Anonyme Aktivisten vor Gericht: Urteil gegen Unbe­kannt

von Dr. Markus Sehl

29.08.2019

Die "Eule", eine Australierin und eine unbekannte "UP 11": Vor allem einzelne Antikohle-Protestler verschweigen vor Polizei und Gericht hartnäckig ihre Identität. Welche Konsequenzen hat das für sie und wie geht die Justiz damit um?

Wie kann ein Mensch heute noch komplett anonym bleiben, wenn Justiz und Polizei alles daransetzen, die Identität aufzuklären? Die Justiz in NRW beschäftigt eine Reihe von Fällen, in denen Menschen gegenüber den Strafverfolgern und auch vor Richtern ihre Identität geheim halten – und sie stellen die Gerichte damit vor Herausforderungen.

In den jüngsten Fällen vor dem Landgericht (LG) Mönchengladbach ging es um Aktivisten, die im Februar 2019 versucht hatten, auf dem Gelände des Tagebaus Garzweiler einen Braunkohlebagger zu besetzen. Polizisten konnten ihre Identität nicht feststellen. Die Personen hatten keine Ausweispapiere bei sich und weigerten sich Angaben zu ihren Personalien zu machen. Auch hatten sie Ihre Fingerkuppen verklebt, Fingerabdrücke konnten so nicht genommen werden.

Nach dem neuen und umstrittenen Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen (NRW) darf, wer die Identitätsfeststellung vorsätzlich verhindert, bis zu sieben Tage in Gewahrsam genommen werden. Eine Frau aus der Gruppe, die in den Tagebau gelangt war, wurde nach Gerichtsbeschluss für fünf Tage in Gewahrsam genommen. Sie wurde entlassen, ohne dass ihre Identität geklärt werden konnte.

Freiheitsentziehung für anonyme Personen, aber kein Rechtsschutz?

Mit einer Beschwerde bei Gericht ging sie daraufhin gegen die Ingewahrsamnahme vor. Das LG wies die Beschwerde aber Anfang August als unzulässig ab. Wer sich selbst nicht mit seiner Identität zu erkennen gibt, könne auch kein Beschwerdeführer sein, so der Beschluss der Richter. "Das deutsche Verfahrensrecht kennt kein anonymes Rechtsmittel", befanden sie. Das Beschwerdegericht könne so schon gar nicht prüfen die rechtliche Beschwer prüfen. Bei diesen grundsätzlichen Feststellungen berief sich das LG auf eine Entscheidung, die der Bundesgerichtshof (BGH) bereits im Jahr 1953 getroffen hatte.

"Eine Entscheidung mit Abschreckungseffekt", sagt Christian Mertens, der Kölner Rechtsanwalt der unbekannten Frau. Ihm hatte das LG auch die Kosten für das Verfahren auferlegt, weil er grob schuldhaft mit seiner unzulässigen Beschwerde das Ziel verfolgt habe, die Anonymität der Beschwerdeführerin aufrecht zu erhalten. "So wird Druck auf die Anwaltschaft aufgebaut", sagt Mertens. Wenn es schon eine Freiheitsentziehung gegen eine unbekannte Person geben könne, argumentiert Mertens, dann müsse es auch die Möglichkeit für diese geben, sich dagegen juristisch zu wehren.

Dass der juristische Umgang mit unbekannten Personen die Gerichte herausfordert, klingt auch in dem Beschluss des LG Mönchengladbach an: "Die Kammer verkennt nicht, dass die Forderung nach der Preisgabe ihrer Identität als Zulässigkeitsvoraussetzung dazu führt, dass die Beschwerdeführerin das von ihr verfolgte Ziel, anonym zu bleiben, aufgeben muss, um ihr Feststellungsinteresse durchzusetzen." Dennoch überwiege der allgemeine Verfahrensgrundsatz, dass es keinen anonymen Rechtsschutz gebe, letztlich den Wunsch der Person, anonym zu bleiben.

Staatsanwaltschaft: Zunächst Neuland, nun aber Standardverfahren

Die Kammer verweist zusätzlich darauf, dass die Weigerung, gegenüber Beamten grundlegende Angaben zur Person zu machen, eine Ordnungswidrigkeit nach § 111 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) darstellt. Das gelte sogar auch für den Beschuldigten im Strafverfahren. Auch das hatte der BGH bereits im Jahr 1972 entschieden.

