ChatGPT liefert ein Amuse-Gueule für Anwendungsmöglichkeiten, die sich mit Künstlicher Intelligenz eröffnen. Kann Software ein adäquater Ersatz für Anwälte und Richter sein und ist ein solches Szenario überhaupt wünschenswert?
Künstliche Intelligenz (KI) wird auch in der Rechtsberatung und Rechtsprechung Akzente setzen - dazu herrscht weitgehend Einigkeit. Leidenschaftlich gestritten wird darüber, wie tiefgreifend die Veränderungen ausfallen werden. Der Leistungsstand des Bots ChatGPT schafft eine Diskussionsgrundlage und regt die Fantasie an. Wiegt sich die Anwaltschaft bei ihrer Annahme, Empathie werde sie davor beschützen, durch Software ersetzt zu werden, in falscher Sicherheit?
Empathie gilt, insbesondere in der Rechtsprechung, als menschliche Kernkompetenz und wichtiges Abgrenzungsmerkmal gegenüber softwarebasierten Dialogsystemen. Befragt man ChatGPT nach dessen empathischen Fähigkeiten, werden vorhandene Defizite erfrischend offen eingestanden:
"Als künstliche Intelligenz habe ich keine Emotionen oder Empfindungen wie ein menschliches Wesen. Ich wurde jedoch entwickelt, um auf bestimmte Weise zu reagieren, um menschenähnliche Antworten zu geben, die auf den Eingaben basieren, die ich erhalte. (…) Während ich nicht wirklich empathisch bin, kann ich eine gewisse emotionale Intelligenz aufweisen, um eine angemessene und empathische Antwort zu geben."
ChatGPT kann es durchaus gelingen, Formulierungen zu wählen, die KI empathisch wirken lassen. Hierin liegt ein Potential, das in seinen Auswirkungen noch nicht abschätzbar ist.
Rechtsanwendung bedarf nicht nur des Verständnisses von Regeln und der Fähigkeit zu subsumieren. Vielmehr geht es darum, Interessenlagen zu verstehen, ein Gerechtigkeitsempfinden zu entwickeln und diese individuelle Empathie im Fluss gesellschaftlicher Entwicklungen abzubilden. Juristisches Verhandeln und Entscheiden ist kein rein ergebnisorientierter Vorgang, sondern erfordert Empathie - nicht nur in Form von theoretischen sprachlichen Fähigkeiten, sondern in Form eines intuitiven Verstehens der Lage einer Person mit allen Sinnen.
KI und Kreativität
Ein weiteres Wesensmerkmal menschlicher (und juristischer) Intelligenz ist die Kreativität. Auch in diesen Bereich ist KI mittlerweile weit vorgedrungen. Wer ChatGPT im juristischen Bereich zum Brainstormen einsetzt, merkt schnell, dass die Software über weitreichende Fähigkeiten verfügt, Kreativität durch Ideensammlungen zu unterstützen, auch wenn man den dort präsentierten Informationen (noch) nicht unbesehen vertrauen kann.
Primär basiert KI auf der Funktion, bestehendes Wissen und bestehende Logik anzuwenden. Eine Verbesserung der Logik ermöglicht es, dass Rechtsregeln schneller und präziser angewandt werden - es handelt sich ja um selbstlernende Programme. Normative Rechtsfortbildung findet aber nicht statt. Eine KI-Anwendung kann juristische Texte schreiben, aber keine juristischen Meinungen prägen, geschweige denn mit diesen überzeugen.
Kein reiner Subsumtionsautomat zu sein, ist künftig ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal menschlicher Fähigkeiten gegenüber der KI. Ein Richter oder eine Richterin (aber auch Vertreter anderer juristischer Berufe) könnte mit einem Subsumtionsautomat Synergien heben und sich auf das fokussieren, was über die bloße Rechtslogik hinausgeht.
Ist eine KI-basierte Entscheidungsfindung erstrebenswert und ethisch?
Neben der Frage, ob KI Juristinnen und Juristen ersetzen kann, stellt sich die Frage, ob sie dies auch soll. KI trägt die Unconscious Bias, also unbewusste Denkmuster und Vorurteile der Menschen in sich, die sie programmiert und trainiert haben. Auch die Nutzung der Software trägt zu deren Weiterentwicklung bei. Zu begrüßen wäre eine KI-basierte Entscheidungsfindung dann, wenn sie weniger Bias unterliegt, als ein Mensch, der die Entscheidung alternativ treffen würde.
Stand heute sind KI-Anwendungen wie ChatGPT zu ethischen Entscheidungen nicht in der Lage. So kann die Software bei einer Erwägung zum Schutz eines Lebens beispielsweise nicht zwischen Mensch und Tier unterscheiden. Dies sagt aber nichts über eine grundsätzliche Eignung von KI zur Unterstützung bei ethischen Entscheidungen. Sofern die KI im Hinblick auf Unconsciouos Bias trainiert wird und ihre Entscheidung in den einzelnen Schritten nachvollziehbar ist sowie diese Entscheidung einer menschlichen Prüfungsinstanz unterliegt, könnte KI durchaus einen Grad an Objektivität liefern, den menschliche Entscheidungen nicht erreichen.
Eine zentrale Hürde für die Rechtsanwendung durch KI ist deren fehlende demokratische Legitimierung. Das Grundprinzip einer rechtsstaatlichen Ordnung wird erschüttert, wenn die Schaffung und Fortbildung des Rechts nicht mehr durch demokratisch legitimierte Organe (und einen vorherigen Diskurs) erfolgt. Wenn KI durch automatisierte Rechtsanwendung unweigerlich Rechtsfortbildung betreibt, fehlt es an Akzeptanz.
