Für Peter Biesenbach ist die Justiz ein Standortfaktor, den es zu stärken gilt. Ein Gespräch über Justizausstattung, den Richterjob als Eckpfeiler der Demokratie und seine Reaktion auf den Fall Sami A.
LTO: Herr Minister, Sie sprechen regelmäßig vom "Standortfaktor" Justiz. Was meinen Sie damit?
Peter Biesenbach: Die Justiz soll für Unternehmen ein Wirtschaftsfaktor sein, denn sie überlegen sich genau, an welchen Gerichtsstandort sie gehen, um rechtssichere Entscheidungen zu bekommen.
Der Brexit im kommenden Jahr bietet für Deutschland und für Nordrhein-Westfalen viele Möglichkeiten. Die entstehende Lücke möchte ich schließen, nach dem Motto "Law made in Germany" oder "Law made in NRW".
"Commercial Courts beim OLG: Rechtsfortbildung, Einheitlichkeit, Rechtssicherheit"
Derzeit führen Unternehmen ihre wichtigen Verfahren vor allem vor privaten Schiedsgerichten. Die möchten Sie bewegen, sich stattdessen an staatliche Gerichte zu wenden?
Genau. Ich möchte diese Verfahren aus der Black Box der Schiedsverfahren herausholen und entweder vor den bestehenden Handelskammern oder den noch zu schaffenden "Commercial Court" an einem Oberlandesgericht konzentrieren. Dort sind die Richter in der Lage, sich tief in die Sache einzuarbeiten. Nur bei staatlichen Gerichten können wir Rechtsfortbildung, Einheitlichkeit und Rechtssicherheit gewährleisten.
NRW hat den Vorsitz in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe inne, die an einem Entwurf für die geplanten "Commercial Courts" arbeitet. Bis zur Frühjahrskonferenz der Justizminister werden wir einen solchen vorlegen. Anknüpfen wird der Entwurf vermutlich an gewisse Streitwertgrenzen, ab denen Unternehmen sich an die Commercial Courts oder Handelskammern wenden können.
"Staatliche Gerichtsbarkeit: Ausschluss der Öffentlichkeit möglich machen"
Glauben Sie, dass die Unternehmen diese Veränderung mitgehen? Diese schätzen Schiedsverfahren ja vor allem deshalb, weil ihre Streitigkeiten dort nicht an die Öffentlichkeit kommen.
Bei diesen Verfahren, in denen es auch um Geschäftsgeheimnisse gehen kann, sollte es möglich sein, die Öffentlichkeit auszuschließen. Zudem sind staatliche Gerichtsverfahren für die Unternehmen häufig deutlich günstiger.
Außerdem müssten sie sich nicht mehr über Verfahrensregeln einigen und keine Diskussion über mögliche Schiedsrichter führen. Gutes Personal für derartige Verfahren haben wir: gute Richter, vor allem auch junge Leute mit einem im Ausland erworbenen LL.M., die natürlich Verfahren auf Englisch führen können – und das auch gern wollen.
Und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit gäbe es, sofern die Unternehmen nicht beide auf Rechtsmittel verzichten, mit dem Bundesgerichtshof eine weitere Instanz. Das ist bei Schiedsverfahren anders: Wenn es dort schlecht läuft, haben die Unternehmen einen Schiedsspruch, mit dem sie nicht glücklich sind.
"Die Verwaltungsgerichte haben, was sie brauchen"
Das müsste die Justiz allerdings auch leisten können. Derzeit entspannt sich die Lage bundesweit, vor allem an den Verwaltungsgerichten, erst langsam. Sie haben zuletzt 1.135 Stellen in NRW geschaffen. Dennoch ist nach Angaben des Richterbunds NRW die ordentliche Gerichtsbarkeit noch immer zu circa 110 Prozent ausgelastet, die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die die Asylverfahren zu entscheiden hat, mit fast 190 Prozent völlig überlastet. Dort fehlten zum 31. Dezember vergangenen Jahres nach Angaben des Richterbunds über 400 Stellen. Was tun Sie, um das zu ändern?
Die Verwaltungsgerichte sind ganz zufrieden. Sie haben uns in der Haushaltsdebatte gesagt, was sie sich wünschen, und das haben sie auch bekommen. Es geht bei diesen Überlegungen ja nicht immer nur darum, neue Stellen zu schaffen.
