Das Abkommen über den Brexit regelt den Zivilprozess nicht. Was das für Klagen, Zuständigkeit und Vollstreckung bedeutet und wie Unternehmen die neue Rechtsunsicherheit umgehen können, erklären Daniel H. Sharma und Christina Pfaff-Benitez.
Lange war unklar, ob es zu einem "harten" Brexit kommen würde, einem endgültigen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Abschluss eines Handelsabkommens. In allerletzter Minute, am Heiligen Abend des Jahres 2020, wurde das Handels- und Kooperationsabkommen (UK-EU Trade and Cooperation Agreement) dann doch noch geboren.
Das Abkommen erfasst zahlreiche ehemals auf europäischer Ebene geregelte Materien wie z. B. die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Zur Zusammenarbeit in Zivilsachen – also zu Fragen des Internationalen Privatrechts (IPR) und des Internationalen Zivilverfahrensrechts (IZVR) – hingegen schweigt es. Dies ist trotz der zähen Verhandlungen ein überraschendes Ergebnis, gerade weil dieser Bereich europäisch stark vereinheitlicht war.
Was genau bedeutet das nun für grenzüberschreitende zivilrechtliche Rechtsverhältnisse? Gibt es seit dem 1. Januar 2021 einen rechtsfreien Raum? Können Unternehmen und Private überhaupt noch grenzüberschreitend klagen? Wo und wie können sie das tun - und wo und wie sollten sie das tun?
Was bisher geschah: Das Brüssel-Regime
Sicher ist: Einen rechtsfreien Raum gibt es nicht. Zivilklagen mit grenzüberschreitendem Bezug können nach wie vor erhoben werden. Der Wegfall des europarechtlichen Regelungsgeflechts für Zivilsachen wird die Verfahren aber teurer, schwerfälliger und langwierigerer machen. Die Rechtslage ist komplexer und komplizierter geworden. Was ein einheitlicher Rechtsraum im Sektor des IPR/IZVR war, ist nun ein zersplittertes Flickwerk von Regelungen auf unterschiedlichen Ebenen.
Mit dem Brexit hat das Vereinigte Königreich vor allem eine Entscheidung gegen die als Brüssel-Regime bekannten Verordnungen zum IZVR getroffen, die bisher das europäische Zivilverfahrensrecht umfassend koordinierten. Vor allem die Brüssel-Ia-Verordnung (über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen) war in diesem Bereich von geradezu herausragender Bedeutung.
Zum acquis des europäischen Zivilverfahrensrecht gehörten weiterhin die bisher geltenden Verordnungen zum Mahnverfahren, zur Beweisaufnahme, Zustellung, Behandlung von Vollstreckungstiteln und Kostenpfändung. Die Brüssel-IIa-Verordnung (über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung) war vor allem für Privatpersonen von Bedeutung.
Wieder mehr Common-Law-Prozessinstrumente
Das Handelsabkommen vom 24. Dezember 2020 enthält keine Regelungen zum IZVR/IPR. Auch wenn die europarechtlichen Primärregelungen die „künftigen Beziehungen des austretenden Staates zur Union“ berücksichtigen wollen, ist eine rechtssichere Lösung daher nicht unmittelbar in Sicht.
Prognostizieren lässt sich aber schon jetzt, dass die neue Rechtslage für Prozessanwälte Handlungsoptionen im Bereich der strategischen Verfahrensführung eröffnen wird. Prozessuale Instrumente aus dem Common Law können unter Umständen (wieder) fruchtbar gemacht werden.
Sogenannte Torpedo-Klagen, die die Klage des Gegners verhindern sollen, könnten ebenso wieder häufiger zum Einsatz kommen wie Anti-Suit Injunctions, also Anti-Klage-Verfügungen in Common-Law-Staaten, um Verfahren in anderen Staaten zu unterbinden. Auch das durch das Brüssel-System in den Hintergrund geratene Forum Shopping dürfte wieder relevanter werden.
Zuständigkeit und Vollstreckbarkeit: EuGVÜ oder Brüssel-Ia?
Es ist nicht unumstritten, aber mit der Wirksamkeit des Brexit fällt das Vereinigte Königreich wohl auf die Regelungen des Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens von 1968 (EuGVÜ) zurück. Dieses bindet die Gerichte im Vereinigten Königreich zu Fragen der internationalen Zuständigkeit und Vollstreckbarkeit zumindest hinsichtlich der älteren EU-Mitgliedstaaten, die ebenfalls Vertragsstaaten des Übereinkommens sind.
Im Verhältnis zu den übrigen (jüngeren) EU-Mitgliedstaaten bleibt aus Sicht des Vereinigten Königreichs sein autonomes IZVR anwendbar.
Umgekehrt gilt hingegen, dass die Gerichte der jüngeren EU-Mitgliedstaaten auch nach dem Brexit die Brüssel-Ia-Verordnung anwenden werden, jedenfalls soweit die entsprechenden Zuständigkeitstatbestände auf einen Anknüpfungspunkt in einem Mitgliedstaat abstellen. Für die älteren EU-Mitgliedstaaten ist hingegen der Rückgriff auf die Brüssel-Ia-Verordnung durch die völkerrechtliche Bindung blockiert.
Die Koexistenz dieser Regime dürfte für die Gerichte eine Herausforderung sein und zu Rechtsunsicherheit führen.
