Schöffen im Strafverfahren: "Über­holte Orna­mente des Mis­s­trauens"

Gastbeitrag von PD Dr. Oliver Harry Gerson

08.04.2025

Mehr als 60.000 Schöffen gibt es an deutschen Strafgerichten. Aber ist ihre Mitwirkung noch zeitgemäß? Oliver Harry Gerson bezweifelt das, die Beteiligung von Laien habe für die Entscheidungsfindung im Strafprozess nahezu keinen Mehrwert.

Die Beteiligung von Laienrichtern im Strafverfahren ist seit längerer Zeit Gegenstand kontroverser Diskussionen. Erhöhte Brisanz erhält das Thema durch die von politischen Kräften entdeckte Möglichkeit, Gerichte mittels "ideologisierter Schöffen" regelrecht zu unterwandern.  

Bereits im Jahr 2018 hatten unter anderem die NPD (jetzt "Die Heimat") und Pegida ihre Anhänger dazu aufgerufen, sich aktiv auf Schöffenposten zu bewerben. Mehr als sieben Jahre später ist diese Gefahr der Instrumentalisierung des Schöffenamtes angesichts der politischen Gesamtwetterlage jedenfalls nicht geringer geworden, wenngleich konkrete Erhebungen hierzu weiterhin fehlen.

Beleuchtet man die Institution "Schöffe" näher, zeigen sich erhebliche dogmatische, demokratietheoretische und auch die Resilienz der Justiz betreffende Schwachstellen.

Weder für das "Recht"“ noch für das "Leben" dienlich

Schöffen werden in Strafsachen für Erwachsene an den Amts- und Landgerichten eingesetzt. In der Hauptverhandlung sind sie den Berufsrichtern formal gleichgestellt (§ 30 Abs. 1 GVG). Die dogmatische Begründung des Einsatzes von Laienrichtern in Strafsachen erschließt sich gleichwohl nicht unmittelbar. Richter sollen Recht sprechen (Art. 92 S. 1 Grundgesetz), was zum einen das Zusammentragen und Erfassen eines Lebenssachverhalts, zum anderen dessen rechtliche Bewertung verlangt. Bei der Beteiligung von Laienrichtern offenbaren sich in diesen Kontexten erhebliche Redundanzen.

Rechtsanwendung ist eine spezifische Form des semantischen Vergleichens: Konkrete Lebenssachverhalte werden durch sprachlogische Schlüsse unter abstrakte Tatbestände subsumiert. Es handelt sich hierbei nicht um eine naturwissenschaftliche Deduktion, die "richtige" bzw. falsifizierbare Ergebnisse erzeugen kann. Rechtsanwendung ist vielmehr ein rational-schöpferischer Akt, dem ein hermeneutischer Kern innewohnt. Im Strafrecht geht es um normative Zuschreibungen. Diese Zuschreibungsprozesse erfordern ein tiefgehendes Verständnis dessen, was Tatbestandsmerkmale bedeuten und in welchem systematischen Zusammenhang sie stehen.  

Die aus einer Rechtsvorschrift ableitbaren Argumente sind endlich, die Menge an vertretbaren Interpretationen begrenzt. Rechtsnormen sollen Rechtsprobleme schließlich nicht "irgendwie"“ lösen, sondern so "gerecht" wie möglich. Der Schöffe beherrscht die Fachsprache des Juristen jedoch nicht und kann ihn daher bei der Subsumtion weder unterstützen noch etwaige Fehler in der Rechtsanwendung aufdecken. In dieser Hinsicht ist die Beteiligung des Laien wertlos.

Fachkundige Auskünfte von Schöffen stets vom Zufall abhängig

Doch auch bei seiner – vorgeblichen – Kernkompetenz, der Beibringung von "Lebenswissen", muss der Laie im Strafverfahren scheitern. Weder Juristen noch Laien haben einen privilegierten Zugang zur "Wahrheit" inne. Ob ein Zeuge lügt oder ein Beschuldigter "echte Reue" zeigt, darüber irren Juristen so häufig wie Nichtjuristen. Ähnlich verhält es sich beim Zugriff auf zurückliegende Geschehensabläufen: Was wirklich vorgefallen ist, lässt sich nicht vollständig rekonstruieren; es gelingt allenfalls eine Näherung. Das Gericht wird bei diesem "intellektuellen Schätzprozess" allerdings nicht dadurch gestärkt, dass noch weitere Personen ohne Fachkenntnisse in Psychologie, Naturwissenschaft oder Technik über komplexe soziale oder empirische Kausalketten mitentscheiden dürfen.  