Dem aktuellen Personalbedarf an den Verwaltungsgerichten etwa begegnen wir mit Abordnungen von anderen Gerichtsbarkeiten. Das ist auch sinnvoll, weil wir nicht so viele Richter an den Verwaltungsgerichten einstellen können, wie es der akute Personalbedarf vielleicht erfordern würde. Denn die Verfahren werden bald abgearbeitet sein, dann benötigen wir auch nicht mehr die große Anzahl an Richtern.
"Jurist in der Justiz: Arbeiten für den Eckpfeiler der Demokratie"
Stellen sind eine Sache, ihre Besetzung eine andere. Die Justiz hat schon jetzt Probleme, gute Leute zu finden. Wie wollen Sie die Arbeit als Richter oder Staatsanwalt attraktiver machen?
Das kann ich so zumindest für NRW nicht bestätigen. Wir stellen immer noch sehr gute Bewerber ein. In Köln und Düsseldorf sind die Stellen leicht zu besetzen, in Hamm ist es für die ländlichen Regionen etwas schwieriger.
Bleiben die Leute auch? Schließlich zahlt die Justiz zum Teil gerade mal ein Drittel des Einstiegsgehalts, das junge Topjuristen in großen Kanzleien erzielen können.
Natürlich, wer sehr viel Geld verdienen will, ist bei uns falsch. Aber in der Justiz geht es eben auch um andere Dinge: Wir sind die Eckpfeiler der Demokratie, als Staatsanwalt oder Richter kann man etwas bewegen. Und viele junge Juristen wechseln aus einer Kanzlei in die Justiz. Dort sagt ihnen niemand, was sie zu tun oder wessen Interessen sie zu vertreten haben, sondern sie können Recht sprechen.
Zudem bietet die Justiz neben mehr Work-Life-Balance, Krisensicherheit und dem richterlichen Anspruch auf einen Heimarbeitsplatz auch große Spielräume: Einerseits kann man sich, wenn man das möchte, hochgradig spezialisieren; allein in NRW gibt es Spezialeinheiten zur Terrorismusbekämpfung, für Cybercrime und Clan-Kriminalität. Andererseits kann man, wenn man auf eine bestimmte Richtung keine Lust mehr hat, auch in andere Bereiche wechseln.
"Digitalisierung: Zum 1. Januar 2026 sind wir fertig"
Die Digitalisierung kommt in der Justiz eher schleppend voran. Derzeit können in NRW nur die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit ihre Dokumente elektronisch versenden, die ordentliche Gerichtsbarkeit ist noch damit beschäftigt, ihren Posteingang zu digitalisieren und die Abläufe an die Gegebenheiten der elektronischen Akte anzupassen.
Ich bin bereit, die Wette einzugehen, dass bis 2026 alles läuft.
Am 1. Januar 2022 müssen Dokumente elektronisch versandt werden, ab dem Jahr 2026 die Aktenführung digitalisiert sein.
Ab dem 1. Januar 2022 müssen alle professionellen Einreicher (z.B. Rechtsanwälte) ihre Dokumente elektronisch an die Gerichte versenden. Wir sind bereits seit dem 1. Januar 2018 empfangsbereit.
Auch die elektronische Akte schafft die NRW-Justiz. Am 25. Oktober werde ich am Landgericht Bochum die dort bereits laufende E-Akte vorstellen. Der Masterplan aus der IT-Abteilung sieht vor, dass alle Gerichte bis Anfang 2025 vollständig auf die elektronische Akte umgestellt sind.
Zunächst wird die IT aller Gerichte zentralisiert und im Rechenzentrum in Münster zusammengeführt. Das soll bis Mitte 2021 geschehen. Alle Landgerichte in NRW werden bereits Ende dieses Jahres zentral angebunden sein, am längsten dauern natürlich die vielen Amtsgerichte. Danach geht es nur noch um die E-Akte, die bis Anfang 2025 flächendeckend eingeführt sein soll. Im Anschluss daran haben wir rund ein Jahr Puffer. Zum 1. Januar 2026 sind wir fertig.
