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Masseverfahren, Versäumnisurteile und verpasste Chancen: Vide­o­ver­hand­lung – eine Reform ohne Wir­kung

Gastbeitrag von Carl Christian Müller, LL.M. und Bennet Roßbach

17.09.2025

Videoverhandlung beim LG München

Die Digitalisierung in der Justiz scheitert am Reformwillen, nicht an der technischen Ausstattung, meinen unsere Gastautoren. Foto: picture alliance / SZ Photo | Catherina Hess

Massenverfahren belasten die Justiz durch hohe Klagezahlen, überflüssige Verhandlungen und Verzögerungstaktiken. Carl Christian Müller und Bennet Roßbach werfen einen kritischen Blick auf die Reform des § 128a ZPO.

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Überlastete Amtsgerichte, endlose Verfahren, keine Besserung in Sicht. Besonders die Verfahren im Bereich der Fluggastrechte sorgen für Druck auf die Justiz: 131.000 Klagen allein im Jahr 2024 – 6.000 mehr als im Vorjahr.

Ein Kernproblem: mündliche Verhandlungen. Sie erfordern Organisation bei den Gerichten und verursachen Anreise- und Vertretungskosten bei Anwältinnen und Anwälten. Jede Maßnahme, die diese Termine reduziert, entlastet alle Beteiligten.

Genau hier sollte die Reform des § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) ansetzen. Die Videoverhandlung spart der Anwaltschaft Zeit, Aufwand und Kosten. Auch wenn sie die Justiz nicht direkt beschleunigt, verringert sie den Aufwand spürbar – und bringt volkswirtschaftliche Vorteile.

§ 128a ZPO: Wenn der Letzte das Tempo bestimmt

Eine frühere Version des Gesetzentwurfs sah vor, dass das Gericht die Verhandlung auf Antrag einer Partei als Videoverhandlung durchführen soll. Im Gesetzgebungsverfahren wurden jedoch von Länderseite Bedenken hinsichtlich der praktischen Umsetzbarkeit mit Blick auf die mangelhafte technische Ausstattung mancher Gerichte und die Netzwerkstabilität laut. Verabschiedet wurde schließlich der Kompromiss, die Soll-Vorschrift durch die einschränkende Voraussetzung "in geeigneten Fällen und soweit ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen" zu entschärfen.

Damit erhielten die Gerichte einen nicht anfechtbaren Katalog von Ablehnungsgründen, unter den sich praktisch jede Fallkonstellation fassen lässt: Fehlt es nicht an technischer Ausstattung, gilt der Fall eben als ungeeignet. Im Ergebnis hängt die Durchführung einer Videoverhandlung weiterhin allein vom Willen des Richters ab. Nach der Erfahrung der Autoren verfestigt die Reform damit im Wesentlichen den Status quo und stellt sich im Ergebnis als reine Selbstbeschäftigung des Gesetzgebers dar.  

Mangelhafte technische Ausstattung – wirklich?

Dabei erweist sich die vielfach angeführte mangelnde technische Ausstattung bei näherem Hinsehen als vorgeschobenes Argument. Gerade in Masseverfahren mit Forderungen bis 5.000 Euro sind die Anforderungen an Videotechnik minimal. Schon mit einfachen Standardlösungen, die nach Recherchen und eigener Praxiserfahrung der Autoren leicht erhältlich sind und nicht mehr als 3.000 bis 6.000 Euro kosten, lassen sich digitale Verhandlungen problemlos durchführen. Selbst für ein mittleres Amtsgericht mit vier bis sechs Sitzungssälen ergeben sich damit überschaubare Investitionen, die weit hinter den volkswirtschaftlichen Kosten zurückbleiben, die jedes Jahr durch Anreisen von Anwälten, Zeugen und Sachverständigen entstehen.

Auch das oft bemühte Argument mangelnder Netzwerkstabilität überzeugt nicht: Selbst in der sprichwörtlichen Mobilfunkwüste lassen sich über Hotspots stabile Online-Verbindungen herstellen – erprobt von den Autoren selbst, etwa bei Verhandlungen während einer Busfahrt zum Kanzlei-Retreat.