Nach den gesetzlichen Regelungen zur Auswahl der Schöffen werden auch ganz bewusst keine weiteren Anforderungen an deren Fachwissen, Intelligenz oder Urteilskompetenz gestellt. Aufgabe der Schöffen sei es nun mal, "soziales Hintergrundwissen" beizutragen. Selbstbewusst betont die Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen (DVS), dass Schöffen nicht mithilfe "rechtswissenschaftlicher Systematik", sondern "billig und gerecht denkend" entscheiden sollen.  

Der Beitrag der Schöffen für die Rechtsprechung ist damit bestenfalls subjektiv und von (hyper-)individuellen Einschätzungen geprägt. Wieso sollte jedoch ein pensionierter Oberstudienrat (Englisch/Geschichte) besser einschätzen können, was die Länge eines Bremswegs über die mögliche Schwere einer Pflichtverletzung im Straßenverkehr aussagt als ein Richter? Fachkundige Auskunft geben über die Beweiskraft des Indizes können beide nicht.

Sachkunde ist in der Gesellschaft ungleich verteilt und es gibt schließlich echte Sachverständige. Der Mann (und auch die Frau) "von der Straße" hat zu den etwaigen Geschehnissen auch eine Meinung, nicht zwangsläufig allerdings eine weiterführende Ahnung. Sicherlich hat er/sie als Vater/Mutter, Arbeitgeber/Arbeitnehmer, Verkehrsteilnehmerin oder Metzgermeister auch wertvolle Erfahrung mit dem Leben gemacht. Darauf kommt es im Strafverfahren allerdings nicht an. Das Bauchgefühl von Dritten genießt keinen Sonderstatus unter den übrigen verfahrensfremden subjektiven Meinungen. Auf seine epistemische Bedeutung heruntergebrochen ist der Schöffe damit im besten Falle dysfunktional, denn zur Würdigung der Beweisaufnahme aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung nach § 261 Strafprozessordnung kann er nach dem Aufgezeigten überhaupt nichts beitragen.  

Vom Vertrauensgarant zum Misstrauensvehikel

Um Schöffe zu werden, bedarf es neben der deutschen Staatsbürgerschaft der Aufnahme auf die gemeindliche Vorschlagsliste, die alle fünf Jahre neu aufgestellt wird. Der zuständige Gemeinderat beschließt über die Listenaufnahme mit qualifizierter Zweidrittelmehrheit; die eigentliche Wahl der Schöffen wird durch den Schöffenwahlausschuss vollzogen. Dessen Hauptaufgabe besteht darin, aus der kommunalen Vorschlagsliste mit erforderlicher Zweidrittelmehrheit für die jeweils nächsten fünf Jahre Schöffen und Hilfsschöffen zu bestimmen.  

Das zu Tage tretende demokratische Defizit liegt nunmehr nicht im recht aufwändigen Auswahlprocedere, sondern im Pool der Wählbaren. Nähert sich die Zahl der Freiwilligen für ein Amt der Null, verkommen Wahl und Losung zur bloßen Akklamation. Die Resonanz für eine freiwillige Aufstellung schwankt je nach Region und Wahlperiode. Finden sich nicht ausreichend Bewerber, werden Schöffen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und verpflichtet. Nach Angaben der DVS waren bei der (vorletzten) Wahl im Jahr 2018 etwa 20 Prozent der Kandidaten unfreiwillig verpflichtet worden.  

Ein weiterer demokratietheoretischer Missstand offenbart sich in der negativen Symbolkraft der Institution Schöffe. Ihre Existenz basiert auf einem historisch gewachsenen, prinzipiellen Argwohn gegenüber der Justiz. Sie bilden eine Reminiszenz an vergangene Tage, in denen der Bürger dem Staat so skeptisch gegenüberstand, dass er – überspitzt formuliert – lieber von seinen Nachbarn als von einem ihm völlig fremden Richter verurteilt werden wollte.  

Mittlerweile dürften die meisten Menschen bei der Wahl, ob ihr Nachbar oder ein fachkundiger Richter sie zu einer Haftstrafe verurteilen soll, anders entscheiden. Angesichts der Professionalisierung der Justiz und der hohen Komplexität des modernen Rechts erscheint die Vorstellung, durch nicht juristisch vorgebildete Schöffen eine höhere Gerechtigkeit oder Bürgernähe zu erreichen, abwegig. Schöffen sind inzwischen überholte Ornamente des Misstrauens gegenüber der Dritten Gewalt. Wenn Schöffen bei ihrer Arbeit zudem private Notizen anfertigen oder in Mordprozessen mit dem Handy spielen, verhärten sich die Zweifel an ihrer "kontrollierenden Wirkung" zunehmend.

Einbruchstellen für rechtsstaatsfremde Agitation

Letztlich sind Laien in der Justiz eben nicht nur – mehr oder minder geeignete – Wahrer der "Richtigkeit" der Abläufe. Sie bilden zugleich offene Flanken für Angriffe von extremen politischen Kräften und schwächen dadurch die Resilienz des Gesamtsystems.

