Vivian Kube über das Rechtssystem als Sprache der Macht und den fehlenden Mut zur Gerechtigkeit. Die ablehnende Position der Bundesregierung zur Chatkontrolle findet sie richtig, mahnt aber zur Wachsamkeit.
Die Anwältin Dr. Vivian Kube arbeitet für das Projekt FragDenStaat und in einer Berliner Kanzlei. Zu ihren Schwerpunkten zählen die Informationsfreiheitsrechte sowie die strategische Prozessführung. In der Vergangenheit hat sie sich bei dem gemeinnützigen Verein Gesellschaft für Freiheitsrechte engagiert, aktuell unterstützt sie das ehrenamtliche Projekt Freiheitsfonds.
Mein typischer Montag:
Drei Tage die Woche arbeite ich bei FragDenStaat im Legal Team und zwei Tage als selbstständige Rechtsanwältin in der Kanzlei KM8. Das heißt: strategische und politische Arbeit für Informationsfreiheit und Demokratie und anwaltlicher Tätigkeit für meine Mandant*innen – mit dieser Kombination habe ich mir meinen Traumjob gebastelt.
Der Montag ist immer recht gefüllt mit Calls. Zum Standardprogramm gehört ein Call am Morgen mit dem gesamten Team und nachmittags mit dem Legal Team. Im Legal-Call verteilen wir die Aufgaben für die Woche und diskutieren über die Rechtsfragen, die das große Team beschäftigen sowie aktuelle Verfahren (etwa “sollen wir klagen, weil das Berliner Innenministerium die Daten zu den Abschiebeflügen nach Afghanistan nicht herausgibt?” oder “wie kommen wir an brisante Handy-Kommunikation von Politiker*innen, die immer wieder gelöscht werden?”). Inhaltlich wird durchaus kontrovers diskutiert und – obwohl wir uns die Themen sehr zu Herzen nehmen – auch mal gerne gelacht.
Mein Getränk und meine Bar:
Kaffee und Bier – je nach Tageszeit. Kaffee, 100% Arabica aus dem Siebträger, schmeckt im Bett und auf dem Balkon am besten. Das Bier trinke ich gerne mit meinen tollen Kolleg*innen: Im Biergarten, einer kleinen Eckkneipe oder auf unseren Parties. Sowohl bei FragDenStaat als auch in der Kanzlei wird auch gerne und gut gefeiert.
Ein Song, ein Buch, ein Ort:
Amanda Palmer – The ride
Audre Lorde - Your Silence Will Not Protect You
Am Meer.
Warum Jura?
Als ich jung war, wurde ein Freund von mir wegen Graffiti angeklagt. Nach der Verhandlung war er erleichtert: Freispruch. Toll, antwortete ich, was haben sie denn gesagt? Keine Ahnung, sagte er. Er habe kein Wort verstanden. – Darüber habe ich lange nachgedacht. Wie kann es sein, dass über eine Person gesprochen wird, über ihr Leben verhandelt wird und sie versteht kein Wort? Das Rechtssystem ist eine Sprache der Macht und für viele unzugänglich. Ich wollte diese Sprache lernen, das Recht für alle zugänglicher machen und damit die Gesellschaft zu einem gerechteren Ort.
Zahl meiner Arbeitsstunden pro Woche:
Ich kann Freizeit und Arbeit gar nicht so haarscharf trennen. Veranstaltungen und Austauschrunden mit Kolleg*innen oder mit Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, finden auch oft abends oder am Wochenende statt. Und meistens empfinde ich diese Momente als einen sehr sinnvollen Zeitvertreib. Ständigem “Vollzeit plus” wirke ich aber bewusst entgegen, in dem ich versuche, die Kernarbeitszeit auf die Woche und 8 Stunden pro Tag zu begrenzen. Wenn wir dann mal aus Begeisterung weiterlaufen, ist es auch ok.
An meinem Job mag ich besonders:
Dass ich ständig mit Menschen zu tun habe, die sehr engagiert und kreativ sind und mit Freude daran arbeiten, die Welt ein Stückchen besser zu machen: Etwa viele kleine Vereine, die sozio-kulturelle Zentren dort aufrechterhalten, wo sonst nicht mehr viel los ist und sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Whistleblower*innen, die wichtige Informationen ans Licht bringen wollen. Klimaaktivist*innen, die nicht müde werden, auf die Straße zu gehen und mächtigen Konzernen die Stirn zu bieten.
An meinem Job nervt mich:
Mich frustriert, wenn Gerichte und Jurist*innen sich an althergebrachten Rechtsmeinungen festhalten oder sich hinter dem vermeintlich “objektiven” Recht verstecken, statt das Recht im Lichte aktueller gesellschaftlicher Fragen fortzuentwickeln. Unsere Verfassung enthält das Werkzeug, Gerechtigkeit zu schaffen – doch zu oft fehlt der Mut, es zu benutzen.
Noch schlimmer ist es allerdings, wenn wir vor Gericht Recht bekommen, und die Ministerien oder Polizeibehörden sich nicht an die Urteile halten und immer wieder nach Schlupflöchern suchen.
Wenn ich garantiert eine ehrliche Antwort bekäme, würde ich den Staat fragen:
Wenn mit Staat die Verfassung gemeint ist: “Wie hältst du es mit der AfD?” Aber nur damit die Verfassung ganz laut sagt, was wir eigentlich alle schon wissen.
