Leserbriefe an LTO: Ihre Kom­men­tare in der KW 33

17.08.2018

Politik vs. Justiz? Fall Sami A. löst Debatte aus

Bei der rechtswidrigen Abschiebung von Sami A. umgingen Behörden die Justiz. Reaktionen aus der Politik bestätigen den Eindruck, dass die von der richterlichen Unabhängigkeit nicht viel hält. Der NRW-Integrationsminister gerät unter Druck.

 

Von: Stefan Engel

Sehr geehrter Herr Reul,

sehr geehrte Damen und Herren,

als Jurist - ohne der Justiz anzugehören -, habe ich mit Verwunderung Ihren Kommentar zur Causa Sami A., insbesondere zur Entscheidung unseres OVG zur Kenntnis genommen. Sie kritisieren nach der RP, Richter sollen im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprächen. Dies sei hier nicht mehr der Fall, was Wasser auf die Mühlen der Extremen sei.

Ich möchte hierzu ein paar Punkte anmerken, die hoffentlich bedacht werden:

Die Richter sind nach Art. 97 GG nur dem Gesetz unterworfen. Eine Bindung an ein irgendwie geartetes Rechtsempfinden der Bevölkerung besteht - aus gutem Grunde - nicht. Wesentliches Merkmal unseres demokratischen Rechtsstaates ist nicht die Volkssouveränität als absolut verstandenes Unterworfensein unter einen wie auch immer gearteten und zu ermittelnden "Volkswillen", sondern gerade auch der Minderheitenschutz. Dies wird gerade durch die Rechtsbindung der Richter erreicht. Zu fordern, dass ein Richter - contra legem! - entscheiden soll, um sich dem "Rechtsempfinden der Bevölkerung", was Erinnerungen an das "gesunde Volksempfinden" hervorruft, stellt grundlegende Prinzipien unserer Verfassung infrage.

Das "Wasser auf die Mühlen der Extremen" entsteht meines Erachtens nach nicht durch die rechtsstaatlich zustande gekommene Entscheidung der Gerichte, sondern vielmehr dann, wenn die Exekutive als durch die Judikative kontrollierte und ihren Entscheidungen unterworfene Gewalt diese wider besseres Wissen missachtet und ihnen ihre Legitimität abspricht. Erst hierdurch entsteht der Eindruck entkoppelter Gewalten und von Gerichten, die sich vom Recht lösen. Gerade dieser Eindruck aber ist es, der nicht- und antidemokratischen Kräften entgegenkommt.

In Erinnerung rufen möchte ich auch, dass das "Rechtsempfinden der Bevölkerung" zu großen Teilen auf falscher, zumindest aber unvollständiger Berichterstattung beruht. Dass ein Nachweis für die Leibwächtereigenschaft Sami A.s nicht rechtsstaatlich geführt werden konnte und daher weiterhin die Unschuldsvermutung gilt, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Andernorts wurde dies bereits zur Genüge aufbereitet. Zudem ist es mit Art. 1 unseres wunderschönen Grundgesetzes schlicht unvereinbar, einen Menschen wissentlich in die Gefahr menschenunwürdiger Behandlung zu bringen, wie dies hier offenbar in Tunesien aus Sicht der entscheidenden Gerichte zu erwarten war und ist.

Nicht absprechen will ich Ihnen dabei, dass Sie die Entscheidung des VG und des OVG juristisch falsch finden mögen. Hierfür stehen jedoch rechtsstaatliche Mittel zur Verfügung. Das Gericht auf die geschehene Weise anzugreifen und Grundfeste unserer gesellschaftlichen Ordnung anzugreifen, ist dabei in meinen Augen gewiss der falsche Weg.

 

Von: Karsten Müller

Für mich ist der Fall klar: Die Behörden haben hier das Rechtsstaatsprinzip, das die Grundlage unserer Verfassung bildet, in eklatanter Weise missachtet. Jeder, dem etwas an unserer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft liegt, kann auf das Vorgehen der Behörden nur mit Unverständnis und Entsetzen reagieren.

Umso schlimmer sind die politischen Reaktionen auf die Entscheidung des VG Gelsenkirchen und des OVG Münster. So fiel Markus Söder (CSU) nach Informationen der Zeit mit der Bemerkung auf: „Das gibt es in keinem anderen Land, dass ein Topgefährder, Leibwächter vom schlimmsten Terroristen, nach zwölf Jahren endlich abgeschoben wird. Und dann wollen Gerichte ihn zurückholen.“ Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) gab gar zum Besten, dass die Gerichte „immer auch im Blick haben [sollten], dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“ (Rheinische Post), was mich an das "gesunde Volksempfinden" und damit an Deutschlands dunkelste Zeiten erinnert. Aufgabe eines demokratischen Politikers wäre es gewesen, sich schützend vor die dritte Gewalt zu stellen und der Bevölkerung die Gerichtsentscheidung(en) zu erklären.

Zu kritisieren ist meiner Ansicht nach aber auch die mediale Berichterstattung, die die Hintergründe und Besonderheiten des Verfahrens nicht frühzeitig in einer für den Nicht-Juristen verständlichen Form aufbereitet hat. Hier hätte insbesondere die Bedeutung der Gewaltenteilung und der Menschenwürde, die nun einmal unterschiedslos für alle Menschen gilt und oberstes Verfassungsgebot ist, hervorgehoben werden müssen.

Dem OVG Münster möchte ich an dieser Stelle meinen tiefsten Respekt für seine mutige Entscheidung aussprechen.

Zitiervorschlag

Leserbriefe an LTO: Ihre Kommentare in der KW 33 . In: Legal Tribune Online, 17.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30409/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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