Hinzu kommen die heute verbreitete Manipulierbarkeit und mangelnde Transparenz von Algorithmen. Nicht umsonst stuft der AI-Act der Europäischen Union künstliche Intelligenz in bestimmten Bereichen als Risikoanwendung ein. Selbst rein mathematische und datenbasierte Wahrscheinlichkeitsprognosen können im Einzelfall fehlerhaft bewertet sein. Man denke hier an eine richterliche Rückfallprognose für einen Straftäter in Resozialisierung.
Alltagsaufgaben können hingegen von KI übernommen werden, sofern keine Wertentscheidungen zu treffen sind. Die Erstellung eines Vertrages anhand vorformulierter Standardklausel dürfte kaum Bedenken begegnen, solange die im Vertrag zum Ausdruck gebrachten Entscheidungen weiterhin von Menschen definiert sind.
Veränderungen für den Berufsstand und den juristischen Arbeitsmarkt
KI definiert die Zukunft des Anwaltsmarktes schon jetzt. Veränderungen für den Berufsstand sind nicht mehr eine Frage des Ob, sondern nur des Wann. Kanzleien und Rechtsabteilungen werden die Möglichkeiten von KI nutzen, sobald sich hierdurch Kosten und Ressourcen sinnvoll einsparen lassen. KI stellt die juristische Branche auf die Probe: Ist die Berufsgruppe flexibel genug um sich neu zu erfinden? Um die Bedeutung des Berufsstands zu erhalten - vielleicht sogar zu steigern - müssen Kanzleien die neuen technologischen Möglichkeiten in ihre DNA integrieren. Digitalisierung muss ein Anliegen des Managements werden. Bei der Entwicklung von KI-Tools müssen Kanzleien die höchste Qualität der juristischen Beratung sicherstellen, denn später wird der einmal vorgegebene Input wieder und wieder zur Anwendung gelangen.
Die größten und nützlichsten Auswirkungen bietet KI im Bereich der Automatisierung. Dabei geht es nicht nur um repetitive Vorgänge wie das Erstellen von Registereinträgen, hierfür braucht es keiner selbstlernenden Programme, also keiner KI. Sich selbst verbessernde Software wird im Zwischenbereich zwischen repetitiven und kreativen Aufgaben an Bedeutung gewinnen. Das ist überall dort der Fall, wo Automatisierung zwar komplex, aber eben nicht wertend oder kreativ ist. Als Tool für Recherche, Zusammenfassungen und Vertragserstellung wird KI auch kurzfristig den anwaltlichen Alltag beeinflussen.
Mittelfristige Änderungen wird es im Bereich der Juristischen Ausbildung brauchen. Wissensvermittlung muss in den Hintergrund treten. Vordergründig muss es um das Verständnis juristischer Grundsätze und die Fähigkeit zu Kommunikation und Verhandlung gehen. Jura muss auch das Verständnis für eine neue Herausforderung schaffen: Antworten auf den digitalen Wandel der Gesellschaft zu finden und auszugestalten. Diese Aufgabe wird uns KI nicht abnehmen.
Durch den Einsatz von KI werden Aufgaben und in der Folge auch Arbeitsplätze wegfallen. Vor allem im Bereich der Assistenz, Recherche und Vertragsgestaltung wird es weniger menschliche Kapazitäten brauchen. Zugleich schafft der digitale Wandel aber auch neue Einsatzfelder. Hier sind insbesondere Bereiche wie Legal Prompt Engineering oder Legal Design zu nennen, deren Potenzial noch nicht ansatzweise ausgeschöpft ist.
Mehr Evolution als Revolution
Die juristische Berufsgruppe wird ihre Strukturen neu definieren müssen - besonders in den Bereichen der Beratung, die unabhängig vom Justizsystem sind. Große Teile juristischer Arbeit können durch KI unterstützt, manche sogar ersetzt werden. ChatGPT liefert hierfür einen ersten Impuls, spezielle KI-Modelle für den juristischen Bereich gehen in ihren Fähigkeiten bereits darüber hinaus.
KI wird zu einer Disruption in der Anwaltschaft führen, die aber weniger Verdrängung, als vielmehr Veränderung bedeutet. Als Hilfsmittel wird KI die anwaltliche Praxis ergänzen und prägen. Juristinnen und Juristen müssen ihre Fähigkeiten und Kompetenzen stärken, die sie über KI als Subsumtionsautomat stellen.
Kanzleien stehen derweil vor der Abwägung, in welchem Maß sie bereit sind, Investitionen zu tätigen und wirtschaftliche Risiken einzugehen. Mit KI schlägt eine neue Zeitrechnung für die Anwaltschaft. Wer sich nicht auf die neuen technologischen Möglichkeiten einlässt, wird den Anschluss verlieren.
Dr. Nadine Lilienthal ist Anwältin, Podcast-Host und war unter anderem für Allen & Overy sowie als General Counsel bei GetYourGuide tätig. Sie ist Mitgründerin des New Legal Network und von Legaleap.
Dr. Stephan Bücker ist Rechtsanwalt und Gründungspartner der auf die Beratung zu Corporate/M&A, Venture Capital, Media/Entertainment und das geistige Eigentum spezialisierten Kanzlei Baer Legal. Rechtsanwalt Dr. Christian Herles gehört der Kanzlei als Salary Partner an.
Einfluss von ChatGPT & Co. auf Rechtsberatung und Justiz: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51654 (abgerufen am: 11.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag