Atomenergie und fossiles Gas können in Europa künftig als "ökologisch nachhaltig" gelabelt werden. Halb Europa jubelt, die andere Hälfte ist konsterniert. Simone Lünenbürger liefert den Kontext zur Abstimmung im Europaparlament.
Das kleine Wort "Taxonomie" kommt unscheinbar daher, hat aber Großes im Sinn. Der Ursprung ist Altgriechisch: τάξις táxis heißt "Ordnung" und νόμος nómos "Gesetz". In Europa steht dies für eine europäische Ordnung der transparenten Finanzierung des European Green Deal. Wo Grün draufsteht, soll auch Grün drin sein.
Das kleine Einmaleins der Taxonomie
Die Verordnung (EU) 2019/2088 (Taxonomie-VO) regelt die europaweit einheitliche Definition und Kennzeichnung ökologisch nachhaltiger Wirtschaftsbereiche für die Finanzmärkte und private Investitionen. Investoren und Anleger sollen informiert agieren können und kein "Greenwashing" befürchten müssen. Diese Verlässlichkeit soll den Privatsektor für die Finanzierung der ökologisch nachhaltigen Entwicklung in Europa mobilisieren. Die Taxonomie wird als tragende Säule für die Finanzierung des European Green Deal insgesamt angesehen.
Die Konsistenz des europäischen Rechts gebietet zudem, die Taxonomie auch für Finanzierungsmaßnahmen aus dem EU-Budget, staatlicher Investitionsbanken oder durch Staatsbeihilfen zu nutzen. Letzteres ist in den neuen Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien bereits ausdrücklich geregelt (Randnummer 72).
Das System scheint einfach: Eine Wirtschaftstätigkeit ist ökologisch nachhaltig, wenn sie einerseits einen substantiellen Beitrag zu einem Umweltziel leistet. Andererseits darf sie nicht zugleich andere Umweltziele wesentlich beeinträchtigen, also z.B. nicht die Umwelt verschmutzen oder Ökosysteme zerstören. Dieses zweite Kriterium heißt "do no significant harm" (DNSH).
Die Kommission liefert die Vorlage
Die Kommission hat am 9. März dazu die ergänzende delegierte Rechtsverordnung C(2022)631 final vorgelegt, die es in sich hat. Danach sollen auch fossiles Gas und Atomenergie unter bestimmten Bedingungen das Klima schützen und ökologisch nachhaltig nutzbar sein - jedenfalls als sogenannte Übergangstätigkeiten.
Im Vorfeld ihrer Entscheidung hat die Kommission ein wissenschaftliches Gutachten bei der sogenannten Technical Expert Group (TEG) eingeholt. Die TEG hat zu fossilem Gas eine eindeutige Aussage getroffen. Für einen Klimaschutzbeitrag müsse ein Grenzwert von <100 g CO2e/kWh eingehalten bzw. dieser in Schritten von jeweils fünf Jahren auf 0 g CO2e/kWh im Jahr 2050 reduziert werden. Dieser Grenzwert ist dem Vernehmen nach nur mit teurer Technik wie etwa Carbon Capture Storage (CCS) erreichbar.
Zur Kernenergie hat sich die TEG dagegen nicht festgelegt. Sie sah noch Prüfungsbedarf, vor allem bezüglich der DNSH-Kriterien.
Die Kommission hat daraufhin bezüglich der Kernenergie diverse wissenschaftliche Gutachten eingeholt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Gegen die Einbeziehung von Kernenergie wendete sich unter anderem die von der Taxonomie-VO selbst als Beratungsorgan installierte sogenannte Plattform für nachhaltiges Finanzwesen.
Im Vorfeld der Entscheidung sind auch Staatschefs tätig geworden. So erinnerte etwa ein Brief des französischen Staatschefs Emmanuel Macron und sechs osteuropäischer Staatschefs die Kommissionspräsidentin van der Leyen an den Euratom-Vertrag. Die Staatschefs forderten unter anderem ein, dass die europäischen Institutionen die Entwicklung der Kernenergie in Europa zu unterstützen hätten.
Der russische Staatskonzern Rosatom sieht in der europäischen Taxonomie einen wichtigen Fortschritt, Nuklearenergie als sichere und nachhaltige Energiequelle anzuerkennen. Das verwundert nicht, denn nach Angaben der World Nuclear Association sind mittel- und osteuropäische Länder nicht nur von russischem und kasachischem Uran (40 % der Lieferungen), sondern auch von russischer Nukleartechnologie bzw. Uranaufbereitungstechnik abhängig. Demnach soll es in 18 EU-Ländern russische Reaktoren geben. Rosatom kooperiert zudem nach eigenen Angaben auch mit dem französischen Konzern EDF.
Was genau hat die Kommission entschieden?
