Rund 2.000 Billable Hours sollen Anwälte in Großkanzleien pro Jahr produzieren, ihre Kollegen in mittelständischen Kanzleien schaffen oft nur die Hälfte davon. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Ein Kommentar von Bernfried Rose.
Rund 1.000 abgerechnete Stunden im Jahr – das schaffen Wirtschaftsrechtler in unserer Kanzlei durchschnittlich. Wenn Sie in einer Großkanzlei tätig sind, empfinden Sie jetzt vermutlich irgendetwas zwischen Verwunderung und Mitleid. Bei Ihnen müssen schon viele Berufsanfänger 1.500 oder mehr "Billable Hours" produzieren. Jetzt lese ich, dass die Grunderwartung in zahlreichen Kanzleien bei "deutlich mehr als 2.000 Billable Hours" liegt.
Da würden wir auch gerne hinkommen, wenn wir nur wüssten wie. Dabei sind unsere Voraussetzungen gar nicht so schlecht. Der typische Anwalt unserer Kanzlei ist Fachanwalt mit mehr als fünf Jahren Berufserfahrung, betreut Mittelständler, arbeitet Vollzeit und hat in der Regel mehr Mandatsanfragen als er annehmen kann. Trotzdem nur rund 1.000 Billable Hours. Was läuft schief bei uns?
Problem: der Acht-Stunden-Tag
Starten wir unsere Analyse mit nackten Zahlen. Das Jahr hat 52 Wochen. Zieht man davon sechs Wochen Urlaub, zwei Wochen für Feiertage, eine Woche für Fortbildungsveranstaltungen, Seminare, Kanzleiveranstaltungen, Betriebsausflüge etc. ab, verbleiben etwa 43 Wochen. Berücksichtigt man noch eine Woche Ausfall durch Erkrankung (der Durchschnittswert liegt bei zwei Wochen), landet man bei 42 effektiven Arbeitswochen eines Anwalts.
Bei einer Fünf-Tage-Woche und der gesetzlichen Höchstarbeitszeit von täglich durchschnittlich acht Stunden kommt man auf eine jährliche Arbeitszeit von 1.680 Stunden. Wir kontrollieren die Einhaltung der 40-Stunden-Woche mit einer Zeiterfassung. Erfordert ein Mandat Überstunden, werden diese bei nächster Gelegenheit abgefeiert. Sie sehen schon – so wird das bei uns nichts mit den 2.000 Billable Hours.
Vermutlich nutzen hier die Großkanzleien die Möglichkeit des Arbeitszeitgesetzes, von einer Sechs-Tage-Woche auszugehen, obwohl der Samstag auch dort vielleicht gar kein regulärer Arbeitstag ist. Mit diesem Trick könnten auch wir die zulässige Anwesenheitszeit auf 2.016 Stunden erhöhen.
Der Unterschied zwischen Anwesenheit und Billable Hours
Damit ist das größere Problem aber noch nicht aus der Welt. Und dieses ist hausgemacht: Bei uns wird dem Mandanten nur die Zeit in Rechnung gestellt, die wir mit der Bearbeitung seines Auftrags verbringen. Leider gibt es eine schrecklich lange Liste mehr oder weniger unvermeidbarer Tätigkeiten, die nicht dazu gehören. Hier einige Beispiele:
- Akquise, zum Beispiel durch Vorträge, Fachveröffentlichungen oder ein Abendessen mit dem Mandanten
- Mandatsanbahnung: Es sind Anfragen per Telefon oder Email zu beantworten, Konditionen müssen verhandelt werden, es gilt, Vorgaben für die Aktenanlage zu erstellen und so weiter.
- Laufende Fortbildung: etwa durch das Studium von Fachzeitschriften oder juristischen Newslettern
- Mandatsverwaltung: Mitwirkung bei der Rechnungserstellung oder Inkasso etc.
Summiert man diese Tätigkeiten auf mindestens sechs Stunden pro Woche, schrumpfen die möglichen abrechenbaren Stunden schon wieder auf 1.764 jährlich.
2/2 Kaffee, Klo & Co. – die Zeitfresser im Kanzleialltag
Damit nicht genug. Bis Legal Tech endlich künstliche Intelligenz in unsere Kanzlei bringt, muss die Rechtsberatung bei uns durch menschliche Anwälte erbracht werden. Die kommen morgens ins Büro, müssen ihren PC hochfahren, erstmal ihre Notdurft verrichten und sich dann in der Küche einen Kaffee holen. Auf dem Weg dorthin begrüßen sie ihre Kollegen und erörtern vielleicht noch, ob der HSV in diesem Jahr endlich absteigt.
Später ruft dann noch mitten am (Arbeits-)Tag der Ehegatte an und belästigt den Anwalt mit privater Familien-Orga. Ich habe sogar schon Anwälte gesehen, die einige Minuten verträumt aus dem Fenster geguckt haben, weil sie an dem Tag nicht so glücklich oder besonders glücklich waren.
Nichts von diesen menschlichen bzw. sozialen Zeitfressern können wir unseren Mandanten in Rechnung stellen. Selbst bei einem introvertierten Jura-Nerd aus dem Back-Office sinken die Billable Hours so schnell auf unter 1.500 im Jahr.
Straftäter in Anwaltsroben?
Zu guter Letzt sind wir noch so verrückt, gelegentlich „Geschenke“ an die Mandantschaft zu verteilen. Da fallen Stunden unter den Tisch, weil man den Aufwand gegenüber dem Mandanten zu niedrig eingeschätzt hat, weil man sich doch einmal über Gebühr in ein Thema einlesen musste oder weil die wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten oder die Gebote der Fairness es schlicht so erfordern. Und irgendwann bleibt halt fast nichts mehr übrig von den Billable Hours.
Was uns jedoch bleibt ist folgende Erkenntnis: Selbst mit Anwälten, die präzise und anspruchslos wie Maschinen arbeiten, würden wir es nicht schaffen, in eine Größenordnung von 2.000 abrechenbaren Stunden zu stoßen. Dazu müssten wir vermutlich sowohl unsere Mandanten betrügen – indem wir ihnen Arbeit in Rechnung stellen, die strenggenommen nicht abrechenbar ist – als auch so beharrlich gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, dass wir verantwortlichen Partner uns strafbar machen würden.
Wie die Großkanzleien das dennoch hinbekommen, obwohl für sie doch die gleichen Spielregeln gelten sollten, bleibt mir ein Rätsel.
Bernfried Rose ist namensgebender Partner der mittelständischen, auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Kanzlei Rose & Partner in Hamburg.
Bernfried Rose, Arbeitszeiten in Kanzleien: Unerreichbare Stundenvorgaben? . In: Legal Tribune Online, 06.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23109/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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