"Die deutsche Justiz wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, dass sie es vor Gericht mit anonymen Personen zu tun bekommt", sagt Mertens. "Diese Vorstellung ist scheinbar für viele Richter unerträglich", so Mertens, der derzeit rund 20 unbekannte Personen vertritt. Nicht einmal ihm seien die Identitäten seiner Mandanten bekannt. Mertens übernimmt nach eigenen Angaben für die Kommunikation mit seinen Mandanten regelmäßig die eindeutige Bezeichnung der Polizei, also etwa "UP 05". "UP" steht für "Unbekannte Person"

"Die nicht-identifizierbaren Personen waren für die Staatsanwaltschaft Aachen so ab 2014 auch zunächst Neuland", sagt Dr. Jost Schützeberg, Pressesprecher und zuständiger Staatsanwalt für Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Mittlerweile habe sich aber ein standardisiertes Verfahren entwickelt. Die Polizei vergebe zunächst ein Nummernkürzel, der Haftbefehl oder die Anklageschrift enthalte statt Namen und Anschrift ein angehängtes Lichtbild.

"Eule", eine Australierin und eine immer noch unbekannte "UP 11"

Für Aufmerksamkeit hatte auch der Fall von "Eule" beim LG Köln gesorgt. Die Behörde führte eine ihnen unbekannte junge Frau als "UP 08", sie selbst nannte sich "Eule". Angeklagt war sie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Da sie beharrlich ihre Identität verschwieg, steuerte das Verfahren auf eine Verurteilung gegen eine unbekannte Person zu. Allerdings gelang es den Behörden während des Prozesses über einen Lichtbildabgleich durch ein Einwohnermeldeamt, "Eule" als eine junge Berlinerin zu identifizieren. Verurteilt wurde sie zu drei Wochen Dauerarrest. Auch die "UP 03" konnte noch vor dem ersten Urteil gegen sie am AG Kerpen als eine junge Australierin identifiziert werden. Ihre Eltern hatten eine Vermisstenanzeige aufgegeben, die Behörden bemerkten, dass die Personenbeschreibung auf "UP 03" passte. Das LG Köln sprach sie frei, der Verteidiger hat Revision eingelegt.

Derzeit läuft noch ein Verfahren gegen eine immer noch nicht identifizierte Person "UP 11". Das AG Kerpen hatte den Mann nach einem Polizeieinsatz im Hambacher Forst wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu 40 Tagessätzen á 10 Euro verurteilt. Das LG Köln hat die Berufung von Verteidigung und Staatsanwaltschaft verworfen. In dem Verfahren gegen "UP 11" wurde Revision zum OLG Köln eingelegt.

Der Fall der immer noch unbekannten Person "UP 11" zeigt beispielhaft die besonderen Herausforderungen, die ein Verfahren gegen anonyme Personen mit sich bringt.
"Sofern die UP nicht aus der Haft vorgeführt werden können und nicht selbst zum Termin erscheinen, ist eine Strafverfolgung kaum möglich, da Fahndungsmaßnahmen mangels Personalien erheblich erschwert sind", sagte eine Sprecherin des LG Köln gegenüber LTO. "Eule" und "UP 03" hatten beide jeweils sechs Monate in Untersuchungshaft gesessen, "UP 11" befand sich knapp zwei Monate in Haft.

Untersuchungshaft wegen Verschweigens der Identität?

"In der Verweigerung, die Identität preiszugeben, haben die Richter an den Amtsgerichten in solchen Fällen häufig einen Haftgrund für die Untersuchungshaft gesehen", sagt der Kölner Strafverteidiger Frank Hatlé, der mehrere Fälle zu den Protesten aus dem Hambacher Forst vertritt. Dabei sei diese juristische Argumentation alles andere als selbstverständlich.

