Was die einen Kanzleien für Science-Fiction halten, gehört für andere fast schon zum Tagesgeschäft: IT-basierte Lösungen, die Rechtsberatung effizienter und billiger machen sollen.
Ein kleines Tool hat vor kurzem die Gemeinde der Wirtschaftsanwälte amüsiert: Es errechnete die Wahrscheinlichkeit, mit welcher der eigene Beruf durch einen Computer ersetzt wird. Wer "Anwalt" eingab, konnte sich zufrieden zurücklehnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass künftig eine Software die Mandatsarbeit übernimmt, liegt bei nur 3,5 Prozent.
Tatsächlich denken Kanzlei-Manager und Partnerschaftsversammlungen hierzulande noch eher selten darüber nach, welche Auswirkungen die Industrie 4.0 – die doch bekanntlich das Geschäft der Unternehmensmandanten grundlegend verändert – denn für die Kanzleien selbst haben könnte. Erst vor kurzem sagte der Managing Partner einer namhaften deutschen Sozietät, er halte es zwar für denkbar, dass Kanzleien nicht mehr nur klassische Rechtsberatung, sondern auch IT-Lösungen für bestimmte Beratungsfelder anbieten. Aber letztlich sei das noch "reine Zukunftsmusik".
Was für die einen nach Science-Fiction klingt, wird für andere Kanzleien allerdings langsam zur Realität. Sie entwickeln technische Lösungen, die Rechtsberatung effizienter und billiger machen. Das geschieht nicht ohne Druck von außen. So stand etwa bei CMS Hasche Sigle am Anfang einer Innovation die ernüchternde Erkenntnis, dass Rechtsanwälte manchmal einfach zu teuer sind.
Software prüft Werk- und Dienstverträge
Den Anstoß gaben die Arbeitsrechtler. Ihre Mandanten beschäftigt aktuell der Einsatz von Fremdpersonal. Große Konzerne haben oft unzählige Fremddienstleister – und deren Verträge stehen derzeit im Fokus von behördlichen Überprüfungen, nicht zuletzt wegen der Einführung des Mindestlohns. Will ein Unternehmen die Verträge selbst auf Rechtmäßigkeit prüfen, dann wird es teuer: Eine Einzelfallprüfung durch einen Anwalt kann durchaus mehrere Stunden dauern – bei einem Großkanzlei-üblichen Stundensatz von rund 300 Euro lässt sich leicht hochrechnen, dass die Honorarabrechnungen deftig ausfallen werden.
Mandanten von CMS Hasche Sigle brachten deshalb die Idee auf, ein IT-gestütztes System zum Fremdpersonaleinsatz zu entwickeln - die händische Einzelfallprüfung war ihnen zu aufwändig und zu teuer geworden. Die Anwälte waren skeptisch: "Die Umsetzung wird nicht einfach, dachten wir zunächst", erinnert sich Dr. Alexander Bissels. Aber sie haben sich dann doch daran gemacht, das Tool zu entwickeln, und stellten fest: "Es funktioniert".
"Sie", das ist ein Kernteam bestehend aus den beiden Arbeitsrechtspartnern Bissels und Thomas Glaesmann sowie den Associates Amelie Schäfer und Kira Falter, der Abteilung "Products" bei CMS und einem IT-Dienstleister, der die Kanzlei bei der Entwicklung der Software unterstützte.
Ein Jahr lang haben die Anwälte neben dem Tagesgeschäft unzählige Non-billable Hours aufgewendet. Statt an Veröffentlichungen zu arbeiten - wie viele ihrer Kollegen es tun -, haben sie an dem Produkt getüftelt, das in der Kanzleienwelt wohl einzigartig ist: Eine Software, mit der Unternehmen anhand eines Frage-Antwort-Spiels die Werk- und Dienstverträge ihrer Fremddienstleister prüfen können.
Nur noch die kritischen Fälle prüft ein Anwalt
Zunächst haben die Juristen Fragen entworfen, Kriterien entwickelt, logische Verknüpfungen erstellt und ein Punktesystem erdacht. "Das ist noch keine Rocket Science, doch im Detail echt tricky", sind sich Bissels und Glaesmann einig. Die Besonderheit war, dass die CMS-Anwälte das Tool prüfen konnten, indem sie es an mehr als dreitausend Echtfällen getestet haben. Lieferte die Software abweichende Ergebnisse, wurde detailliert eingestiegen.Das noch namenlose Tool wird seit Mai 2015 bei Mandanten eingesetzt.
Geplant ist allerdings nicht der alleinige Verkauf der Software, sondern der Einsatz des Programms als Teil einer anwaltlichen Beratung. Damit sieht sich die Kanzlei auch rechtlich auf der sicheren Seite, denn es stellen sich ansonsten Fragen nach Gewerbesteuerpflicht und Berufsrecht. "Wir wollen mit dem Tool dem Mandanten zunächst einen Überblick über die Problematik geben. Erst die kritischen Fälle werden dann durch unsere Anwälte geprüft", sagt Dr. Hubertus Kolster, Managing Partner von CMS in Deutschland. Dies sei ein "wichtiger Beitrag zum innovativen und effizienten Arbeiten", findet er.
