staatsanwalt, "It’s a kind of punishment, if you lose your smartphone. Even worse than the fine you have to pay".
Ungeschickter geht es nun wirklich nimmer. "To take something from somebody" ist das eine; "to lose something", ist nicht dasselbe. Im gesamten CBS-Beitrag wird nicht darauf hingewiesen, dass, warum, wie und mit welchen Voraussetzungen und Folgen sich ein (deutsches) Ermittlungsverfahren von einer (US-amerikanischen) "prosecution" und beides von einer Verurteilung unterscheidet. Von § 102 Strafprozessordnung (StPO) und seinen Voraussetzungen für eine Hausdurchsuchung gar nicht zu reden. Die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention) wird von den drei Staatsanwälten weder erwähnt noch erklärt.
"Eine Art von Strafe" sei es, so spricht der Leiter der niedersächsischen Zentralstelle, jemandem sein Smartphone wegzunehmen. Damit meinte der Beamte vermutlich irgendetwas Menschelndes: "Eine Art von Strafe" also als emotionales Übel, dessen Grundlage allerdings in §§ 94, 102 StPO verfassungskonform geregelt ist. Vielleicht war er auch schon im Zustand der Vorfreude auf die (ebenfalls nicht erwähnte) Einziehung nach § 74 StGB. Im Wortlaut war seine Antwort in jedem Fall ein Schmarrn. Daran ändert nichts, dass die Frage selbst schon wieder eine Falle war.
Herzliches Lachen der beiden Untergebenen über den Joke des Weisungsbefugten: Eine "Strafe" ohne bewiesene und entgegen bestrittener Schuld! Will sagen: Da können die Beschuldigten mal sehen, was sie davon haben, ein Handy gehabt zu haben! Hinweg mit dem Verbotsirrtum! Wir haben die Staatsnote und die Macht.
Meinen Sie, dass Ihre Verfolgungstätigkeit angesichts der globalen Kommunikation tatsächlich etwas bewirkt? ("Does it make a difference?"), fragt die Freundin von CBS. "We are prosecutors! If we see a crime, we want to investigate it", bricht es aus dem deutschen Staatsanwalt hervor: So sind wir halt! Zu so viel Eifer fällt CBS dann nurmehr ein, dass Deutsche auch bei freier Straße an roten Fußgängerampeln warten "with the devotion of a monk". Man hätte statt des Bekenntnisses "Wir wollen ermitteln!" vielleicht § 152 Abs. 2 StPO sowie Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz ins Spiel bringen können: Legalitätsprinzip und Tatbestandsbestimmtheit.
Unter so viel vermeintlicher Rechtsstaatsferne zuckt sogar das US-amerikanische Rechtsverständnis zusammen und fantasiert vom fernen Northwest-Germany als einem Land der Überregulierung und willkürlichen Verfolgung. Rette die Meinungsfreiheit, J.D. Vance!
III. Verarbeitung
Die CBS-Reportage ist weitgehend belanglos, gleichwohl vermutlich wirkmächtig. Ihre Ausstrahlung stand im offenkundigen Zusammenhang mit der grotesken Behauptung der US-Regierung, die Freiheit der Welt sei (vor allem) durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Europa bedroht. Das ist schlichter Unsinn und hat bestenfalls das Ziel, Tatsachen auf den Kopf zu stellen, um Wirkungen zu erzielen.
Gleichwohl ist die Frage nach der Legitimität der strafrechtlichen Verfolgung von Äußerungen und die Grenzen der Verhältnismäßigkeit selbstverständlich sinnvoll und notwendig. Die Sache ist – aus dem Blickwinkel von 1789, 1848 und 1949 – inzwischen mit Bedeutung überladen. Die nicht selten hysterische "Opfer"-Suche der sich immerzu gepeinigt fühlenden europäischen Moral-Szene ist nervend. Meinungs-Äußerung und Sozialverhalten sind freilich nicht getrennte Sphären. "Öffentlicher Friede" ist ein Begriff und Phänomen, über den/das es sich tatsächlich vertieft nachzudenken lohnt. Eine (fast) schrankenlose Freiheit der Hetze macht, wie uns das Heimatland von CBS täglich vorführt, in der Tat "einen Unterschied".
IV. Ergebnis
1) Die CBS-Dokumentation über die Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland ist ein tendenziöses, weithin desinformatives Machwerk mit sehr geringem Informations-, aber hohem Denunziationsgehalt.
2) Wesentliche rechtliche Grundlagen, Begrenzungen und Unterschiede zwischen den Verfassungsrechts- und Strafrechtsordnungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, welche zum Verständnis der eigentlich zentral wichtigen Fragen und Antworten erforderlich wären, werden in der genannten Dokumentation weder erwähnt noch inhaltlich berücksichtigt.
3) Die Selbst-Präsentation der (niedersächsischen) Justiz in der genannten Dokumentation ist formal peinlich, inhaltlich zweifelhaft und kommunikativ von laienhafter Naivität. Sie vermittelt ein unzutreffendes, kleinkariertes Bild der deutschen Rechtsordnung und Justizpraxis. Der vertraulich lächelnden Dominanz des CBS-Narrativs zeigt sie sich hoffnungslos unterlegen.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 26.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56679 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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