Auch das AG Kerpen hatte 2017 in dem Fall eines unbekannten Teilnehmers an einem Anti-Kohleprotest den Erlass eines Haftbefehls mit der Begründung abgelehnt, dass der Umstand, dass der Beschuldigte keine Angaben zu seiner Person macht, dem Beschuldigten nicht zum Nachteil gereichen könne. "Denn es gibt keine Verpflichtung eines Beschuldigten, an einem gegen ihn geführten Verfahren aktiv mitzuwirken", heißt es in dem Beschluss.

Hatlé gibt zu bedenken, dass es gerichtsbekannt sei, dass viele Aktivisten nicht mit dem Gedanken spielten, sich der Strafverfolgung zu entziehen, sondern ganz im Gegenteil einen anstehenden Prozess als willkommenes Mittel ihr politisches Anliegen nach außen zu tragen. Von Fluchtgefahr als Haftgrund könne dann gerade nicht ausgegangen werden.

Nicht selten, so Hatlé, komme es aber zu einer Art Deal, um die Untersuchungshaft gegen unbekannte Personen aufzuheben. Die Person komme frei, aber nur, wenn sie im Gegenzug dem Gericht eine unwiderrufliche Ladungs- und Zustellungsvollmacht für den Verteidiger vorlegt. Damit ist für Gericht und Strafverfolger gesichert, dass sie die unbekannte Person über den Anwalt zur Hauptverhandlung laden können. Erscheint die Person dennoch nicht zur Verhandlung, kann gegen sie ein Strafbefehl ergehen. Diese Praxis bestätigt auch Staatsanwalt Schützeberg.

Strafzumessung: Im Zweifel gegen Vorstrafen einer unbekannten Person

Kaum Probleme bereite den Strafverfolgungsbehörden bei unbekannten Personen das Alter zu ermitteln, so Strafverteidiger Hatlé. Dazu würden radiologische Untersuchungen der Handwurzelknochen eingesetzt.

Staatsanwalt Schützeberg erläutert, dass auch ein Urteil gegen eine unbekannte Person ergehen könne, solange sie identifizierbar ist. Auch an das Urteil werde dann ein Lichtbild angehängt. Noch keine Erfahrung habe die Staatsanwaltschaft Aachen, wie genau die Vollstreckung ablaufe. Bislang gebe es noch kein rechtskräftiges Urteil im Zuständigkeitsbereich gegen eine unbekannte Person.

Eine weitere Herausforderung bleibt allerdings: Wessen Identität man nicht kennt, von dem kann man auch nicht wissen, ob er möglicherweise vorbestraft ist. "Im Rahmen der Strafzumessung muss von den günstigsten Umständen zur Person ausgegangen werden", erläutert die Sprecherin des LG Köln. Im Zweifel gelten unbekannte Personen deshalb als nicht vorbestraft, solange man ihnen keine Vorstrafen zuordnen kann. Mit Ablauf der Rechtsmittelfrist nach einem Urteil endet jede Korrekturmöglichkeit für die Strafverfolgung.

Und auch eine Strafaussetzung zur Bewährung begegnet der Herausforderung, wie das Gericht eine notwendige positive Sozialprognose stellen kann, ohne die Person zu kennen. In einem Fall vor dem AG Cottbus wurde 2016 eine sogenannte "Frau X" wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt. Hier machte das Gericht deutlich, dass für die vergleichsweise harte Strafe vor allem auch das Verschweigen der Identität maßgeblich gewesen sei.

Aus der in der Regel relativ lang andauernden Untersuchungshaft für die unbekannten Personen ergibt sich noch eine weitere Besonderheit: Wer länger in Untersuchungshaft gesessen hat, als ihm später über Tagessätze an Strafe verhängt wird, dem steht nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) eine Entschädigung zu. Im Fall der immer noch anonymen "UP 11" vor dem LG Köln hielt das Gericht aber eine Entschädigung für ausgeschlossen. Zwar habe "UP 11" länger in Haft gesessen als er später zu Tagessätzen verurteilt wurde, wie das Gericht mitteilte, aber er habe die Strafverfolgungsmaßnahme gegen sich selbst zumindest grob fahrlässig verursacht. Damit sei nach § 5 Abs. 2 StrEG die Entschädigung ausgeschlossen.

Zitiervorschlag

Anonyme Aktivisten vor Gericht: Urteil gegen Unbekannt . In: Legal Tribune Online, 29.08.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37309/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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