Umsetzung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht: Nie­der­lande legen zur EU-Ver­bands­klage vor

Gastbeitrag von Stefan Patzer und Dr. Christian Steger

20.07.2022

Zum Jahresende läuft die Umsetzungsfrist der EU-Verbandsklagerichtlinie ab. Während der deutsche Entwurf noch aussteht, haben sich die Niederlande bereits als attraktives Forum positioniert, meinen Stefan Patzer und Christian Steger.

Die europäische Verbandsklage ist zum Greifen nah. Bis zum 25. Dezember 2022 müssen die EU-Mitgliedstaaten die Vorgaben der Richtlinie (RL (EU) 2020/1828) in nationales Recht umsetzen. Die Diskussion ist europaweit in vollem Gange und die Zeit drängt. Die Richtlinie überlässt den Mitgliedstaaten in zentralen Bereichen einen weitreichenden Umsetzungsspielraum, der zu richtungsweisenden rechtspolitischen Weichenstellungen zwingt. Will man lediglich die Mindestanforderungen der Richtlinie umsetzen oder darüber hinausgehen und dadurch versuchen, den eigenen Justizstandort zu stärken?  

Die kontrovers geführte Debatte beschränkt sich nicht allein auf Deutschland, sondern betrifft alle Mitgliedstaaten gleichermaßen. Insgesamt gibt es ein breites Spektrum an verschiedenen Umsetzungsvorschlägen. Die bei Verabschiedung der Richtlinie von vielen Beteiligten gehegte Sorge, es könne zu einem Wettstreit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und der anschließenden Möglichkeit eines "forum shopping" kommen, scheint sich zu bestätigen.  

Sich dem vollends zu entziehen, ist nicht möglich. Zwar werden Verbandsklagen primär am Sitz des beklagten Unternehmens in Betracht kommen, und damit die jeweils nationalen Regelungen Anwendung finden. Aber es gibt im europäischen Zuständigkeitsrecht auch diverse praktisch relevante Konstellationen, in denen Unternehmen damit rechnen müssen, in anderen Jurisdiktionen durch Verbandsklagen in Anspruch genommen zu werden. So können etwa bei deliktischen Ansprüchen die Klagen auch an dem Ort erhoben werden, an dem der Schaden eingetreten ist. Für Verbandsklagen ist dies zwar umstritten, doch deuten jüngere Aussagen des EuGH in diese Richtung. Und auch bei Klagen gegen mehrere Beklagte kann es "kraft Sachzusammenhangs" zu einer Zuständigkeitsbündelung am Gerichtsstand nur einer der Beklagten kommen.  

Niederlande setzen Richtlinie als Erstes um  

In dieser komplexen Gemengelage haben die Niederlande Ende Juni als erster Mitgliedstaat die Richtlinie umgesetzt. Schon bislang kommt den Niederlanden im Bereich der kartellrechtlichen Schadensersatzklagen eine Vorreiterrolle in Kontinentaleuropa zu, und auch der in Amsterdam angesiedelte Netherlands Commercial Court spielt in der ersten Liga der staatlichen Gerichte mit, die sich als Standort für komplexe internationale Handelsstreitigkeiten empfehlen wollen.  

Die nun beschlossene Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie wird die Attraktivität der Niederlande als Gerichtsstandort weiter stärken. Die dazu erforderlichen Änderungen der bestehenden Regelungen waren im Vergleich zu Deutschland überschaubar. Bereits 2020 hatte das niederländische Parlament eine Kollektivklage verabschiedet, die den Anforderungen der Verbandsklagerichtlinie in weiten Teilen gerecht wird. Sie sieht beispielsweise – anders als die deutsche Musterfeststellungsklage – eine direkte Leistung an die Klagepartei vor.  

Bekannt ist dieses Verfahren als WAMCA-Klage (Wet afwikkeling massaschade in collectieve actie). Mit den kürzlich beschlossenen Änderungen stellt das WAMCA-Verfahren das erste europäische Verbandsklage-Regime dar.  

Bei der konkreten Umsetzung haben die Niederlande in vielfacher Hinsicht eine sehr klägerfreundliche Ausgestaltung gewählt und dabei Entscheidungen getroffen, über die in der deutschen rechtspolitischen Diskussion noch hart gerungen wird.  

Keine Beschränkung auf Verbraucher und Verstöße gegen EU-Recht

Dies betrifft zunächst den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Verbandsklage. Während die Richtlinie allein dem Ziel des Verbraucherschutzes dient und eine Klage ausschließlich bei einem Verstoß gegen bestimmte, im Anhang näher geregelte europarechtliche Verbraucherschutzvorschriften vorsieht, geht das niederländische WAMCA-Verfahren weit darüber hinaus. Es erlaubt eine Klage bei einem beliebigen Rechtsverstoß und schließt daher beispielsweise auch Klimaschutzklagen mit ein. Geschützt sind zudem nicht nur Verbraucher, sondern auch Unternehmen. Auch in Deutschland wird über eine Ausweitung des Schutzbereichs diskutiert, die sich ausweislich des Koalitionsvertrags allerdings auf kleine Unternehmen beschränken soll.

