Streit um Auslegung polnischer Verfassung: Wann darf Gnade vor Recht ergehen?

Gastbeitrag von Oscar Szerkus

08.08.2018

Im Rahmen eines hochbrisanten Polit-Skandals entbrennt ein Disput um Polens Begnadigungsrecht. Warum man sich um eine – möchte man meinen – längst geklärte Angelegenheit des Verfassungsrechts streitet, erläutert Oscar Szerkus.

Das polnische Polit-Drama mit juristischer Starbesetzung geht weiter: Am 17. Juli 2018 entschied das polnische Verfassungstribunal (TK), dass das präsidiale Begnadigungsrecht in jedem Verfahrensstadium wirksam ausgeübt werden kann. Die Folge: Strafverfahren können beendet werden, ohne dass es erst einmal zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommen muss. Aber wieso beschäftigte sich das TK mit einer in der Verfassungsjuristerei – offenbar nur vermeintlich - längst geklärten Angelegenheit?

Die Antwort: Neben der verfassungsrechtlichen Dimension hat die Sache einen brisanten politischen Hintergrund. Ende 2009 wurde gegen den damaligen Chef des polnischen Zentralen Antikorruptionsbüros (CBA) u.a. wegen Amtsmissbrauchs und Urkundenfälschung ermittelt. Als Sonderbehörde ist das CBA insbesondere mit der Bekämpfung von Korruption im öffentlichen Sektor beschäftigt. Mitte 2007 ermittelte das CBA in der sogenannten Grundstücksaffäre, die bis in Regierungskreise reichen soll. Der Druck, zu öffentlichkeitswirksamen Ergebnissen zu kommen, war entsprechend groß.

Die Grundstücksaffäre führt zu zahlreichen Strafverfahren gegen politiknahe Akteure. Die Sache schlug hohe Wellen: Premierminister Jarosław Kaczyński (der jetzige Vorsitzende der Regierungspartei PiS) entlässt seinen Vize und zugleich Agrarminister Andrzej Lepper, danach den Innenminister Janusz Kaczmarek. Die Affäre führte anschließend zu einer Regierungskrise, die seit 2005 bestehende Koalition zerbrach im November 2007.

Gleichzeitig kamen fragwürdige Ermittlungsmethoden des CBA ans Tageslicht. CBA-Chef Mariusz Kamiński wurde daraufhin 2009 entlassen. Im September 2010 erhob die Staatsanwaltschaft gegen Kamiński Anklage. Das medienwirksame Verfahren zog sich in die Länge. Im Juni 2012 stellte das Bezirksgericht Warschau das Verfahren ein. Gegen den Einstellungsbeschluss legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein, mit Erfolg. Nach erneutem Erkenntnisverfahren wurde Kamiński wegen Amtsmissbrauchs zu drei Jahren Haft verurteilt, zudem sollte er zehn Jahre lang kein öffentliches Amt bekleiden dürfen.

Rechtskräftig wird dieses Urteil allerdings nie: Vor Verstreichen der zweiwöchigen Appellationsfrist begnadigt Präsident Andrzej Duda am 16. November 2015 Kamiński. Er teilt dem zuständigen Gericht mit, er stelle das Verfahren hiermit ein.

"Der Präsident begnadigt" – war's das?

In den Augen von Präsident Duda war die Rechtslage schon immer eindeutig. Gem. Art. 139 S. 1 der polnischen Verfassung übt der Präsident das Begnadigungsrecht aus. Fertig, mehr enthalte die Vorschrift nicht, ihr Wortlaut belasse keinen Raum für Zweifel. Das Begnadigungsrecht sei sehr allgemein geregelt, eigentlich nur konturiert. In der Tat lautet die einschlägige Vorschrift: "Der Präsident der Republik übt das Begnadigungsrecht aus."

Interessanter wird es nun, wenn es um die Auslegung geht. Nach einer Meinung müsse Art. 8 Abs. 2 der polnischen Verfassung konsultiert werden. Neben der Feststellung, die Verfassung sei das oberste Gesetz der Republik Polen in Abs. 1 dieser Vorschrift, wird dem Rat suchenden Konstitutionsanwender in Abs. 2 von Hause aus eine durchaus praktikable Anwendungsmethode nahegelegt. Danach sind die Vorschriften der Verfassung "unmittelbar anzuwenden, es sei denn, die Verfassung bestimmt es anders." Für die Deutungsweise des umstrittenen Art. 139 habe dies die Konsequenz, dass der Inbegriff des Begnadigungsrechts unmittelbar und nur aus dieser Vorschrift zu entnehmen sei - und nicht etwa aus einem Zusammenspiel sämtlicher Verfassungsregeln. Abhilfe schaffen soll der Umkehrschluss aus Art. 139 Satz 2, wonach das Begnadigungsrecht keine Anwendung finde bei Verurteilungen durch das Staatstribunal. Das bedeutet im Ergebnis: Solange es sich nicht um eine Entscheidung es Staatstribunals handelt, darf immer begnadigt werden – und zwar auch ohne vorhergehende Verurteilung.