Was die Mandanten für den Einsatz der Software bezahlen müssen, darüber möchte man bei CMS keine Auskunft geben. Es ist aber anzunehmen, dass die Kanzlei sich bei der Preisfindung nicht daran orientieren wird, die Entwicklungskosten wieder einzuspielen. Es dürfte viel eher darum gehen, den Unternehmen einen Preis anzubieten, der günstiger ist als die händische Prüfung.
2/2: Dentons will Start-ups fördern
Andreas Ziegenhagen, Managing Partner von Dentons in Deutschland, hält nichts von Eigenentwicklungen. "Das wäre ein riesiges Zeitinvestment, von dem wir nicht glauben, dass es sich lohnt", sagt er. Seine Kanzlei hat eine andere Strategie gewählt, um ihre Innovationskraft zu demonstrieren: Sie will Legal-Tech-Start-ups fördern. Dazu wurde die eigenständige Gesellschaft NextLaw Labs gegründet, die sich auf die Entwicklung und den Einsatz von Investitionen in neue Technologien konzentriert. Im Rahmen des NextLaw Labs sollen Start-ups aus dem Bereich Legal Intelligence ihre Produkte entwickeln und zur Marktreife bringen.
Geplant ist, dass sich auch externe Investoren als Risikokapitalgeber beteiligen. Zwar investiert auch Dentons, "allerdings steht für uns weniger die Rendite im Vordergrund", sagt Ziegenhagen. Die Kanzlei will vor allem die Systeme, die entwickelt werden, beeinflussen, testen und nutzen. Davon verspricht sie sich, dass sie ihre Mandanten besser beraten kann. Für sich selbst erwartet sie daher einen Wettbewerbsvorteil.
Deshalb gibt es auch zwei Kriterien, nach denen entschieden wird, welches Start-up unterstützt wird: Dentons muss das Produkt für sinnvoll halten, und IBM es aus technischer Sicht für machbar. Als erstes Unternehmen wurde ROSS Intelligence unter die Fittiche genommen. Das Start-up entwickelt mit Unterstützung von IBM Watson eine App, die bei der juristischen Recherche helfen soll. Anwälte können demnach ihre Fragen in gewohnter Sprache an die App stellen, so als wendeten sie sich an eine reale Person. Das Programm soll dann Gesetzestexte durchsuchen, Belege sammeln, Zusammenhänge herstellen und fundierte Antworten liefern.
Anders als bei CMS, wo das Tool zum Fremddienstleistereinsatz von Anwälten aus Köln und Düsseldorf entwickelt wurde, ist NextLaw Labs global ausgelegt. Die Projekte sollen für alle Regionen entwickelt werden, wobei bereits Büros in den USA bestehen sowie momentan in Großbritannien und Deutschland angedacht werden. "Es gab schon erste Unternehmen hier, die uns angesprochen haben, ob sie in die NextLaw Labs aufgenommen werden können", berichtet Ziegenhagen.
Zukunftsvisionen mit einem Schuss Marketing
Ob man nun Start-ups unterstützt wie Dentons oder auf Eigenentwicklungen setzt wie CMS – wer Innovationen vorantreibt, muss Widerstände überwinden. So gibt nicht nur in den Kanzleien, sondern auch in den Rechtsabteilungen der Mandanten Skeptiker -, die befürchten, man schaffe sich mit den Software-Lösungen selbst ab und der Jurist werde tatsächlich bald durch einen Computer ersetzt.
Allerdings sind sich die Kanzleimanager einig: Die Frage, ob die Digitalisierung kommt oder nicht, "stellt sich für eine große Wirtschaftskanzlei gar nicht", so Andreas Ziegenhagen. "Vor 20 Jahren gab es noch physische Datenräume und Diktiergeräte mit Kassetten", erinnert er sich. "Der Anwaltsberuf hat sich entwickelt, und diese Entwicklung wird weitergehen." CMS-Managing Partner Hubertus Kolster sagt: "Sich zurückzulehnen und sich hier nicht zu positionieren wäre ein Fehler. Wir müssen das auch zu unserem Thema machen und den Mandanten kreative Lösungen anbieten." So ist für CMS das Tool zum Fremddienstleistereinsatz auch nur ein erstes Produkt – weitere ähnliche Software-Entwicklungen sind in der Entwicklung.
Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch der Marketing-Aspekt, den solche Initiativen mit sich bringen. Kanzleien, die zeigen, dass sie auf das Mandantenbedürfnis nach "More for Less" - mehr Dienstleistung für weniger Geld – reagieren, hoffen darauf, einige Pluspunkte bei den Unternehmensjuristen zu sammeln, wenn es um die Auftragsvergabe geht.
Der Trend, Rechercheaufgaben und Commodity-Geschäft wie das Prüfen von unzähligen Verträgen IT-gestützt abzuwickeln, wird sich fortsetzen – darin sind sich alle Branchenbeobachter einig. Letztlich sei es sinnvoller, wenn sich die hochbezahlten Juristen auf die kniffligen Fälle konzentrieren und vom Standardgeschäft entlastet werden, heißt es. Deswegen kann die Antwort auf die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass Anwälte durch Computer ersetzt werden, nicht "3,5 Prozent" sein. Sie lautet - im typischen Juristen-Stil -: Es kommt darauf an.
Anja Hall, Großkanzleien und Legal Tech: Wo die Zukunftsmusik heute schon spielt . In: Legal Tribune Online, 23.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17625/ (abgerufen am: 24.09.2023 )
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