Die Anforderungen an die Klagebefugnis der qualifizierten Einrichtungen sind ein weiterer zentraler Punkt, wie etwa die Debatte im Zusammenhang mit der Einführung der Musterfeststellungsklage gezeigt hat. Die Richtlinie enthält insoweit allein Vorgaben für grenzüberschreitende Klagen, wohingegen die Klagebefugnis bei innerstaatlichen Verbandsklagen der nationalen Regelungsbefugnis überlassen ist. Die Niederlande haben auch hier einen klägerfreundlichen Ansatz gewählt und nur geringe Anforderungen an die Klagebefugnis geknüpft. Selbst ad hoc gegründeten Vereinigungen, deren einziger Zweck es ist, eine Kollektivklage zu erheben, steht die WAMCA-Klage offen.  

Entscheidung für ein Opt-Out

Die Richtlinie überlässt es bei innerstaatlichen Abhilfeklagen (also Verbandsklagen auf Leistung an die Verbraucher) den Mitgliedstaaten, ob sie ein Opt-In- oder Opt-Out-System vorsehen. Die meisten Mitgliedstaaten, so auch Deutschland, favorisieren ein Opt-In-Modell. In Frankreich wäre ein Opt-Out-Modell sogar verfassungswidrig. Diese Staaten streiten lediglich um den Zeitpunkt, bis zu dem ein Opt-In möglich ist, insbesondere darüber, ob ein Verbraucher auch noch nach einem positiven Urteil der Verbandsklage beitreten kann.  

Anders in den Niederlanden. Das WAMCA-Verfahren ist mit einem Opt-Out-Mechanismus versehen, der sonst charakteristisch für US-amerikanische class actions ist. Die Anzahl der "klagenden" Verbraucher wird dadurch signifikant größer. Auf Schadensersatz gerichtete WAMCA-Klagen haben deshalb in der Regel hohe Streitwerte, was sie für Klägerkanzleien und Prozessfinanzierer ungleich lukrativer macht als entsprechende Opt-In-Sammelklagen.  

Leichter Zugang zur Prozessfinanzierung

Die Möglichkeit der Prozessfinanzierung war in den Diskussionen vor Einführung der EU-Verbandsklage hoch umstritten. Im Trilogverfahren einigten sich Kommission, Rat und Parlament schließlich darauf, den Mitgliedstaaten die Entscheidung zu überlassen, ob sie eine Prozessfinanzierung der Verbandsklagen erlauben wollen.  

Die Niederlande haben sich dafür entschieden. Prozessfinanzierung ist dort seit längerem anerkannt und die rechtlichen Vorgaben beschränken sich auf allgemeine Leitlinien zur Vermeidung von Interessenkonflikten. Dieses liberale Umfeld wird Kollektivklägern zukünftig auch im Rahmen von Verbandsklagen den Zugang zu Prozessfinanzierung ermöglichen. Einzige Voraussetzung ist die Einhaltung der diesbezüglichen Minimalanforderungen der Richtlinie. Insbesondere dürfen Prozessfinanzierer keinen Einfluss auf die Verfahrensstrategie nehmen und die Unabhängigkeit des Verbraucherschutzverbands muss gewahrt bleiben.

Einzig in der Frage der Beweisführung haben die Niederlande einen restriktiven Ansatz gewählt. Nach der Richtlinie wäre es zulässig gewesen, eine discovery nach US-amerikanischem Vorbild einzuführen. Darauf haben die Niederlande verzichtet. Anwendbar bleiben die allgemeinen zivilprozessualen Vorschriften zur Urkundenvorlage, die den bekannten deutschen Regelungen in der Zivilprozessordnung ähneln.  

Risiko für Unternehmen erhöht sich

Aus Unternehmenssicht haben sich die Risiken, durch eine Verbandsklage in Anspruch genommen zu werden, sicherlich erhöht. Die umfassende Möglichkeit einer Prozessfinanzierung, eine tendenziell großzügige Interpretation der europäischen Zuständigkeitsvorschriften durch die niederländischen Gerichte, die Entscheidung zugunsten eines Opt-Out bei Abhilfeklagen sowie die Ausdehnung der Anwendbarkeit über die Vorgaben der Richtlinie hinaus werden die Niederlande zu einem der bevorzugten Gerichtsstände für EU-Verbandsklagen machen. Umso spannender wird es zu sehen, wie sich der anstehende deutsche Referentenentwurf zu diesen Fragen positionieren wird.  

Die Rechtsanwälte Stefan Patzer und Dr. Christian Steger sind am Hamburger Standort von Latham & Watkins tätig. Sie beraten deutsche und ausländische Mandanten in komplexen wirtschaftsrechtlichen Gerichts- und Schiedsverfahren und haben langjährige Erfahrung mit Massenverfahren.

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

Umsetzung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht: . In: Legal Tribune Online, 20.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49092 (abgerufen am: 09.11.2024 )

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