Der Bundestag hat am Donnerstag die Diskussion um die allgemeine Impfpflicht beendet. Die richtige Entscheidung, sowohl verfassungsrechtlich als auch politisch, kommentiert Felix W. Zimmermann.
Die Impfpflicht ist schlecht gealtert. In jeder Hinsicht. Seit Monaten dauert die Diskussion an, ohne erkennbaren Erkenntnisgewinn. Das Pflichtalter wurde immer weiter nach oben geschraubt: 18, 50, zum Schluss waren es 60 Jahre. Nun ist die Impfpflicht ganz vom Tisch. Die richtige Entscheidung.
Impfen schützt. Und zwar den Einzelnen in der Regel vor schweren Covid-Krankheitsverläufen. Doch die eigene Gesundheit muss im freiheitlichen Rechtsstaat jedermanns eigene Verantwortung sein. Selbst wenn es den eigenen Tod bedeutet. Nur wenn die Selbstgefährdung zugleich Dritte gefährdet, lässt sich über Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit und anderer Grundrechte diskutieren.
Unter Omikron andere Bedingungen
War das Argument "Fremdschutz" unter Delta noch durchaus plausibel, ist es unter der herrschenden Omikron-Variante weitgehend weggebrochen. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten haben heute erkannt: Wir leben in einer anderen Phase der Pandemie – mit anderen Zusammenhängen. Das erleben nicht nur Millionen Deutsche, die sich in den letzten Monaten trotz Impfung infiziert haben. Auch das Robert Koch Institut hält fest, dass unbekannt ist, inwieweit die Impfung gegen die Omikron-Infektion schützt. Es "muss" davon ausgegangen werden, dass sich auch geboosterte Menschen "noch infizieren und dabei auch Viren ausscheiden können", so die Experten des RKI. Hinzukommt, dass die vorherrschende Omikron-Variante in der Regel deutlich milder verläuft, als die vorherigen Varianten. Das mindert die – auch verfassungsrechtliche – Erforderlichkeit der Impfpflicht extrem, was auch in Österreich erkannt wurde. Dort wurde die Impfpflicht daher wieder zurückgenommen.
Die geringere Gefährlichkeit führt auch dazu, dass dem zweiten verfassungsrechtlichen Argument für die Impfpflicht der Boden entzogen wurde: Die mögliche Überlastung des Gesundheitssystems. Trotz seit Dezember sprunghaft von 500 auf Anfang April 2.000 gestiegener Corona-Inzidenz ist die Anzahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen im gleichen Zeitraum um mehr als die Hälfte gesunken. Vor diesem Hintergrund ist es schlicht unrealistisch, dass es im Herbst zu einer Überlastung des Gesundheitssystems wegen Omikron kommt. Wenn dann eventuell aufgrund einer neuen Variante, aber wer weiß, ob die aktuellen Impfstoffe gegen diese helfen würden. Zu viel der Ungewissheit.
Für den Grundrechtseingriff fehlen aktuell die Gründe
Außerdem wäre die allgemeine Impfpflicht schlicht nicht geeignet, das angestrebte Ziel der Impfung zu erreichen. Darauf hat heute auch der Bundestagsabgeordnete der Grünen Max Lucks in seiner Rede hingewiesen. Nur zwei Prozent der Ungeimpften würden nach einer Umfrage einer Impfpflicht Folge leisten. Angesichts der verfestigten Diskussionen wäre also mit massivem Widerstand der Impfgegner:innen zu rechnen. Wer diese weiter pauschal als "Schwurbler" bezeichnet, macht es sich spätestens mit der Omikron-Variante zu leicht. Denn unabhängig von den Folgen der Impfung stellt die Impfpflicht an sich einen schweren Grundrechtseingriff dar. Auch wer die aktuellen Bedenken der Impfgegner nicht teilt, möge sich fragen, wie er oder sie es – etwa in anderen politischen Situationen – fände, wenn der Staat zum "Gemeinwohl" einen körperlichen Eingriff verlangt.
Für einen derartigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht müssen sehr gewichtige Gründe bestehen. Diese liegen nicht vor. Im Gegenteil. Eine Impfpflicht wäre aktuell unverhältnismäßig. Das hat die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten heute richtig erkannt und dabei ein beruhigendes verfassungsrechtliches Problembewusstsein bewiesen.
Kommentar zur Entscheidung des Bundestags: . In: Legal Tribune Online, 07.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48088 (abgerufen am: 09.11.2024 )
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