Im Fall der Kernenergie werden von nun an drei Wirtschaftstätigkeiten als ökologisch nachhaltig angesehen: Forschungsanlagen mit "minimalem Abfall aus dem Brennstoffkreislauf", bis 2045 genehmigte Neuanlagen und bis 2040 genehmigte Änderungen an Altanlagen, auch mit Laufzeitverlängerungen. Dazu müssen die Anlagen bestimmte Auflagen erfüllen bzw. Monitoring-Prozesse durchlaufen.
Für Neu- und Altanlagen gehört zu den Auflagen, dass ab 2025 "unfalltoleranter Brennstoff" eingesetzt wird. Dieser wird durch nationale Aufsichtsbehörden zu definieren und zu zertifizieren sein. Zudem ist ein detaillierter Plan für die Inbetriebnahme für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle bis zum Jahr 2050 vorzulegen. Diese Bedingung gilt allerdings nicht für Altanlagen, deren Änderungen bis 2025 genehmigt werden.
Für fossiles Gas unterscheidet die Kommission ebenfalls drei Wirtschaftsbereiche: Stromerzeugung, hocheffiziente Kraft-Wärme/Kälte-Koppelung und effiziente Fernwärme- und Fernkältesysteme. Vor allem die allgemeine Stromerzeugung ist Stein des Anstoßes. Ökologische Nachhaltigkeit erlaubt nach der Regelung der Kommission direkte Emissionen bis 270 g CO2e/kWh oder 550 kg CO2eE/kW in zwanzig Jahren. Der zuletzt genannte Grenzwert gestattet also in den ersten Betriebsjahren noch über 270 g hinausgehende direkte Emissionen, weil über zwanzig Jahre ein Durchschnitt gebildet werden kann. Das gilt jedenfalls für Anlagen, die bis 2030 genehmigt sind, ab 2035 auf erneuerbares oder sogenanntes Low-Carbon-Gas umgestellt werden und noch einige weitere Bedingungen erfüllen.
Wann ist Grün doch nicht Grün?
Die Kommission hat für diese Entscheidung Beifall erhalten, aber auch Kritik einstecken müssen. Für fossiles Gas wird vor allem der wesentliche Klimaschutzbeitrag in Frage gestellt. Für Kernenergie stehen Unfallrisiken und Abfallproblematik und damit die DNSH-Kriterien im Fokus. Mit Blick auf die Kernenergie steht zudem der Verdacht im Raum, sie könne weniger als Übergangs-, denn als Dauerlösung für Europa gedacht sein.
Insgesamt reicht die Kritik von der Unvereinbarkeit der Kommissionsentscheidung mit der Taxonomie-VO selbst bis zu der Frage, ob die als ökologisch nachhaltig anerkannten Anlagen überhaupt Beiträge zu dem Klimapfad der Union mit den Klimazielen 2030 und 2050 leisten können – wenn sie noch bis 2030, 2040 oder 2045 genehmigt und danach gebaut werden können, bevor sie rund 30 Jahre laufen. Daneben müssen wichtige, konkrete Kriterien erst in der Zukunft erfüllt werden. Die Anlagen gelten aber bereits heute als ökologisch nachhaltig. Die Finanzierung wird damit ex nunc gesichert, aber Sicherheit oder einen Sanktionsmechanismus oder ähnliches ex tunc scheint es nicht zu geben.
Macht Gras die Entscheidung doch noch grün?
Das Europaparlament hat die Kommission bestätigt. Die Regelungen der Kommission zu Kernenergie und fossilem Gas werden in Kraft treten. Damit verschwindet die Kritik jedoch nicht. Der Vorwurf an die Kommission lautet, dass sie das Instrument der Taxonomie nicht gegen, sondern für Greenwashing von fossilem Gas und Atomenergie genutzt hat. Damit kann die Kommission der großen Idee des European Green Deal und dem eigenen Ansehen durchaus auf Dauer geschadet haben.
Zudem hat Österreich Klage vor den Unionsgerichten angekündigt. Es bleibt abzuwarten, ob sich andere Mitgliedstaaten anschließen werden. Klagen werden keine aufschiebende Wirkung haben. Also werden Fakten zugunsten fossilem Gas und Atomenergie geschaffen, ehe es zu einer Entscheidung kommen kann. Vorerst wird wohl kein grünes Gras über braunem Gas und die radioaktive Verstimmung in Europa wachsen.
Dr. Simone Lünenbürger ist Rechtsanwältin im Brüsseler Büro von Redeker Sellner Dahs und arbeitet überwiegend im Beihilfenrecht, Europarecht, Kartell- und Kartellschadensersatzrecht. Sie ist regelmäßig für Behörden, Unternehmen und Verbände gutachterlich und politikberatend tätig.
Für das österreichische Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie hat sie gemeinsam mit Dr. Matthias Kottmann und Dr. Korbinian Reiter unter anderem geprüft, ob die Erzeugung von Kernenergie mit der Taxonomie-Verordnung (EU) 2019/2088 vereinbar ist. Sie ist vom österreichischen Ministerium mit der voraussichtlichen Klage gegen die ergänzende delegierte Rechtsverordnung C(2022)631 final mandatiert.
Das Europaparlament hat Farbe bekannt: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48991 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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