Politik und Verfassung: Die German Angst vor einer Min­der­heits­re­gie­rung

Gastkommentar von Prof. Dr. Andreas Fisahn

13.11.2024

Kaum ist die Ampel-Koalition zerbrochen, soll es schnellstmöglich Neuwahlen geben. Niemand hat so viel Angst vor einer Minderheitsregierung wie die Deutschen, meint Andreas Fisahn. Dabei sei eine solche in unserer Verfassung einkalkuliert.

Als halbwegs rationaler Mensch (homo sapiens) staunt man nicht schlecht, wenn man die Reaktionen und Kommentare zum Rauswurf Lindners und seiner Mitstreiter aus der Ampel-Koalition betrachtet. Sozialpsychologisch können sie als Beispiel für phylogenetische, irrationale Ängste dienen, die sich im Laufe der Generationen nicht abbauen, sondern verstärken. Und sie lassen sich als Ergebnis der Entwicklung des Menschen zum homo neoliberalensis begreifen, dem alles Verständnis für das Allgemeine abhandengekommen ist.

Unsere Nachbarn machen sich gern über die German Angst lustig und subsumieren darunter unterschiedlichste Dinge. Zwei Angsterscheinungen lassen sich allerdings wirklich als sehr deutsch beschreiben: die Angst vor der Inflation und die Angst vor instabilen Mehrheitsverhältnissen, was spiegelbildlich die Sehnsucht nach Einheit, Geschlossenheit oder Homogenität hervorbringt. Beide Ängste spielen in der aktuellen Regierungskrise eine Rolle.

Inflation und Minderheitsregierung als große Ängste

Der entlassene Finanzminister appelliert an die German Angst vor der Inflation und sucht so Unterstützer für seine scheinbar rigide Haltung im Hinblick auf die Schuldenbremse. Die Angst vor der Inflation stammt aus der Weimarer Republik, als Deutschland tatsächlich mit einer galoppierenden Inflation zu kämpfen hatte. Seitdem gilt die Inflation als größtmögliches wirtschaftliche Übel und es war Deutschland, das dafür sorgte, dass Defizitobergrenzen in die europäischen Verträge gelangten. Rationale Abwägungen – wie etwa die unseres ehemaligen Kanzlers Helmut Schmidt – spielen bei Angstpsychosen keine Rolle. Schmidt hatte erklärt: "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." Wolfgang Schäuble, der die Schuldenbremse ins Grundgesetz gebracht hatte, dürfte anders gerechnet haben, nämlich so: Mit Schuldenbremse ist sozialdemokratische Politik nicht mehr möglich – das Ergebnis sehen wir jetzt. Was die SPD 2009 gemacht hat, als die Schuldenbremse mit ihren Stimmen beschlossen wurde, darüber lässt sich nur spekulieren.

Die andere Angst ist die Angst vor instabilen Regierungen, die ebenfalls aus der Weimarer Republik kommt, als es schwierig war, Mehrheiten zu organisieren. So gab es in 14 Jahren zwölf Reichskanzler in 22 unterschiedlichen Regierungen und neun Reichstagswahlen. Nun sind diese Zeiten längst vorbei, aber Ängste sind oft irrational und sitzen tief. Umgekehrt stammt auch die Sehnsucht nach Homogenität aus der Weimarer Republik. Carl Schmitt, der Kronjurist der Nazis, meinte, Demokratie setze eine homogene Gesellschaft voraus, die das Fremde im Zweifel vernichtet. Was damit vorbereitet wurde, weiß jeder. Aber diese krude Vorstellung von demokratischer Willensbildung wirkt bis heute – nicht nur in der juristischen Theoriebildung – nach. Demokratische Wahlen werden da schnell zu Kampfkandidaturen, während die Einigkeit als demokratisch gefeiert wird.

Minderheitsregierung im Grundgesetz einkalkuliert

Das Grundgesetz (GG) sieht zwar keine Minderheitsregierungen vor, aber seine Väter und die wenigen Mütter haben diese durchaus einkalkuliert. Im dritten Wahlgang reicht demnach nicht nur für die Wahl des Bundeskanzlers die relative Mehrheit, auch der Bundespräsident kann im dritten Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt werden. Völlig abwegig erschien es dem Verfassungsgeber also nicht, dass eine Regierung gewählt wird, die keine absolute Mehrheit im Parlament hat. Und auch für die Gesetzgebung trifft das GG mit dem Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) Vorkehrungen. Ähnliches gilt für den Haushalt (Art. 111 GG).

Minderheitsregierungen sind bei unseren europäischen Nachbarn auch keineswegs unüblich. "Länder mit langjährigen Erfahrungen mit Minderheitsregierungen sind", schreibt der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, "insbesondere in Skandinavien zu finden (Dänemark, Norwegen, Schweden). Hier stellt die Bildung von Minderheitsregierungen eher den Regelfall dar." Minderheitsregierungen gab es außerdem, bleibt man in Europa, in Irland, Österreich, Portugal, der Schweiz und der Slowakei, in Spanien und Tschechien. Über Belgien wurde eine Zeit lang gar gespottet, es sei die größte Nichtregierungsorganisation Europas, weil das Land über Monate gar keine Regierung hatte.

Das geradezu hysterische Getöse nach dem Ampel-Aus, mit dem der Weltuntergang auch seitens renommierter Medien verkündet wurde, wenn nicht sofort Neuwahlen stattfänden, erscheint da doch eher seltsam. Und das erst recht, wenn man die – jedenfalls bisher – erstaunliche Stabilität der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik betrachtet. Insgesamt ist die Sehnsucht der Deutschen nach Einigung, Einheit und Stabilität nur noch sozialpsychologisch zu erklären und hat geradezu pathologische Züge.

Da kommt der homo neoliberalensis ins Spiel, der rational seinen Vorteil kalkuliert. Das Vorzeigeexemplar dieses Menschentypus dürfte Friedrich Merz sein. Statt Neuwahlen zu fordern, hätte Merz doch anbieten können, die Regierung bei sinnvollen Gesetzesvorhaben zu unterstützen. Oder er hätte gar anbieten können, eine Koalition mit Scholz zu bilden. Dann wäre Scholz aber Kanzler geblieben, weil im gegenwärtigen Bundestag die SPD stärker ist als die CDU. So etwas liegt dem Machtmenschen aber fern, denn zu erwarten ist, dass sich die Kräfteverhältnisse nach den nächsten Wahlen drehen und Merz sich dann endlich seinen Traum erfüllt, von dem ihn Merkel so lange abgehalten hat: Er kann Kanzler werden – und das soll so schnell wie möglich geschehen. Irgendwelche allgemeinen Interessen oder auch nur die Vermeidung eines Winterwahlkampfes spielen dabei keine Rolle.

Der Autor Prof. Dr. Andreas Fisahn ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht sowie Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte hat er unter anderem in der Staats- und Demokratietheorie. Neben Rechts- studierte er auch Sozialwissenschaften.

Zitiervorschlag

Politik und Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 13.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55859 (abgerufen am: 07.12.2024 )

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