Digitalisierung in der Justiz: Fortschritt scheitert am Reformwillen, nicht an der Technik

Nach den Erfahrungen der Autoren in der Praxis liegt das eigentliche Problem nicht in der Ausstattung, sondern in der Haltung: Ablehnungen kommen auch von Gerichten mit moderner Technik, während bei anderen Gerichten trotz begrenzter Mittel Videoverhandlungen möglich sind. Ob digital verhandelt wird, hängt also derzeit weniger von der Infrastruktur als vom persönlichen Willen der Richterinnen und Richter ab. Darin zeigt sich ein Grundproblem deutscher Reformpolitik: Reformen scheitern nicht an fehlenden Möglichkeiten, sondern daran, dass politische Entscheider zu viel Rücksicht auf die Veränderungsresistenz derjenigen nehmen, die den Wandel umsetzen müssten. Der neue § 128a ZPO ist ein Musterbeispiel: Anstatt den digitalen Standard verbindlich zu normieren, belässt es das Gesetz beim Einzelfallermessen und stellt die Entscheidung darüber, ob und wann die Videoverhandlung zur Regel wird, in das Belieben derjenigen, die sie bislang regelmäßig vermeiden.

Die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) zeigt exemplarisch, wie effektiv rechtlicher Zwang Veränderung bewirken kann: Seit 2022 müssen Anwältinnen und Anwälte Schriftsätze elektronisch einreichen. Selbst weniger technikaffine Kanzleien haben den Umstieg erfolgreich gemeistert. Anders bei den Gerichten: Weil bislang keine umfassende Nutzungspflicht besteht, läuft die Kommunikation vielerorts noch auf Papier. Erst der ab 2026 geltende Zwang zur elektronischen Aktenführung dürfte hier für flächendeckenden digitalen Fortschritt sorgen.  

Es wäre daher naheliegend gewesen, zumindest willigen Ländern über § 16 EGZPO die Möglichkeit zu geben, die Videoverhandlung per Verordnung als Regelfall einzuführen. Eine solche „Koalition der Willigen“ hätte ein klares Signal gesetzt: Wo es politisch gewollt ist, wird digital verhandelt. Der Druck aus Anwaltschaft und Praxis hätte die weniger fortschrittlichen Bundesländer jedenfalls rasch in Erklärungsnot gebracht.

Anreize zur Terminvermeidung

Ein weiterer Grund für den mangelnden Reformeifer auf Seiten der Justiz dürfte folgender Aspekt sein: Während digitale Verhandlungen durch den Wegfall von Reisezeiten und Terminvertretern vor allem die Anwaltschaft entlasten, bringt die Videoverhandlung hingegen kaum eine Entlastung für die Gerichte selbst mit sich. Wer also die Justiz stärken möchte, muss sich vielmehr die Frage stellen, wie sich mündliche Verhandlungen auf wirklich notwendige Fälle begrenzen lassen. Hier können zivilprozessuale und kostenrechtliche Steuerungsmechanismen ansetzen, um durch gezielte Anreize und Sanktionen die Anzahl an durchzuführenden Verhandlungen von vornherein gering zu halten.

Zwar kann eine mündliche Verhandlung in vielen Fällen zur Aufklärung des Sachverhaltes oder zur Herbeiführung eines Vergleiches zielführend sein. Gerade in Masseverfahren gegen Fluggesellschaften ist jedoch häufig zu beobachten, dass die Durchführung einer Verhandlung lediglich eine Prozessstrategie zur Verzögerung des Verfahrens und somit der Zahlung darstellt. Einige Fluggesellschaften bestehen auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, nur um im Termin ein Versäumnisurteil ergehen zu lassen. Hierbei handelt es sich um eine Strategie, welche nicht bloß zulasten der Kläger geht, sondern vielmehr die Gerichte wie auch die Anwaltschaft in vermeidbarer Weise belastet.

Ordnungsgelder bei systematischer Säumnis

Die bisherigen Regelungen sind auf die Sanktionierung solchen Prozessverhaltens nicht ausgelegt. Zwar sieht der § 141 Abs. 3 S. 1 ZPO die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen die säumige Partei vor. Jedoch besteht der Sinn und Zweck darin, das einzelne Verfahren schnellstmöglich einem Abschluss zuzuführen. Die Rechtsprechung lehnt die Verhängung eines Ordnungsgeldes daher ab, wenn das Verfahren aufgrund der Säumnis durch Versäumnisurteil beendet werden kann.