Mein Take zur Chatkontrolle:
Die Privatsphäre ist ein elementarer Bestandteil der Menschenwürde. Dennoch versuchen Sicherheitsbehörden immer wieder die Ermächtigung zu erhalten, die Privatsphäre komplett ausspähen zu dürfen. So auch bei der Chatkontrolle, die das Ende des digitalen Briefgeheimnisses bedeutet hätte, wie Elina Eickstädt vom Chaos Computer Club es super zusammenfasst hat.
Dass die Bundesregierung sich nun nach viel zivilgesellschaftlichen Protest gegen die anlasslose Chatkontrolle ausgesprochen hat, ist richtig. Wir müssen allerdings genau beobachten, ob sie auch dabei bleibt, und nicht doch auf EU-Ebene über Hintertüren für mehr Überwachung verhandeln wird.
Ich habe übrigens selbst mal im Cyber-Crime-Dezernat bei der Staatsanwaltschaft hospitiert. Dort wird unter anderem gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Darknet ermittelt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie engagiert und sensibilisiert die Menschen dort diese schwer aushaltbare Arbeit verrichten. Es fehlte aber an allen Ecken an Ressourcen für wirklich wirksame Maßnahmen, wie das Darknet durchforsten oder auch psychologische Betreuung für die Betroffenen und auch die Ermittler*innen. Wenn man es mit dem Kampf gegen sexualisierte Gewalt also ernst meint, gibt es genug, was man direkt tun könnte.
Welches Rechtsgebiet wird sich in den nächsten Jahren am stärksten verändern und warum?
Bei aller berechtigter Kritik an KI, hoffe ich, dass KI auch dazu genutzt werden kann, die Rechtsanwendung für mehr Menschen zugänglicher zu machen. Was dann bedeutet: alle.
Ein Gesetz/Paragraf, das/der dringend geändert werden sollte:
Das Fahren ohne Fahrschein, dass nach § 265a StGB strafbar ist, muss dringend entkriminalisiert werden. Jährlich sitzen deswegen um die 9.000 Menschen in deutschen Gefängnissen – überwiegend Menschen, die von Armut betroffen sind oder sich in Krisensituationen befinden. Dem Staat kostet jeder Tag in Haft 200 Euro, jährlich sind das ca. 120 Millionen Euro. Das Geld könnte so viel sinnvoller eingesetzt werden, als für die Aufrechterhaltung eines Gesetzes, das mehr schadet, als es nützt.
Meine letzte Frage an ChatGPT:
Wie kann ich "aus so einem Einheitsbrei entsteht selten Neues" positiv ausdrücken?
Eine Idee zur Reform der juristischen Ausbildung:
Es sollte viel mehr Wert auf praktische Erfahrungen und gemeinsame kritische Diskussionen gelegt werden. Feministische und kritische Rechtswissenschaft sollten nicht Wahl-, sondern Pflichtfach sein, genau wie ein Besuch im Gefängnis.
Eine Vorlesung, die Jura-Studierende auf keinen Fall schwänzen sollten:
Alles von Prof. Dr. Nora Markard und Prof. Dr. Felix Hanschmann. Von Nora habe unglaublich viel über strategische Prozessführung und feministische Rechtspraxis gelernt. Und Felix Hanschmann hat den Klassismus im Blick. Eine neue Studie hat ergeben, dass 85 % der Jurist*innen in deutschen Top-Kanzleien aus sog. privilegierten sozialen Schichten kommen. Das ganze Jura-Studium sowie die juristischen Berufe sind sehr von der sozialen Herkunft geprägt. Wir brauchen da dringend mehr Vielfalt, damit sich Recht und juristisches Denken weiterentwickeln kann.
Diese Juristin oder diesen Juristen müssen die LTO-Leser kennenlernen:
Rechtsanwältin Vera Keller, weil sie strategisch so klug ist und immer eine klare Haltung hat. Sehr viele Seenotrettungs-NGOs, große internationale sowie kleinere aktivistische Organisationen und Menschenrechtsverteidiger*innen haben schon von ihrem Rat gezehrt.
Mehr Most Wanted? Tom Braegelmann | Incoronata Cruciano | Joachim Ponseck | Marc Roberts | Maximilian Riege | Fatima Hussain | Anne Graue | Victoria Fricke | Ann-Kathrin Ludwig | Stephanie Beyrich | Christiane Eymers | Martina Rehman | Martina Flade | Saskia Schlemmer | Marco Buschmann | Neda Wysocki | Anosha Wahidi | Gregor Gysi | Dirk Wiese | Konstantin von Notz | Sabine Stetter | Katharina Humphrey | Jutta Otto | Hanno Kunkel | Alfred Dierlamm | Mohamad El-Ghazi | Jan Philipp Albrecht | Helene Bubrowski | Ali B. Norouzi | Naila Widmaier | Andrej Umansky | Tijen Ataoğlu | Philippos Botsaris | Ralf Leifeld | Holger Dahl | Herta Däubler-Gmelin | Volker Römermann | Jerry Roth | Sebastiaan Moolenaar | Eckart Brödermann | Dominique Grüter | Lea Beckmann | Ronska Grimm | Die Übersicht mit allen bisher veröffentlichten Ausgaben finden Sie hier.
Köpfe: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58381 (abgerufen am: 14.11.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag