Vera Keller über hoffnungsvollen Aktionismus, Reformideen für das Völkerrecht und das Mandat ihres Lebens. Auch zur Frage, ob Donald Trump den Friedensnobelpreis erhalten sollte, hat sie eine klare Meinung.
Vera Magali Keller ist als Rechtsanwältin und Mediatorin in der Berliner Boutique-Kanzlei Juno tätig. Ihre Schwerpunkte liegen im Völkerrecht, Europarecht und im öffentlichen Recht. Zu ihren Mandantinnen und Mandanten zählen neben Organisationen des öffentlichen, politischen und humanitären Sektors auch Whistleblower und Hacker. Sie hat die Vereinten Nationen beraten und das Legal Team von Sea-Watch geleitet. Für LTO Most Wanted wurde sie von Dr. Vivian Kube nominiert.
Mein typischer Montag:
Montage sind für mich meistens Tage im Home Office und Tage, die ich versuche, frei von regulären Terminen und Konferenzen zu halten, um jede Woche Zeit für dringende Anfragen zu haben. In meiner Kanzlei Juno beraten wir eine Vielzahl politischer und humanitärer Organisationen, zivilgesellschaftliche Kollektive und Menschenrechtsaktivist:innen. Die Anfragen variieren zwischen "Eine Person wurde bei der Einreise in ein bestimmtes Land aufgrund ihres Engagements festgenommen, was können wir tun?", "Die Crew des Seenotrettungsschiffs Sea-Watch 5 wurde von der sogenannten libyschen Küstenwache beschossen, was können wir tun?" und "Wir wissen von einem geheimen Treffen deutscher Rechtsradikaler und wollen darüber berichten, was müssen wir beachten?“. Meine Montage sind deswegen oftmals unberechenbar und in der Regel leider auch die hektischsten Tage.
Mein Getränk und meine Bar:
Tagsüber trinke ich tatsächlich hauptsächlich Wasser und Tee. Abends trifft man mich am glücklichsten mit Weißwein oder Sekt beim Essen, auf Berliner Raves oder auf Couchparties mit Freund:innen.
Ein Song, ein Buch, ein Ort:
This is Not America – Residente, Ibeyi
Radikalisierter Konservatismus – Natascha Strobl
Auf dem Meer.
Warum Jura?
Meine Entscheidung Jura zu studieren, fiel aus dem Wunsch heraus, Gesellschafts- und Politiksysteme zu verstehen und mitzugestalten. Meine frühe ehrenamtliche Arbeit, das Leben und Arbeiten im Ausland, sowie viele Freundschaften mit Geflüchteten und Menschen aus diasporischen Communities haben mir extreme Ungleichheit im Zugang zu Sicherheit, Teilhabe und Macht aufgezeigt. Ob Prekarisierung, fehlender Zugang zu Unterstützung, Rassismuserfahrungen, tägliche Mikroaggressionen oder Angst im Umgang mit der Polizei und Behörden; die Ausgrenzung kann sich in Europa und Deutschland durch alle gesellschaftlichen Ebenen ziehen.
Diese Symptome der Ausgrenzung haben mir auch gezeigt, wie einseitig Narrative und Deutungshoheiten in Europa geprägt werden und welchen wenigen Gruppen das Privileg erhalten bleibt, ihre eigene Geschichte zu erzählen, anstatt dass über sie berichtet wird. Rechtssysteme formen Machtstrukturen und die oft beschworene "Objektivität" des Rechts habe ich nur sehr selten erlebt. Vor diesem Hintergrund finde ich es faszinierend Recht als Instrument zu nutzen, um zu entmachten, Teilhabe zu fördern und neue Zugänge zu schaffen. Heute kann ich dies praktisch umsetzen.
Zahl meiner Arbeitsstunden pro Woche:
Meine Arbeitszeit variiert stark – je nach Situation zwischen 10 und 80 Stunden. Grenzziehung kann im politischen und humanitären Feld schwerfallen, weshalb sich teilweise keine klaren Arbeitszeiten einhalten lassen. Zudem sind viele meiner Mandant:innen im Laufe der Jahre gute Freund:innen geworden, sodass sich Zeiten zum gemeinsamen Verzweifeln, zum Kraft und Inspiration schöpfen und um neue Ideen auszuhecken, oft vermischen. Aktuell kann ich eine hohe Arbeitsbelastung noch stemmen, hoffe aber in den nächsten Jahren durch bessere Strukturen und größere interdisziplinäre Teams aus engagierten Menschen, mehr Aufgaben teilen zu können und bessere Planbarkeit und dadurch auch Nachhaltigkeit unserer Arbeit zu schaffen.