Gegenmeinung: Ohne Verurteilung keine Begnadigung

Andere wiederum wollen sich die Sache nicht so einfach machen. Allen voran das Oberste Gericht Polens (SN). Wir sind wieder bei der causa Kamiński: Das Berufungsgericht entscheidet am 30. März 2016, das Verfahren gegen den ehemaligen CBA-Chef aufgrund des ausgeübten Begnadigungsrechts einzustellen. Hiergegen wenden sich die Nebenkläger mit einem Kassationsgesuch an das SN, das im Beschluss vom 31. Mai 2017 feststellt:

"Das Begnadigungsrecht als Prärogative des Präsidenten der Republik kann ausschließlich gegenüber Personen verwirklicht werden, deren Schuld mit einem rechtskräftigen Urteil festgestellt wurde". Das Argument: Nur nach einer Verurteilung mische sich die Exekutive nicht in die Arbeit der Judikative ein.

Prompt kommt die Reaktion aus dem Präsidentenpalast: In einer Stellungnahme vom 5. Juni 2017 heißt es, das Begnadigungsrecht des Präsidenten sei "zeitlich nicht begrenzt." Zudem habe sich das SN mit einer Sache beschäftigt, in der es "keine Kompetenz hat."

Ein cleverer (Um-)Weg zum Verfassungstribunal

Zum TK kommt die Sache als Kontrollantrag des Generalstaatsanwalts und Justizministers Zbigniew Ziobro. Um das Begnadigungsrecht geht es allerdings auf Umwegen. Weil das Begnadigungsrecht – so heißt es im Antrag – eine "negative Prozessvoraussetzung" sei, "muss es inhaltlich eindeutig und unmittelbar in Gesetzesvorschriften ausgedrückt sein". Damit gelingt Ziobro ein genialer Coup: Das TK muss sich nicht direkt mit dem politisch brisanten Thema auseinandersetzten. An erster Stelle geht es nämlich um einige Vorschriften des Strafverfahrensgesetzes sowie ihre Verfassungsmäßigkeit. Diese sind aber verfassungswidrig, wenn sie nicht die verfahrenseinstellende Wirkung des Begnadigungsrechts berücksichtigen. Und erst hier geht es um die Reichweite des Begnadigungsrechts, d.h. um die eigentliche Frage an das TK.

In seiner Entscheidung schließt sich das Verfassungstribunal der erstgenannten Ansicht an, die Art. 139 isoliert betrachtet. Der Verfassungsrichter Jędrejek erläutert in der mündlichen Entscheidungsverkündung am 17. Juli 2018: "Die grammatische Auslegung [des Art. 139] deutet unmissverständlich darauf, dass der Präsident das Begnadigungsrecht vor einer rechtskräftigen Verurteilung ausüben kann, was zur Einstellung des Strafverfahrens führen sollte." Zudem sei nicht ersichtlich, dass dies zur Beschneidung des Rechts auf den gesetzlichen Richter oder zur Missachtung der Unschuldsvermutung führe.

Wann wird das Begnadigungsrecht härter missbraucht?

Die Entscheidung der polnischen Verfassungsrichter stößt auf Kritik. Im Schrifttum wird zwischen dem Begnadigungsrecht (prawo łaski) und einem sogenannten individuellen Abolitionsrecht (abolicja indywidualna) unterschieden. Nur im letzten Falle kommt es zu einer umfassenden Straflosigkeit – und zwar auch schon vor Verurteilung. Da dies jedoch rechtlich nicht geregelt sei, könne das TK nicht mit der isolierten Auslegung des Art. 139 argumentieren, die sich lediglich auf eine Begnadigung als ultima ratio nach einer endgültigen Rechtswegerschöpfung beziehe.

Die Meinungsverschiedenheiten im Fall Kamiński sind eine Folge der kompromisslosen Bipolarität polnischer Politik, die in den verhärteten Fronten zwischen der regierenden PiS und der Opposition zum Ausdruck kommt. Möglicherweise sind es keine strikt juristischen Argumente, die eine Lösungsfindung unterstützen. Nicht Parteiinteressen, sondern humanitäre Erwägungen liegen einem jeden Begnadigungsrecht zugrunde, das in der Geschichte unabhängig von einer modern verstandenen Gewaltenteilung von herrschenden Monarchen gesprochen wurde.

Zugegeben: Die Begnadigungspraxis folgt diesem Ideal nicht immer. Aber im Kern muss es um die entscheidende Frage gehen: Wann ist das Missbrauchspotenzial größer – wenn begnadigt werden kann, gegen wen noch kein Strafverfahren geführt wird, oder wenn das Begnadigungsrecht den rechtskräftig Verurteilten als letzter Rettungsring vor Strafe bewahrt?

Der Autor Oscar Szerkus ist Rechtsreferendar im Kammergerichtsbezirk (Berlin) und Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische sowie Vergleichende Rechtsgeschichte der Freien Universität Berlin. Er promoviert über die Sondergerichtsbarkeit des Polnischen Untergrundstaates in der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Zitiervorschlag

Streit um Auslegung polnischer Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 08.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30177 (abgerufen am: 03.11.2024 )

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