Legal Tech ist im Markt angekommen. Neue Unternehmen und Verbände werden gegründet, etablierte Player investieren. Es zeichnet sich ab, wer erfolgreich ist; und wer das Potenzial hat, es zu werden. Eine Bestandsaufnahme von Ingo Mahl.
Als ich Anfang 2015 das meines Wissens erste Legal-Tech-Meetup in Berlin besuchte, fanden sich dort ganze sieben Teilnehmer aus drei Unternehmen und zwei interessierte Studenten ein. Wir trafen uns im Büro des ausrichtenden Unternehmens, einem kleinen Wohnzimmer inmitten einer verkehrsberuhigten Berliner Reihenhaussiedlung; es gab Bier und Chips.
Keine drei Jahre später, im Sommer 2017, vergeht kaum eine Woche, in der nicht mindestens ein Legal-Tech-Meetup oder -Stammtisch an hippen oder exklusiven Orten in Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt stattfindet. Jede dieser Veranstaltungen bringt Scharen von Interessierten - vom Partner aus der Großkanzlei über den selbst programmierenden Einzelanwalt bis zum studentischen Gründer - zusammen.
Auch ein Vergleich der seit 2015 jährlich erschienenen Sonderausgaben von LTO zum Thema Legal Tech miteinander zeigt schnell: Der Legal-Tech-Markt in Deutschland wächst und wächst. War die Erstellung einer Landkarte mit den bekanntesten Legal-Tech-Unternehmen aus Deutschland im Jahr 2015 noch eine leichte Übung, ist sie 2017 zu einer kartografischen Herausforderung geworden. Die neuen und die bereits etablierten Legal-Tech-Unternehmungen hierzulande sind zahlreich. Und meine eigene, erst ein Jahr alte Prognose zur Entwicklung des Marktes könnte sich als noch zu konservativ herausstellen.
Legal-Tech-Veranstaltungen boomen
Die Großveranstaltungen zum Thema nehmen rasant zu. Diverse Kongresse buhlen parallel – und bislang meist sehr erfolgreich - um höhere dreistellige Teilnehmerzahlen.
Während der von Wolters Kluwer, zu dem auch LTO gehört*, und Soldan gemeinsam veranstaltete "Anwaltszukunftskongress" 2017 bereits in die zweite Runde geht, wurden in diesem Jahr u.a. die "Berlin Legal Tech" mit zweitägigem Hackathon und anschließender Konferenz, die Veranstaltung der erst 2016 gegründeten "European Legal Technology Association" "ELTA´s First Conference" in Berlin, die von Handelsblatt Fachmedien veranstalteten "Legal Transformation Days" ebenfalls in Berlin und die aus einer Kombination aus Messe und Kongress bestehende "Legal Revolution" in Frankfurt am Main aus der Taufe gehoben. Im europäischen Ausland gibt es zahlreiche weitere große Events.
Selbst der Deutsche Anwaltstag 2017 in Essen stand bei seiner mittlerweile 68. Ausgabe erstmalig komplett unter dem Motto "Innovationen und Legal Tech". Und wenn auch die grauen Eminenzen der führenden Rechtsverlage mehrstündigen Vorträgen zu Themen wie Blockchain und Smart Contracts aufmerksam lauschen, sollte wirklich der letzte Zweifler verstanden haben: Hier passiert gerade gewaltig etwas im Rechtsmarkt.
Auch die Etablierten spielen mit
Die alteingesessenen Player mischen dabei mit. Sie digitalisieren nicht nur immer stärker ihr seit Jahrzehnten bestehendes Kerngeschäft – das Anbieten juristischer Fachinformationen –, sondern investieren auch in Unternehmen mit Zukunftstechnologien und neue Geschäftsmodelle.
Zu Wolters Kluwer gehören bereits "Smartlaw" (Rechtsdokumentenservice für KMUs und Privatkunden), "Effacts" (Vertragsmanagement für Rechtsabteilungen) und "Winra" (Arbeitsprozesse-Software für Rechtsabteilungen). Der Verlag C.H.Beck ist seit 2016 Gesellschafter bei Edicted, einer Plattform für Legal Process Outsourcing und anwaltliche Kollaboration. Der Verlag Otto Schmidt hat sich, ebenfalls 2016, bei Legalhead eingekauft. Die Recruitingplattform soll per Matching-System Juristen die passenden Jobs bescheren und Kanzleien die Suche nach geeigneten Kandidaten ohne Headhunter ermöglichen.
Besonders die großen Kanzleien investieren in das Thema Legal Tech. CMS Hasche Sigle entwickelt eigene Tools, Dentons gründete das Tochterunternehmen "NextLaw Labs", das wahlweise als Investor, Inkubator oder Accelerator für Legal-Tech-Startups dienen soll. Baker McKenzie hat die Position eines Chief Strategie Officers (CSO) geschaffen und mit dem langjährigen Geschäftsführer der Bucerius Law School Dr. Hariolf Wenzler besetzt, um Innovationen und Digitalisierung voranzubringen.
Cloudbasierte Kanzleilösungen erobern den Markt
Digitales Geschäft entsteht auch aus kleineren Einheiten. Der vor allem durch sein erfolgreiches Online-Marketing bekannt gewordene Kölner Anwalt Christian Solmecke etwa hat seine Erfahrung in der Optimierung und Automatisierung kanzleiorganisatorischer Prozessen genutzt, um gemeinsam mit dem Softwareunternehmen HW Partners aus Bonn eine der ersten cloudbasierten Kanzleisoftware-Angebote namens Legalvisio zu entwickeln.
In diesen Markt des Legal Practice Management, also rund um die Themen Kanzleiorganisation, Kommunikationslösungen, Wissens- und Dokumentenmanagement, dringen mit LegalTrek aus Berlin, Streamlaw aus Frankfurt oder Methodigy aus Esslingen neue Anbieter. Wolters Kluwer führt in diesem Jahr seine bereits in mehreren Ländern Europas erprobte cloudbasierte Lösung Kleos in Deutschland ein.
Ein vielversprechendes Beispiel für die Entwicklung einer Software aus dem eigenen Kanzleialltag heraus ist die intuitiv bedienbare Dokumentenautomatisierungs-Software für Kanzleien und Rechtsabteilungen von Lawlift, gegründet von zwei Berliner Medien- und IT-Anwälten. Das Unternehmen zählt zu den Siegern des Legal Innovation Awards 2017 von STP.
*Klarstellung eingefügt am 11.09.2017, 16:03h
2/2: Spitze Geschäftsmodelle sind spitze
Aber wie schnell wird sich die Rechtswelt durch die neuen Player wirklich verändern? Wie erfolgreich sind die zahlreichen Angebote, und welche von ihnen haben die Substanz, den Rechtsmarkt nachhaltig zu verändern? Schließlich scheitern durchschnittlich 9 von 10 Startups, nur eines wird erfolgreich.
Im Februar war bekannt geworden, dass das vom US-Marktführer Legalzoom finanzierte Unternehmen Legalbase Insolvenz anmelden musste. Wenige Wochen später übernahm der millionenschwere Investor Legalzoom die Plattform zur Vermittlung von anwaltlichen Dienstleistungen aber komplett, so dass man von Legalbase in Zukunft sicher noch einiges erwarten kann.
Große Markterfolge verbuchen bislang vor allem sog. spitze Angebote, also Services, die für ein ganz konkretes, genau umrissenes Rechtsproblem bzw. einen bestimmten rechtlichen Themenkreis eine Komplettlösung anbieten. Das bekannteste Beispiel ist das Berliner Unternehmen Flightright, das nach eigenen Angaben bereits Entschädigungen für Flugverspätungen im Wert von über 100 Millionen Euro für seine Kunden durchgesetzt hat. Zuletzt erzielte das Portal große Aufmerksamkeit durch die Ankündigung seines neuen Services Flightright Now, mit dem vollautomatische Sofort-Auszahlungen an Kunden innerhalb weniger Minuten möglich werden sollen. Dem liegt ein Algorithmus zugrunde, der die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Klage mit Hilfe von Big Data und Legal Analytics auf Basis von 35.000 ausgewerteten Gerichtsverfahren berechnet.
Das Portal geblitzt.de, das automatisiert und kostenlos Bußgeldbescheide prüft, berichtet von mehr als 70.000 eingereichten und bearbeiteten Fällen. Rightmart.de, eine Plattform mit angeschlossener Kanzlei, hat nach eigenen Angaben bereits mit seinem ersten Rechtsprodukt, der Prüfung von Hartz-IV-Bescheiden, mehr als 10.000 Verfahren geprüft bei einer Erfolgsquote von 40 Prozent für die Mandanten und einem Umsatz von 200 bis 300 Euro pro Mandat.
Auch die digitalen Marktplätze entwickeln sich weiter
Neben diesen spitzen Angeboten wachsen vor allem die meist schon seit Jahren präsenten Marktplatz-Angebote für anwaltliche Dienstleistungen. Marktführer anwalt.de verzeichnet heute fast 15.000 bezahlte Kanzleiprofile auf seiner Plattform und beschäftigt 120 Mitarbeiter an den Standorten Nürnberg und Berlin. Für die kommenden Jahre hat das Unternehmen angekündigt, seine Plattform "im Kontext von Legal Tech zum Amazon der Rechtsberatung" auszubauen. Auch andere Anwaltsportale wie 123recht.net oder das zu Wolters Kluwer gehörende anwalt24.de entwickeln ihr Angebot derzeit intensiv weiter.
Das Greifswalder Startup Advocado hat in diesem Jahr mit einer Finanzierungsrunde im siebenstelligen Bereich auf sich aufmerksam gemacht, neuere Mitspieler auf dem Spielfeld der Vermittlung anwaltlicher Dienstleistungen sind auch Jurato und FragRobin.
Sogar ein ganz klassischer Anbieter im Rechtssystem will eine führende Rolle übernehmen. Die ARAG, größter Rechtsschutzversicherer in Deutschland, hat Anfang 2017 in Köln einen "digitalen Rechtsdienstleister" namens JUSTIX gegründet, der ein volldigitales Beratungssystem in mehreren europäischen Länder ausrollen soll. Deutschland bleibt erst einmal außen vor, nach Unternehmensangaben, weil die gesetzlichen Regelungen woanders liberaler seien.
Es geht nur noch um das Wie, Wer und Wann
Man könnte die Aufzählung neuer Unternehmen, Angebote und Initiativen im Legal-Tech-Markt beliebig fortsetzen. Kanzleien entwickeln selbst erste Chatbots für ihr Leistungsportfolio, Legal-Tech-Unternehmen starten in zahlreichen weiteren Geschäftsfeldern, und im Sommer 2017 wurde sogar eine Fachgruppe Legal Tech im Bundesverband Deutsche Startups offiziell gegründet.
Wer Legal Tech also nur als aktuellen Hype oder als eine Modeerscheinung abtun möchte, verkennt die Entwicklungen im Rechtsmarkt. Im vergangenen Jahr schrieb ich, dass dieser durch Legal Tech zwar nicht schon in ein oder zwei, aber doch spätestens in zehn Jahren ein ganz anderer sein würde. Wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit sich der Legal-Tech-Markt allein seitdem entwickelt hat, könnte diese Prognose deutlich zu konservativ gewesen sein. Es geht längst nicht mehr um das Ob. Die Frage ist nur noch, welche Angebote, Anbieter und Technologien sich letztendlich durchsetzen werden. Und wie schnell das geschehen wird.
Der Autor Ingo Mahl, LL.M., ist Rechtsanwalt und Leiter des Geschäftsbereichs Legal Digital Information (u.a. smartlaw.de, anwalt24.de, LTO.de) bei Wolters Kluwer Deutschland.
Ingo Mahl, Legal-Tech in Deutschland 2017: Gekommen, um zu bleiben . In: Legal Tribune Online, 09.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24401/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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