An meinem Job mag ich:
… die Menschen, die Wirkungsmacht und den hoffnungsvollen Aktionismus. In der Arbeit mit Menschen auf der Flucht und politischen Aktivist:innen sind mir bisher die inspirierendsten, klügsten und einfach nettesten Menschen begegnet. In keiner anderen Station meines Lebens – weder an Universitäten, im öffentlichen Dienst, noch in Großkanzleien oder bei den Vereinten Nationen – habe ich mit so vielen Visionär:innen zusammengearbeitet und so viel Klarheit, Mut und positive Zukunftsbilder erlebt. Daraus ziehe ich Kraft, neue Ideen und Spaß am Gestalten.
An meinem Job nervt mich:
Herausfordernd und nervig finde ich die Diskrepanz zwischen der oft fehlenden politischen und institutionellen Unterstützung von humanitärer Hilfe, Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement einerseits und der gleichzeitigen Romantisierung und Verzerrung ins Heldenhafte durch Teile der Gesellschaft. Anstatt als Held:innen dargestellt zu werden, bräuchten Menschenrechtsanwält:innen, Aktivist:innen, solidarische Menschen und Seenotretter:innen soziale Sicherheit, ein Ende der staatlichen Repression und Kriminalisierung, psychologische Supervision und vor allem echte politische Veränderungen.
Es sollte bei meiner Arbeit aber nicht um mich gehen. Was wir alle und unsere Gesellschaften am dringendsten brauchen, ist ein Fokus auf die Menschen, die die Hauptbetroffenen aktueller repressiver, rechter und diskriminierender Politik sind. Ein Angriff auf die Rechte einer geflüchteten Person, ein Angriff auf die Rechte einer Person, die Bürgergeld bezieht, ein Angriff auf queere Menschen, ist immer auch ein Angriff auf unsere Gemeinschaft, auf ein System, das unser aller Rechte schützen soll und damit immer auch ein Angriff auf uns alle. Was ich mir wünsche, ist eine solidarische und inklusive Politik, die die tatsächlichen Probleme unserer Zeit in den Blick nimmt, Teilhabe ermöglicht und im Sinne von mutual aid zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt.
Das Mandat meines Lebens:
Das prägendste Mandat meines bisherigen Lebens war 2020 in Moria. Im Jahr 2020 war ich als Rechtsanwältin für eine NGO auf Lesbos tätig. Moria war damals das größte Camp für Geflüchtete in Europa. Mit mehr als 13.000 Personen, die das Camp nicht verlassen durften, war es extrem überfüllt und wurde als "Hölle auf Erden" bezeichnet. Ich beriet dort Geflüchtete und solidarische Organisationen. Im September 2020 brannte das Camp fast restlos ab. 13.000 Menschen wurden tagelang von Polizei und Militär auf einem kleinen Straßenabschnitt festgehalten, ohne Zugang zu Wasser, Essen, sanitären Einrichtungen und Medizin. Den Moment, in dem ein friedlicher Protest mit Tränengasgranaten niedergeschossen wurde, werde ich niemals vergessen oder verzeihen. Die deutsche Politik hat damals mitgeschossen und tut es auch heute jedes Mal, wenn sie rechtsradikale und bewegungsfeindliche Positionen übernimmt. Auch, wenn ein Bundeskanzler vom Stadtbild schwadroniert, das nicht seinen rassistischen Vorstellungen entspricht.
Welches Rechtsgebiet wird sich in den nächsten Jahren am stärksten verändern und warum?
Ich bin grundsätzlich eine optimistische Person und bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass genug für alle da ist. Ich glaube demnach auch, dass wir in den kommenden Jahren aufgerufen sein werden, die Widerstandsfähigkeit unserer Systeme und unserer Gemeinschaften zu beweisen.
Dem Wandel des Marktkapitalismus in einen Feudalkapitalismus – wie Georg Seeßlen ihn beschreibt - werden wir funktionierendes und gestärktes Datenschutz-, Wettbewerbs- und Kartellrecht, sowie internationale Rechenschaftspflichten transnationaler Unternehmen und Wirtschaftsakteure entgegensetzen müssen. Der explodierenden sozialen Ungerechtigkeit wird unser Sozial-, Steuer- und Eigentumsrecht die Stirn bieten müssen. Und letztlich werden sich auch Strafverfolgungs- und Verwaltungsbehörden verstärkt als Schutzräume für demokratischen Diskurs verstehen und sich politischen Repressions-, Kriminalisierungs- und Entrechtungsversuchen entgegenstellen müssen.
