Die Kanzleigründungsrate unter Junganwälten tendiert gen Null, doch manche lassen sich vom Risiko nicht abschrecken. Sie wollen selbstständig arbeiten – zum Beispiel im fahrenden Anwaltsmobil oder inmitten einer Kunstgalerie.
Das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie schmückt den weißlackierten UPS-Wagen. Juliette Descharmes lenkt das Steuer, Kanzleipartner Dominik Güneri sitzt neben ihr auf dem Beifahrersitz. So zeigen sich die beiden Junganwälte auf ihrer Kanzleiwebseite. Innen im Bus ein großer Bildschirm, Tastatur, Locher - ein voll ausgestatteter mobiler Schreibtisch mit Empfangstresen für Mandantengespräche.
"Bei uns steht der Gedanke der Mobilität und die direkte Beratung der Mandanten im Vordergrund", erzählt Rechtsanwältin und Kanzleigründerin Descharmes. "So entwickelten wir die Idee der mobilen Rechtsberatung. Doch was jetzt so zielstrebig klingt, war für uns ein kreativer Weg, um alte Kanzleistrukturen zu durchbrechen, denen wir uns irgendwann nicht mehr unterwerfen wollten."
2011 gründeten die beiden Junganwälte ihre Kanzlei Descharmes & Güneri Rechtsanwälte in Pforzheim. Zuvor verbrachten sie jeweils einige Monate in mittelständischen Kanzleien in Berlin und Rheinland-Pfalz. Abgeschreckt von den strengen Hierarchien und dem engen Erwartungskorsett der Partnerriege kehrten beide nach Pforzheim zurück und gründeten selbst. Doch anfangs war noch nichts zu spüren von der großen Freiheit.
Im Gegenteil: "Ich ging vom ersten Tag an mit dem Anzug ins Büro, obwohl ich kaum Mandanten hatte", erinnert sich Kanzleigründer Güneri. "Dem Bild, das ich von Anwälten im Kopf hatte, wollte ich unbedingt entsprechen, um von Mandanten und Kollegen entsprechend wahrgenommen zu werden."
Das fahrende Anwaltsmobil
Ein klares Kanzleikonzept hatten die beiden Anwälte bei der Gründung noch nicht. Descharmes absolvierte einen Fachanwaltskurs im Strafrecht - überflüssig, findet sie heute. Auch Güneri arbeitete Strafrechtsfälle ab, bis die Unzufriedenheit zu groß wurde. Er sagt: "Unter anderem durch die Strafrechtsfälle meiner Kollegin kam für uns ein Gefühl der Fremdbestimmung auf. Denn wenn wir Mandantenwünsche umsetzten, hinter denen wir nicht selbst standen, hat das zu inneren Konflikten geführt. Außerdem haben mich manche Streitigkeiten persönlich belastet."
Die beiden gingen in eine innere Klausur, analysierten den Ist-Zustand und überlegten, wie sie ihre Jurakenntnisse mit persönlichen Stärken verbinden konnten. "Ich hatte schon immer einen großen Freiheitsdrang und fuhr gern mit meiner Familie in einem VW-Bus zum Surfen", erzählt Descharmes. "Als ich einmal auf einem Campingplatz stand, dachte ich mir, dass ich ja eigentlich auch direkt dort Rechtsberatung anbieten und Geld verdienen könnte." Die Idee des fahrenden Kanzleimobils war geboren. Als sie einen Vortrag über Crowdfunding hörte, wusste sie, wie sie die Idee umsetzen konnte. Das Thema Patientenverfügungen und -vollmachten, welches heute ihren Schwerpunkt ausmacht, kam über einen Zufall zu ihr. Plötzlich passte alles: Eine Beratung, die auf dem persönlichen, vertrauensvollen Austausch mit Mandanten basiert, flexibel und mobil gestaltet durch einen aufgerüsteten UPS-Wagen.
Auch Güneri fand zurück zu seinen Leidenschaften: Kino und Film sowie Architektur hatten ihn in früheren Jahren begeistert. Und so spezialisierte er sich auf Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz sowie IT-Recht. "Eine gute Idee allein kann vielleicht ausreichen", sagt Kollegin Descharmes. "Unsere Crowdfunding-Kampagne hat dem Projekt jedoch einen zielgerichteten Rahmen gegeben und wir waren gezwungen, alles zu durchdenken und unsere Familien und Freunde voll mit einzubinden. Das hat uns bei der Umsetzung sehr geholfen und motiviert."
Und noch etwas macht die Arbeit der Anwälte aus: Sie setzen auf Zusammenarbeit anstatt auf Einzelkämpfertum. "'Willkommen im Haifischbecken!', hieß es damals, als Juliette Descharmes mit Strafrecht in Pforzheim anfing", erinnert sich Güneri. "Doch das wollten wir nicht. Wir suchen über unsere Pegasus-Plattform Kollegen, die zu unserem Konzept und vor allem auch menschlich zu uns passen. Niemand nimmt hier jemandem etwas weg, wir ergänzen uns und bringen Schwung in den Anwaltsbereich."
