Leserbriefe an LTO: Ihre Kom­men­tare in der KW 34

25.08.2018

Rechtsstaat-Debatte um Sami A.: NRW-Innenminister bedauert Äußerung

 

In der Debatte um die rechtswidrige Abschiebung von Sami A. steht auch NRW-Innenminister Herbert Reul mächtig unter Beschuss. Am Freitag ruderte er zurück und entschuldigte sich für seine Gerichtsschelte – es sei alles ein Missverständnis.

Von: Sylvia Kaufhold, Rechtsanwältin

Herr Reul hat sich für nichts zu entschuldigen. Er hat nur, wenn auch in etwas ungeschickter Form, eine rechtlich in der Tat zweifelhafte Gerichtsentscheidung kritisiert. Solche – sachliche – "Gerichtsschelte" ist etwas völlig normales, die juristischen Fachzeitschriften sind voll davon. Auch die Entwicklung des Rechts lebt davon. Ein "befremdliches Verständnis von Rechtsstaatlichkeit" (Barley) oder ein "gestörtes Verhältnis zur Justiz und zum Rechtsstaat" (Kutschaty) und der Meinungsäußerungsfreiheit haben vielmehr diejenigen, die jede Kritik an Gerichtsentscheidungen von vornherein unterbinden wollen – wenn es in ihre Ideologie passt. Die liberale Mitte der Gesellschaft muss sich hiergegen genauso zur Wehr setzen wie gegen eine Vereinnahmung durch die Populisten.

Problematisch wird es erst, wenn dazu aufgerufen wird, bindende Urteile nicht zu befolgen. Das hat aber keiner der Offiziellen getan, im Gegenteil. Auch ist anerkannt, dass selbst formal bindende Urteile ausnahmsweise nichtig sein können, "wenn sie an einem derart schweren Mangel leiden, dass es bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus schlechthin unerträglich wäre, sie als verbindlichen Richterspruch anzunehmen und gelten zu lassen" (BVerfG, NJW 1985, 125; BGH, NJW 1985, 926). Diese Schwelle ist beim Beschluss des OVG Münster ersichtlich nicht überschritten. Jedoch muss die Belastbarkeit seiner Argumentation jetzt in einer fachjuristischen Debatte überprüft werden, denn die Entscheidung ist gerade für Gefährderfälle von grundsätzlicher Bedeutung und wirft nicht nur im Verfahren (Rückholung als Folgenbeseitigung im Eilrechtsschutz gegen die Wertungen von § 58a AufentG und § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO) viele Fragen auf.

Auch im Ergebnis ist die Frage berechtigt, ob es nicht sachgerechter gewesen wäre, jetzt erst einmal im Hauptsacheverfahren zu klären, ob die aufgrund der Sachlage von vor 8 Jahren (!) unverändert angenommene Foltergefahr heute tatsächlich noch besteht; die offensichtlichen Fakten sprechen dagegen, denn Sami A. befindet sich (wohl noch in Tunesien) auf freiem Fuß. Eine von Staaten wie Tunesien zu Recht als Zumutung empfundene diplomatische Zusicherung in jedem Einzelfall ist zur Ausräumung der Foltergefahr nach der Rechtsprechung des EMGR jedenfalls nicht erforderlich. Und: Wenn Sami A. tatsächlich zurückgeholt wird, kommt er dann wenigstens in Abschiebehaft oder bekommt er nur Gelegenheit, endgültig unterzutauchen und seine Anschlagspläne zu verwirklichen? Auch diese Überlegungen hätte das OVG in die Abwägung nach § 123 VwGO einfließen lassen müssen – auch wenn sie vermutlich dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.

Im Übrigen zeigt auch dieser Fall vor allem eins: Unser Recht und die Abläufe sind so kompliziert und verworren, dass es ein Leichtes ist, sich darin zu verstricken. Dann passieren Fehler. Auch Gerichten. Wenn das Recht schlecht ist, kann jeder nur noch alles falsch machen. Deshalb brauchen wir auch in diesem Bereich dingend ausgewogene Reformen. Sonst kommen die Populisten und machen einfach alles einfach.

Von: Günther Bauer

In der letzten Zeit sind erhebliche Zweifel an der Richtigkeit von Gerichtsentscheidungen zu Tage getreten. Insbesondere wurde moniert, dass gewisse Entscheidungen dem Gerechtigkeitsgefühl der Bürger zuwiderlaufen, man dem Bürger gegenüber gewisse Entscheidungen gar nicht recht begründen kann.

Dem muss abgeholfen werden!

Der folgende Vorschlag beinhaltet eine Ergänzung des Grundgesetzes und dann in Folge je eine Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

Nach Art. 74 des Grundgesetzes (GG) wird eingefügt:

Art. 75

Bund und Länder haben bei der Gesetzgebung das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der billig und gerecht denkenden Bürger zu berücksichtigen.

Das ist einerseits eine Selbstverständlichkeit, es schadet jedoch nicht, diesen Gedanken in die Verfassung zur Klarstellung aufzunehmen.

Ist das GG diesem Vorschlag entsprechend ergänzt worden, dann steht dem folgenden abrundenden Vorschlag nichts mehr im Wege:

Gesetz zur Sicherung der Gerechtigkeit bei Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen – Gerechtigkeitssicherungsgesetz – (GerSichG)

1. Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)

Nach § 1 wird eingefügt:

§ 2

Die Gerichte haben bei ihren Entscheidungen das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl der billig und gerecht denkenden Bürger zu berücksichtigen.

[So neu ist dieser Gedanke ja nicht.

§ 2 des Strafgesetzbuchs von 1935 bestimmte:

"Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft".

Dieser Grundgedanke kann – und muss! – selbstverständlich auch auf das Zivil- und Verwaltungsrecht übertragen werden, ferner auf Behörden-Entscheidungen (Verwaltungsakte).
Deswegen bestimmt das GerSichG ferner:]

2. Ergänzung des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG)

§ 40 (Ermessen) wird mit folgendem 2. Satz ergänzt:

Das Ermessen ist dahingehend auszuüben, dass es dem Gerechtigkeitsgefühl der billig und gerecht denkenden Bürger entspricht.

Damit hätten wir eine "runde Sache". Die Gerichte aller Gerichtszweige sowie die Verwaltungsbehörden haben sich nach dem Gerechtigkeitsempfinden der billig und gerecht denkenden Bürger zu richten.

Auch in der DDR war eine den Gesetzen übergeordnete Idee gang und gäbe, nämlich die Verwirklichung und Verbesserung des Sozialismus.

Der Inhalt des GerSichG knüpft also durchaus an deutsch-rechtliche Traditionen an: § 2 StGB 1935 und die Rechtswirklichkeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Es kann doch nicht alles falsch in der Vergangenheit gewesen sein!

Anm. der Red.: Achtung, Satire ;-)

Zitiervorschlag

Leserbriefe an LTO: Ihre Kommentare in der KW 34 . In: Legal Tribune Online, 25.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30551/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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