Die Folge: Fluggesellschaften lassen in Hunderten Gerichtsterminen ein Versäumnisurteil gegen sich ergehen, ohne hierfür angemessen sanktioniert werden zu können. Aufgrund der Vielzahl an Verfahren ist jedoch nicht bloß der einzelne Prozess, sondern vielmehr die Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt betroffen. Daher sollte eine Reform des § 141 Abs. 3 ZPO dahingehend angedacht werden, dass der Schutzzweck sowohl die Effektivität der Justiz als auch den Respekt vor dem Gericht umfasst und ein Ordnungsgeld daher auch bei Erlass eines Versäumnisurteils möglich sein sollte. Eine ausufernde Verhängung von Ordnungsgeldern ist hierbei aufgrund des gerichtlichen Ermessens nicht zu befürchten.

Versäumnisse und späte Anerkenntnisse teurer machen

Auch kostenrechtlich könnte den genannten Prozessstrategien wirksamer entgegengewirkt werden. Zwar besteht bereits durch die Entstehung von drei Gerichtsgebühren im Falle eines Versäumnisurteils ein Anreiz, das Verfahren auf andere Weise zu beenden. Jedoch lässt ein Versäumnisurteil im Rahmen der RVG-Gebühren lediglich eine 0,5-Terminsgebühr entstehen, während durch streitige Urteile sowie Anerkenntnisurteile eine 1,2-Terminsgebühr anfällt. Dies erschließt sich schon vor dem Hintergrund nicht, dass eine Säumnis im Termin auch auf Seiten des Klagevertreters einen deutlich höheren Aufwand begründet als im Falle eines Anerkenntnisses. Möglich wäre, bei Versäumnisurteilen im Termin eine 1,2-Terminsgebühr anzusetzen, während es bei Versäumnisurteilen im schriftlichen Vorverfahren bei einer 0,5-Terminsgebühr bleibt. Auf diese Weise würde eine Säumnis im Termin auch kostenrechtlich maximal sanktioniert werden.

Ein weiteres Ärgernis aus der Praxis besteht in kurzfristigen Anerkenntnissen. Wird ein Termin beantragt, dann aber kurz vor dem Termin anerkannt, ist bereits erheblicher Aufwand entstanden. Gericht und Rechtsanwälte haben Zeit investiert, Anreisen oder Terminsvertreter organisiert oder andere Termine blockiert. Diesem Verhalten könnte durch eine Erhöhung der Gerichtskosten auf zwei Gebühren bei einem Anerkenntnis im Termin oder bis zu sieben Tage vor dem Termin entgegengewirkt werden.

Gerichtliche Infrastruktur und Verfahrensrecht gemeinsam denken

Auch in Zukunft ist mit einem hohen Klageaufkommen im Rahmen von Masseverfahren zu rechnen. Der reformierte § 128a ZPO setzt zwar ein Signal für die Digitalisierung, bleibt in seiner Wirkung jedoch hinter den Erfordernissen der Praxis zurück. Für eine spürbare Entlastung von Justiz und Anwaltschaft genügt es daher nicht, allein auf technische Lösungen wie die Videoverhandlung zu setzen.  

Wünschenswert wäre ein ganzheitlicher Ansatz, welcher fortschreitende Digitalisierung und eine verfahrens- und kostenrechtliche Neubewertung von Terminversäumnissen und kurzfristigen Anerkenntnissen sowie eine gezielte Erweiterung der Ordnungsgeldregelungen zusammendenkt. Ein solcher Ansatz bietet die beste Aussicht darauf, die Justiz im Massengeschäft spürbar zu entlasten und die Verfahrensdauer trotz weiterhin hoher Klagezahlen wieder zu verkürzen.

Carl Christian Müller

Carl Christian Müller, LL.M. ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Mueller.legal Rechtsanwälte mit Sitz in Berlin, die unter anderem auf Medien-, Urheber-, Presse- und Äußerungsrecht, gewerblichen Rechtsschutz sowie auf Fluggastrechte und Bankenrecht spezialisiert ist. Er ist zudem Justiziar des Deutschen Medienverbandes (DMV).

 

 

 

Bennet Roßbach

Bennet Roßbach ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Mueller.legal Rechtsanwälte tätig, wobei sein Tätigkeitsschwerpunkt im Bereich der Fluggastrechte liegt. Über besondere Praxiserfahrung auf diesem Gebiet verfügt er auch aufgrund seiner früheren Tätigkeit für das Fluggastrechteportal SOS Flugverspätung. Sein Studium der Rechtswissenschaften absolvierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Masseverfahren, Versäumnisurteile und verpasste Chancen: . In: Legal Tribune Online, 17.09.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58164 (abgerufen am: 17.11.2025 )

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