2/2: Start-Up-Feeling und Kunstgalerie
Der Gemeinschaftsgedanke ist auch bei der Kanzlei KTR in Leipzig stark ausgeprägt. So sehr, dass die beiden Gründer Kilian Springer und Tim Schneidewind sogar ihre Schreibtische räumen und ihr Kanzleibüro Künstlern überlassen, die dort ihre Werke ausstellen. "Freitags und samstags wird unsere Kanzlei zur Galerie", erklärt Springer das Konzept. "Dann bespielen die Künstler unsere Räume." Die beiden Anwalts-Schreibtische fallen kaum auf, Akten lagern in abschließbaren Räumen außer Sichtweite. "So begegnen wir unseren Mandanten auf Augenhöhe. Wenn diese unsere Kanzlei betreten, stehen sie nicht vor einem Empfangstresen, sondern mitten im offenen Ausstellungs- und Büroraum."
Ein anwaltliches Start-Up, das war ihre Vision. Ein Industrieloft mit zwei Schreibtischen und einer Playstation, sonst nichts. Doch das kam ihnen zu kahl vor, also entstand die Idee von Bildern, von wechselnden Bildern, also von Ausstellungen - und schließlich der Galerie. Und da Springer in früheren Jahren in der Kulturszene unterwegs war, spezialisierte er sich auf Kunst- und Urheberrecht. Gründungskollege Schneidewind blieb seinem Bereich Arbeitsrecht treu und ist zusätzlich im Kunst- und Medienrecht aktiv.
"Die Bank hat zuerst abgewunken. Wer eine Kanzlei gründen möchte, hat normalerweise keine Chance auf einen Kredit", erinnert sich Springer an die Anfangsphase. "Unser Business-Plan war vollgestopft mit neuen Ideen zum Online- und Offline-Marketing als Vertriebsweg. Der Schwerpunkt liegt auf Social Media und der Kunstgalerie als zentraler Ort für unser Netzwerk." Darüber hinaus hatte die Spezialisierung auf das Kunstrecht die Kreditgeber überzeugt.
Authentisches, spontanes Marketing
Mit dem Geldvorschuss in der Tasche konnten die beiden Anwälte ihr Galerie-Kanzlei-Konzept umsetzen. Die Mandatsakquise per Social Media läuft, sie filmen Live-Videos auf Facebook, sind auf Youtube, Tumblr und anderen Online-Kanälen vertreten. "Wir probieren uns gern aus und machen einfach. Manches funktioniert gut, anderes nicht. Dann lassen wir es wieder", sagt Gründungspartner Schneidewind. Unverbissen, authentisch und im direkten Dialog mit Interessenten ist das, was ihr Marketing von den ausgeklügelten Strategien etablierter Einheiten unterscheidet.
"Wir sprechen damit nicht nur junge Menschen an - erstaunlicherweise", fügt Schneidewind hinzu. "Auch ältere Mandanten, die eine andere Art der Rechtsberatung suchen, kommen zu uns." Die Freiheit, über die Arbeitsstrukturen allein zu entscheiden, nutzen die Kanzleipartner auch für die eigene Familienfreundlichkeit aus. Beide sind Väter und bringen ihre Kinder öfters mit ins Büro und richten sich flexibel nach den Öffnungszeiten der Betreuungseinrichtungen. Sie möchten nicht, dass die Arbeitszeit ihren Tagesablauf bestimmt. Für sie ist es eben nur ein Faktor neben Familie und Freizeit.
Ein anderer Vorteil ist die berufliche Entscheidungsfähigkeit. "In einer kleinen Spezialeinheit wie der unseren setzen wir neue Ideen relativ rasch um. Als Angestellter in einer großen, behäbigen Kanzlei ist das nicht möglich", so Schneidewind. Für beide Anwälte steht die Freiheit im Vordergrund, für sie ein ursprünglicher Wesenszug, der freiberufliche Anwälte auszeichne. So ganz verstehen sie daher nicht, warum viele ihrer Altersgenossen in Angestelltenverhältnisse flüchten.
"Die Zukunft wird anders aussehen"
Momentan arbeiten Schneidewind und Springer daran, neben dem Kunstrecht das Thema Arbeiten 4.0 als Fokus herauszuarbeiten. Sie laden zu Talkrunden in ihre Kanzleiräume ein, organisieren Diskussionspanel mit Leipziger Coworking-Anbietern und bloggen dazu auf ihrer Webseite.
Die Zukunft der Anwaltschaft ist für Springer noch völlig offen: "Heute versucht man mit Legal Tech, die Anwälte überflüssig zu machen. Doch ich denke, dass die Zukunft anders aussehen wird." Er möchte auf Augenhöhe mit seinen Mandanten gemeinsam an einer Sache arbeiten und die Beratung wieder in den Mittelpunkt stellen. "Aktuell kann Legal Tech kaum mehr, als für einen einfacheren Zugang der Anwälte zu ihren Mandanten zu sorgen. Wir nutzen lieber Chatsysteme wie Slack mit unseren Mandanten oder richten diesen eigene Cloud-Zugänge ein." Für Springer und die anderen Gründer ist die Zukunft in jedem Fall digital, aber nicht gesichtslos.
Désirée Balthasar, Kanzleien als Start-Ups: "Wir probieren uns gern aus und machen einfach" . In: Legal Tribune Online, 20.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22681/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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