Mein größtes Vertrauen liegt hierbei aber nicht in der Widerstandsfähigkeit unserer Rechtsordnung, sondern in der Überzeugung, dass insbesondere auf zivilgesellschaftlicher Ebene eine weitere Entrechtung von Mitgliedern unserer Communities und Aushöhlung unserer Rechtssysteme nicht akzeptiert werden und auf Widerstand stoßen wird.
Friedensnobelpreis für Donald Trump?
Frei nach Ash Sarkar: “Only if Satan is unavailable.”
Ein Gesetz, das dringend geändert werden sollte:
Im Sinne des effizienten Grundrechtsschutzes sollte das Recht auf Asyl in die Ewigkeitsklausel und in §§ 96 ff Aufenthaltsgesetz und die auf EU-Ebene zugrundeliegende Facilitation-Directive – durch die in Praxis häufig fliehende Menschen selbst und solidarische Menschen kriminalisiert werden – eine klare Abgrenzung zu humanitärer Hilfe und Unterstützung fliehender Menschen untereinander aufgenommen werden.
Im Sinne des Umweltschutzes und der sozialen Sicherheit sollte eine Ökologiepflichtigkeit des Eigentums in Art. 14 Grundgesetz aufgenommen werden und § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung so geändert werden, dass Popularklagen in Umweltangelegenheiten möglich werden.
Zu guter Letzt wäre zum Demokratieschutz § 42 Bundesverfassungsgerichtsgesetz so zu ändern, dass ein Parteiverbotsverfahren unter bestimmten Umständen eingeleitet werden muss.
Meine letzte Frage an ChatGPT:
“Welche Frage würdest du dir selbst stellen?”
Braucht das Völkerrecht eine Reform und wenn ja: welche?
Ja, es braucht eine Dekolonisierung internationaler Institutionen, eine Stärkung und konsequentere Nutzung des Weltrechtsprinzips, eine Ausweitung und Aktualisierung der Fluchtgründe, die konsequente Verfolgung von Kriegsverbrechen, klare Verpflichtungen zur Klimagerechtigkeit, Reparationsmechanismen und nicht zuletzt ein Bekenntnis westlicher Staaten zur konsequenten und absoluten Einhaltung völkerrechtlicher Normen.
Eine Vorlesung, die Jura-Studierende auf keinen Fall schwänzen sollten:
Sicherlich alles von Isabel Feichtner (Universität Würzburg) zur politischen Verfassungsrechtswissenschaft, zum Recht der commons, und ihrer Law Clinic Transformationsrecht, Andreas Fischer-Lescano (Universität Kassel) zum transnationalen Recht und dem Kampf um globale soziale Rechte und Andreas Gutmann (Universität Kassel) zu Rechten der Natur und postkolonialen Perspektiven.
Diese Juristin oder diesen Juristen müssen die LTO-Leser kennenlernen:
Lea Beckmann, aktuell Grundsatzreferentin bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, weil sie als kluge und besonnene Juristin unter anderem zu Racial Profiling, Polizeirecht und dem Diskiminierungsschutz im Bereich staatlichen Handelns arbeitet und dabei stets einen klaren Blick auf Rechtstaatlichkeit, Grundrechte und die verfassungsrechtliche Bedeutung des Diskriminierungsverbots beweist.
Mehr Most Wanted? Tom Braegelmann | Incoronata Cruciano | Joachim Ponseck | Marc Roberts | Maximilian Riege | Fatima Hussain | Anne Graue | Victoria Fricke | Ann-Kathrin Ludwig | Stephanie Beyrich | Christiane Eymers | Martina Rehman | Martina Flade | Saskia Schlemmer | Marco Buschmann | Neda Wysocki | Anosha Wahidi | Gregor Gysi | Dirk Wiese | Konstantin von Notz | Sabine Stetter | Katharina Humphrey | Jutta Otto | Hanno Kunkel | Alfred Dierlamm | Mohamad El-Ghazi | Jan Philipp Albrecht | Helene Bubrowski | Ali B. Norouzi | Naila Widmaier | Andrej Umansky | Tijen Ataoğlu | Philippos Botsaris | Ralf Leifeld | Holger Dahl | Herta Däubler-Gmelin | Volker Römermann | Jerry Roth | Sebastiaan Moolenaar | Eckart Brödermann | Dominique Grüter | Ronska Grimm | Die Übersicht mit allen bisher veröffentlichten Ausgaben finden Sie hier.
Köpfe: . In: Legal Tribune Online, 24.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58441 (abgerufen am: 14.11.2025 )
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