Wie das VK mehr Rechtssicherheit schaffen will
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der insbesondere den Brexiteers ein Dorn im Auge sein dürfte: Die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eines Urteils aus einem EU-Mitgliedstaat richten sich nach den Bestimmungen des EuGVÜ. Sie können versagt werden, wenn ihnen der ordre public aus dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaates, z. B. des Vereinigten Königreichs, entgegensteht. Auch die Erteilung der Vollstreckungsklausel richtet sich nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaates. Dieses kann zwar selbstverständlich durch das zuständige nationale Gesetzgebungsorgan – im Falle des Vereinigten Königreiches das britische Unterhaus - geändert werden, doch die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Auslegung des Übereinkommens beurteilt schlussendlich der EuGH auf Grundlage der Zuständigkeitsbestimmung im ergänzenden Protokoll von 1971. Von den Institutionen der EU könnte sich das Vereinigten Königreich damit nicht endgültig befreien.
Ein gangbarer Weg zur Schaffung von Rechtssicherheit im IZVR wäre ein eigenständiger Beitritt des Vereinigten Königreichs zum Lugano Übereinkommen von 1988 (über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidung in Zivil- und Handelssachen – LugÜ), ein Parallelübereinkommen zum EuGVÜ.
Das Übereinkommen wurde 2007 reformiert und in weiten Teilen an die Brüssel-I-Verordnung angeglichen. Es gilt gegenwärtig zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der Schweiz, Island und Norwegen. Das Vereinigte Königreich hat bereits im April 2020 ein eigenständiges Beitrittsgesuch gestellt. Da der Beitritt zum Lugano Regime allerdings die Zustimmung aller Vertragsparteien – also auch der EU – erfordert und vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängt, bleibt mit Blick auf diesen Swing back abzuwarten, ob das Vereinigte Königreich wirklich beitreten kann.
Möglich wäre auch ein Beitritt des Vereinigten Königreichs zum Haager Übereinkommen 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen. Anwendbar ist das Übereinkommen allerdings nur auf ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen zwischen Unternehmen. Das wirtschaftspolitische Interesse des Vereinigten Königreichs an einem Beitritt dürfte dennoch groß sein, weswegen es bereits im September 2020 eine Beitrittserklärung hinterlegt hat.
Privatpersonen und Verbraucherschutz
Für Privatpersonen gilt im Bereich des Familien- und Erbrechts wieder das jeweilige nationale Recht, soweit nicht das Haager Übereinkommen von 1970 oder das Haager Unterhaltsübereinkommen von 2007 greifen.
Im Verbraucherschutz gelten die nationalen Bestimmungen, die im Vereinigten Königreich gegenwärtig noch die verbraucherschutzrechtlichen Vorgaben der EU reflektieren. Das bedeutet mit Blick auf den für Verbraucher so bedeutsamen Onlinehandel, dass der Einkauf von Waren oder Dienstleistungen in einem britischen Onlineshop, der seine Tätigkeit nicht grenzüberschreitend ausrichtet und seinen Unternehmenssitz im Vereinigten Königreich hat, nach britischem Recht zu beurteilen sein dürfte.
Bei einem britischen Onlineshop mit grenzüberschreitender Ausrichtung hingegen bleibt für einen deutschen Verbraucher das deutsche Recht anwendbar.
Im Zweifel für die Schiedsvereinbarung
Durch den Brexit ergeben sich für den Bereich des IPR/IZVR deutliche Änderungen und viele Unsicherheiten. Die strategische Verfahrensführung unter Nutzung der nun wieder wichtigen nationalen Prozessrechtsinstrumente auf beiden Seiten des Ärmelkanals wird komplexer.
Für Unternehmen, die auf Anwälte mit Expertise zurückgreifen können, wird das nicht zum unlösbaren Problem werden. Für Private und Verbraucher sind diese Herausforderungen allerdings schwerer zu bewältigen.
Jedenfalls im Unternehmensverkehr dürfte sich verstärkt das internationale Schiedsverfahrensrecht als tragfähige Alternative anbieten. Denn die Anerkennung von Schiedssprüchen erfolgt auf der Grundlage der New Yorker Konvention 1958, die vom „harten“ Brexit im Bereich des IPR/IZVR gänzlich unberührt bleibt. Der Abschluss einer Schiedsvereinbarung ist damit eine sichere Wahl.
Dr. Daniel H. Sharma ist Rechtsanwalt, Solicitor und Partner im Frankfurter Büro der internationalen Rechtsanwaltskanzlei DLA Piper. Er berät Mandanten in nationalen und internationalen Streitigkeiten, strategisch und als Prozessvertreter in Bezug auf Gerichts- sowie Schiedsverfahren in englischer, französischer und deutscher Sprache. Er ist auch regelmäßig als Schiedsrichter tätig.
Christina Pfaff-Benitez ist Rechtsanwältin und Senior Associate im Frankfurter Büro der internationalen Rechtsanwaltskanzlei DLA Piper. Sie berät Mandanten bei internationalen Schiedsverfahren, Prozessführung und staatlichen Gerichtsverfahren. Zu ihren Mandanten zählen Unternehmen aus den Bereichen Energie, Technologie und Luftfahrt.
Nach dem Brexit: . In: Legal Tribune Online, 08.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43929 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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