Die Unabhängigkeit der Richter ist ein hohes Gut von Verfassungsrang, Art. 97 Abs. 1 GG. Rechtsanwender in der Justiz dürfen weder finanziell, politisch noch beruflich abhängig davon sein, was nicht-strafrechtliche Akteure an gesellschaftlichen Agenden proklamieren.  

Da die Vorschlagslisten für Schöffen auf kommunaler Ebene durch die Gemeindepolitik erstellt werden (siehe soeben), besteht allerdings die Gefahr, dass politische Parteien und Interessengruppen, darunter auch demokratie- und rechtsstaatsfeindliche Akteure, Schöffenlisten "kapern", um auf diese Weise ideologisch munitionierte Personen in die Justiz einzuschleusen. Wenn entsprechend voreingenommene Schöffen versuchen, Entscheidungen zu beeinflussen oder durch Überstimmen oder das Erzwingen von "Patts" zu formen, kann es zu Verzerrungen in der Rechtsanwendung kommen.  

Dies gefährdet nicht nur die Neutralität der Strafjustiz, sondern auch ihre Resilienz gegenüber (partei-)politischer Vereinnahmung. Eine Prüfung insbesondere der Verfassungstreue der Schöffen erfolgt bislang lediglich unsystematisch bzw. sind flächendeckende Kampagnen hierzu zumeist im Planungsstadium steckengeblieben. Zumindest die Möglichkeiten für den Ausschluss bereits vorbestrafter Schöffen soll nach einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung noch verschärft werden.

Weniger Laientum ist manchmal mehr

Die skizzierte Entwicklung lässt sich allegorisch mit dem Niedergang der Telefonzelle vergleichen: Telefonzellen (und die darin verbauten Münzfernsprecher) dienten in Deutschland fast 150 Jahre lang der Kommunikation außerhalb der eigenen vier Wände. Mit dem Siegeszug des Handys waren die verwaisten – mittlerweile ikonischen – gelben Häuschen jedoch zunehmendem Vandalismus ausgesetzt oder wurden sogar gezielt von Kriminellen genutzt, um Nachrichten anonym übermitteln zu können. Was einst sinnvoll und praktikabel war, hat sich also überlebt und ist in seiner Funktion sogar pervertiert worden. Die letzte verbleibende Telefonzelle soll nach Angaben des Betreibers noch in diesem Jahr vom Netz genommen werden.

Es geht bei alledem nicht darum, den einzelnen Bürger, der sich um ein Ehrenamt bemüht, in ein schlechtes Bild zu rücken. Vielmehr drängen sich systemische Missstände des gesamten Instituts "Schöffe" auf, die auch von dem engagiertesten Einzelnen nicht hinreichend kompensiert werden können. Es mag sogar sein, dass Schöffen eine Form vom "Sparring"-Partnern für die Berufsrichter bilden können, aus deren gemeinsamen Gesprächen die Berufsrichtern in der Beratung über die Urteilsfindung Nutzen ziehen. Sogar dann bleibt es allerdings – neben der anekdotischen Evidenz dieses Mehrwerts – bei der Zufälligkeit der Auswahl des konkreten Schöffen für das einzelne Verfahren.  

Eine effektive "Kontrolle" des Gerichts wird zudem von anderen, weitaus geeigneteren Protagonisten ausgeübt: Zum einen von der Staatsanwaltschaft nach ihrer formalen Stellung und zum anderen von der Strafverteidigung aufgrund ihrer materiellen Ausrichtung als Beistand und Fürsprecher des Beschuldigten.

Prüfung der Abschaffung der Schöffengerichtsbarkeit muss auf die politische Agenda

Ergo: Die Schöffenbeteiligung im (Erwachsenen-)Strafrecht mutet in ihrer aktuellen Form wenig überzeugend an. Weder gewährleistet die Beteiligung von Schöffen die Schaffung von mehr Akzeptanz, noch verbessern sie automatisch die Entscheidungsqualität. Die bestehende Regelungsdichte zur Bestimmung und Wahl der Schöffen und der hohe Verwaltungsaufwand stehen in keinem angemessenen Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen. Die "demokratische Erdung" besteht nur noch auf dem Papier.  

Als offene Flanke der Justiz für politische Agitation bergen sie zudem das Risiko der Unterwanderung und Aushöhlung von Strafverfahren. Eine grundsätzliche Reform oder gar Abschaffung der Schöffenbeteiligung im Strafrecht noch vor der nächsten Schöffen-Wahlperiode ab dem Jahr 2029 erscheint daher eine drängende Angelegenheit.  

Autor PD Dr. Oliver Harry Gerson ist derzeit Vertreter der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Universität Leipzig. 

Zitiervorschlag

Schöffen im Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56955 (abgerufen am: 25.04.2025 )

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