Legal Tech und Streitbeilegung: Die Crowd ent­scheidet

von Ann-Kristin Becker und Nico Kuhlmann

25.11.2017

Ein Start-up aus Estland macht es vor: Schiedsgerichte aus der Crowd. Richter brauchen kein Examen, aber gute Bewertungen und möglichst viele Entscheidungen. Ann-Kristin Becker und Nico Kuhlmann erklären, wie die Plattform funktioniert.

Legal Tech entwickelt sich unaufhaltbar weiter. In letzter Zeit rückt dabei immer mehr auch der Bereich der alternativen Streitbeilegung in den Vordergrund. Verschiedene Streitbeilegungsplattformen im Internet haben bereits von sich Reden gemacht. Jetzt will ein Startup aus dem digitalen Vorzeigeland Estland den Grundsatz der Privatautonomie auf die Spitze treiben. Bei Jury.Online werden Schiedsgerichte bald aus der Crowd gebildet. Jeder kann dann Richter werden und zwar gänzlich ohne Juristenausbildung. Entschieden wird anonym und, wenn es sein muss, durch mehrere Instanzen.

Die alternative Streitbeilegung ist kein neues Thema. Die Zivilprozessordnungen der verschiedenen Jurisdiktionen kennen keine Verpflichtung, dass ein Rechtsstreit durch einen staatlichen Richter gelöst werden muss. Vielmehr existieren diverse Öffnungsklauseln, die eine alternative Streitbeilegung regeln und deren Ergebnisse unter bestimmten Voraussetzungen sogar rechtlich anerkennen.

Seit Jahrzehnten lösen vor allem größere Unternehmen ihre Konflikte im Wege alternativer Streitbeilegungsverfahren wie dem Schiedsverfahren. Parteiautonomie steht auch dabei im Vordergrund. Den Parteien steht es frei, sich neben der Verfahrenssprache und dem anwendbaren Recht auch ihre Schiedsrichter selbst auszusuchen. Diese müssen keine juristische Ausbildung vorweisen können. Entscheidend sind eher Kriterien wie fachliche Qualifikation und kultureller Hintergrund.

Anschließend werden die Streitigkeiten vor dem ausgewählten Schiedsgericht und meist abseits der Öffentlichkeit entschieden. Die Entscheidung ist für die Parteien bindend und kann vor staatlichen Gerichten nur im Wege eines Aufhebungsverfahrens auf gravierende Fehler hin überprüft werden. Ansonsten ist ein Schiedsspruch wie ein staatliches Gerichtsurteil vollstreckbar. 

Beweise einfach hochladen

Ein ähnliches Grundkonzept verfolgt auch das estländische Start-Up Jury.Online. Die Parteien eines Smartcontracts können freiwillig vereinbaren, bei Streitigkeiten aus dem Vertrag ein Schiedsgericht im Internet anzurufen. Dabei wird eine anonyme Auswahl an möglichen Schiedsrichtern mit der jeweiligen Bewertung und ihrer Erfahrung angezeigt. Die Schiedsrichter legen dabei die Preise, die sie für ihre Tätigkeit verlangen, vorher nach freiem Ermessen fest. Dadurch wissen die Parteien genau, wie viel die konkrete Streitbeilegung kostet.

Die substantiierte Anspruchsdarlegung erfolgt ausschließlich digital. Mögliche Beweisangebote in Form von Textdokumenten, Fotos oder Videos werden einfach hochgeladen.

Die Entscheidung wird anschließend dezentral und anonym getroffen. Jeder Schiedsrichter kann ganz einfach im Rahmen einer Abstimmung seine Entscheidung fällen – losgelöst von jedem prozessualen und materiellen Recht. Der Entscheidungsmaßstab ist das jeweilige subjektive Gerechtigkeitsempfinden. Dabei wissen die Schiedsrichter nichts von den Abstimmungen ihrer Mitschiedsrichter. Entscheidungsbesprechungen in der Gruppe sind bewusst nicht gewollt.

Bei der Auswahl der Richter soll die Bewertung auf der Plattform eine wichtige Rolle spielen. Die Bewertungen der Schiedsrichter steigen, wenn diese "richtige" Entscheidungen treffen. Das heißt: Stimmt der Schiedsrichter mit der Mehrzahl der anderen Schiedsrichter bei der Abstimmung überein, verbessert sich seine Bewertung und damit seine Chance beim nächsten Mal wieder ausgewählt zu werden.

Instanzenzug ohne Staatsexamen

Die Partei mit den meisten Stimmen gewinnt den Rechtsstreit. Der Verlierer hat die Möglichkeit, auf eigene Kosten in die nächste Instanz zu gehen. Diese ist gekennzeichnet durch Schiedsrichter mit höheren Bewertungen und mehr Erfahrungen – ähnlich wie in der staatlichen Gerichtsbarkeit. Gewinnt in zweiter Instanz nun der ursprüngliche Verlierer, hat auch der andere die Möglichkeit, in die nächste – und diesmal höchste – Instanz zu gehen. In dieser wird dann die abschließende Entscheidung gefällt. Mit drei Instanzen kennt dieses Verfahren somit mehr Überprüfungsmöglichkeiten als einige staatliche Prozessordnungen.

In keiner der Instanzen ist eine juristische Ausbildung Voraussetzung. Vielmehr wird praktisch ein Rechtssystem im Laienformat nachgebildet. Was im staatlichen Rechtssystem Staatsexamen und Berufserfahrung sind, ist bei dem Online-Schiedsgericht aus Estland das Gerechtigkeitsempfinden und die Mehrheitsmeinung der Massen. Mit allen Vor- und Nachteilen.

Schiedsrichter, die als besonders gerecht empfunden werden, bekommen besonders gute Bewertungen und steigen damit auf. Je mehr positive Bewertungen, desto eher schafft man es in den Pool der Schiedsrichter der höheren Instanz.

Zitiervorschlag

Nico Kuhlmann, Legal Tech und Streitbeilegung: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25695 (abgerufen am: 06.10.2024 )

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