Mehr Gerichtsverfahren sollen digital ablaufen, so der Plan des Bundesjustizministers Marco Buschmann. Ein wichtiges Gesetzesvorhaben dazu steckt im Vermittlungsausschuss. Nun gibt es eine Einigung. Was bringt sie?
Mehr Videoverhandlung an deutschen Gerichten, das ist das Ziel eines Gesetzentwurfs aus dem Bundesjustizministerium (BMJ). Minister Marco Buschmann (FDP) ist die Digitalisierung der Justiz ein zentrales Anliegen. Gerichtsverfahren sollen so schneller, kostengünstiger und sogar klimaschonender werden. Kernstück ist die Aufwertung der Videoverhandlung, sie soll nach Buschmanns Plänen häufiger als bisher zum Einsatz kommen. Gegen seine konkreten Pläne gab es auf der Zielgerade Widerstand aus den Ländern, das Vorhaben liegt derzeit im Vermittlungsausschuss. Die Länder befürchteten, dass die geplante Digitalisierung im Gerichtssaal den "Kern des richterlichen Selbstverständnisses" und die "Verfahrensleitung der Vorsitzenden unangemessen einschränken" könnte.
Nun gibt es eine Grundlage für die Einigung, ein neuer Kompromissentwurf liegt LTO vor. Die offenen Punkte nach der Kritik aus den Ländern wurden in mehreren Runden geklärt. Das bestätigen mehrere an den Verhandlungen beteiligte Vertreter gegenüber LTO. Am Ende muss der Vermittlungsausschuss über die Vorschläge entscheiden. Die Vorarbeiten für das Gremium aus 16 Bundestags- und 16 Bundesratsmitgliedern sind aber erledigt.
Videoverhandlung nur wenn "geeignet" und "ausreichend Kapazitäten"
Die geplanten Änderungen sollen für die Zivilgerichte, Arbeitsgerichte, Verwaltungsgerichte, Sozialgerichte und Finanzgerichte gelten – auf sie kommen nun Änderungen im Gerichtsalltag zu. Der Entwurf sieht vor, den § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) umzugestalten.
Schon seit vielen Jahren erlaubt die Vorschrift Videoverhandlungen bei Gericht. Seit 2013 kann das Gericht eine Videoverhandlung auf Antrag oder von Amts wegen anordnen. Der Richter bleibt dabei immer im Gerichtssaal, die Verhandlung ist öffentlich, Prozessbeteiligte und ihre Vertreter, Zeugen und Sachverständige können aber zugeschaltet werden. Von der Möglichkeit machten die Gerichte allerdings bis zur Pandemie wenig Gebrauch. Ob die Zurückhaltung eher den Gerichten oder der Anwaltschaft zuzuschreiben war, schien unklar. Die Corona-Pandemie hat eine Zäsur gebracht. Seitdem hat das Thema in Praxis, Wissenschaft und auch Rechtspolitik einen Boom erlebt.
Ende 2022 legte das BMJ dazu einen Gesetzentwurf vor. Die Stoßrichtung: Die Videoverhandlung sollte eine größere Rolle im Gerichtsalltag spielen, dazu sollte der § 128a ZPO entsprechend umformuliert werden. Der Entwurf aus dem BMJ sah vor: "Die mündliche Verhandlung kann als Videoverhandlung stattfinden." Die Version, die der Bundestag im Dezember 2023 beschlossen hat, lautet dann "nur" noch: "Die mündliche Verhandlung kann in geeigneten Fällen als Videoverhandlung stattfinden." Nun wurde die Vorschrift zugunsten des Entscheidungsspielraums der Richterinnen und Richter noch einmal entschärft. Die Formulierung lautet aktuell: "Die mündliche Verhandlung kann in geeigneten Fällen und soweit ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen als Videoverhandlung stattfinden." Damit sollen die Bedenken der Länder schon gleich in der Norm ihren Niederschlag in Form von Ausnahmen finden. Damit keine Zweifel aufkommen, wird der Ermessensspielraum für die Richter gleich in die Norm geschrieben: Die Videoverhandlung soll eben nur dann stattfinden, wenn der konkrete Einzelfall sich dafür eignet.
Eine wesentliche Änderung, die der BMJ-Entwurf auf den Weg bringen wollte, betraf die Rolle der Vorsitzenden Richterinnen und Richter. Die sollen eine Videoverhandlung in Zukunft nicht mehr nur wie bisher häufig auf Antrag einer Partei gestatten, sondern auch selbst in mehr Fällen selbst anordnen können.
Die Anträge der Parteien auf digitale Teilnahme bleiben möglich – in den Fällen ist das Ermessen der Vorsitzenden reduziert: Die Vorsitzenden "sollen" diese dann gestatten, heißt es in der Neufassung. Dies gilt allerdings nur, wenn der Fall "geeignet" ist und "ausreichende Kapazitäten" vorhanden sind, so steht es nun nach der Kritik aus den Ländern ausdrücklich im neuen Vorschlag. Lehnt ein Richter den Antrag ab, so war diese Entscheidung schon nach der letzten Fassung des Gesetzentwurfs zu begründen. Nun heißt die Formulierung: "kurz begründen".
Ordnet eine Richterin oder ein Richter von sich aus die Videoverhandlung an, kann der bzw. die Adressatin innerhalb von zwei Wochen Einspruch einlegen.
Beschlossen und verkündet aus dem Home-Office?
Für Aufregung sorgte kurz vor Verabschiedung des Gesetzes noch der Vorschlag, den Entwurf doch noch um eine vollvirtuelle Gerichtsverhandlung zu erweitern. Es sollte den Richterinnen und Richter überlassen werden, auch aus dem Home-Office zu verhandeln und ihre Entscheidungen zu verkünden. Dem und der Vorsitzenden Richterin sollte die Option eingeräumt werden, die Videoverhandlung "von einem anderen Ort als der Gerichtsstelle aus" zu leiten. Es blieb das Bild vom Richter auf der Couch haften.
Der neue nun zwischen Bund und Ländern abgestimmte Entwurf sieht die vollvirtuelle Verhandlung nur noch zu Erprobungszwecken vor. Dazu sollen Bund bzw. die Länder im Rahmen ihrer Justiz-Zuständigkeiten eigene Regelungen per Rechtsverordnung schaffen. Insbesondere muss auch geregelt werden, wie dann die Öffentlichkeit für das Gerichtsverfahren gewährleistet werden soll. Mit der Erprobung an einzelnen Gerichten sollen zunächst Erfahrungen gesammelt werden.
Wie gut sind die Gerichte mit Videotechnik ausgerüstet?
Das BMJ ging seinem Referentenentwurf von nur geringen Kosten für die Justiz aus. Mit einmalig 176.600 Euro sowie jährlichen Kosten für den Betrieb von insgesamt 114.790 Euro rechnete man. Allzu viel Anschaffungsbedarf sah das BMJ nicht. Es verwies auf eine eigene Umfrage zum Stichtag 30. Juni 2020 bei den Landesjustizverwaltungen. Sie ergebe, dass zu diesem Zeitpunkt bereits circa 435 digitalisierte, videokonferenzfähige Gerichtssäle in Deutschland existierten. Neben diesen mobilen oder fest installierten Videokonferenzanlagen soll zusätzlich auf Videokonferenztechnik über webbasierte Anwendungen und PCs gesetzt werden.
In Niedersachsen seien Videoverhandlungen bereits flächendeckend möglich, wie auch in Schleswig-Holstein, so wird es in dem BMJ-Entwurf angeführt. Aus der Umfrage bei den Landesjustizverwaltungen aus 2020 ergebe sich, dass in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern bis Ende 2022, in Rheinland-Pfalz dieses Ziel bis Mitte 2023, und in Bayern bis Januar 2026 erreicht werden soll. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz berichtete, dass im Jahr 2022 allein in Bayern 12.056 Videoverhandlungen und -anhörungen durchgeführt wurden. Es gebe allerdings auch Länder, in denen bisher erst an wenigen Standorten entsprechende Technik vorhanden ist. In dem Entwurf wird betont, dass durch die Reform Videoverhandlungen gefördert werden sollen; verpflichtet sind die Länder dadurch nicht, neue Technik anzuschaffen.
Eine Frist für Anmerkungen läuft am Donnerstag ab, nach Informationen von LTO haben die Länder keine grundsätzlichen Einwände mehr. Entscheiden muss aber so oder so der Vermittlungsausschuss. Der hatte eine angesetzte Verhandlungsrunde im März verschoben. Das nächste Mal könnte das Gremium Ende April bzw. Anfang Mai zusammenkommen.
Bund und Länder einig über Reform: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54300 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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