"Religion gehört nicht in den Gerichtssaal"
In der kommenden Woche stehen gleich zwei Anträge aus NRW auf der Tagesordnung des Bundesrats, die die Justiz betreffen: Eine Vorschrift im Gerichtsverfassungsgesetz soll die Gesichtsverhüllung von an der Verhandlung beteiligten Personen vor Gericht verbieten. Aber Sie gehen weiter und haben einen Entwurf für ein Neutralitätsgesetz vorgelegt – es würde Justizangehörigen jede weltanschaulich anmutende Kleidung untersagen, auch das vielzitierte Kreuz an der Halskette. Einigen Ihrer Parteikollegen gefällt das nicht. Sie aber sagen: "Religion gehört nicht in den Gerichtssaal".
Wir gehen mehrgleisig vor: Das Neutralitätsgesetz ist in NRW schon durchs Kabinett. Auf der Richterbank wollen wir vollständige Neutralität. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass ein Staatsanwalt, ein Richter oder auch ein Schöffe irgendwie voreingenommen ist. Bis zur Tür des Gerichtssaals ist alles möglich, ab dann möchte ich Neutralität. Sobald der Staat hoheitlich tätig wird, hat er sich neutral zu verhalten.
Auf der Bundesebene möchten wir ein Verbot der Gesichtsverhüllung während jeder Gerichtsverhandlung für alle Verfahrensbeteiligten, also für Parteien, Beschuldigte, Rechtsanwälte, Zeugen und Sachverständige. Der Richter muss zur Wahrheitsfindung auch einen klaren Blick auf die Gesichter haben.
Der zweite Antrag aus NRW betrifft den Pakt für den Rechtsstaat – gern zitiert, aber wer soll ihn bezahlen? Justiz ist grundsätzlich Ländersache. Nun will NRW Geld vom Bund für die Justiz. Welche Chancen räumen Sie dem Entschließungsantrag ein?
Wir haben uns mit den übrigen Bundesländern verständigt, dass wir das Thema um zwei Sitzungen verschieben. Wir wollten den Druck auf den Bund erhöhen – nun gibt es von dort Signale und wir setzen darauf, dass das Thema weiterverfolgt wird.
"Richter brauchen niemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen"
Herr Minister, wir müssen noch über den Fall Sami A. sprechen – oder besser über Ihre Reaktion auf die Abschiebung des Gefährders trotz des noch laufenden Eilverfahrens. Das geschah mit Wissen von Integrationsminister Stamp. Innenminister Reul hat im Nachgang dazu gefordert, die Gerichte sollten sich bei der Rechtsprechung auch am "Rechtsempfinden der Bevölkerung" orientieren. Sie haben beides - zumindest öffentlich - nicht kritisiert. Die Opposition im Landtag, aber auch Richter sowie die Neue Richtervereinigung haben Ihnen vorgeworfen, Sie hätten sich nicht hinter "Ihre" Justiz gestellt.
Dazu habe ich bereits im Rechtsausschuss ausführlich Stellung genommen: Wir haben top Richter, die getan haben, was sie tun sollen, nämlich nach Recht und Gesetz entschieden. Nach dem, was ich aus der Justiz höre, fühlt man sich dort keineswegs "vernachlässigt". Die Richter brauchen niemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Ein Justizminister ist Chef der Justizverwaltung, kein Oberschiedsrichter.
Es geht ja auch eher darum, dass so mancher Richter sich gewünscht hätte, dass sie der Exekutive, also auch ihren Kollegen in der Landesregierung, gesagt hätten, dass sie die Urteile der Justiz umsetzen müssen.
Das muss man nicht sagen, das ist selbstverständlich. Natürlich haben wir die Gewaltenteilung und natürlich werden wir Urteile umsetzen.
"Der Rechtsstaat braucht keine Verteidigung"
So selbstverständlich scheint das derzeit nicht unbedingt zu sein. Die Stadt Wetzlar hat sich geweigert, Anordnungen des BVerfG umzusetzen, die Stadt Büdingen änderte verfassungswidrig ihre Satzung, um die NPD-Fraktion von Zuwendungen auszuschließen. Auch in der Justiz, bis hin zu Vertretern der obersten Bundesgerichte und des BVerfG, ist man äußerst besorgt über den Zustand des deutschen Rechtsstaats. BGH-Präsidentin Bettina Limperg sagte vor einigen Wochen: "Es läuft etwas schief, auch in Deutschland." Halten Sie das wirklich für überzogen?
Ich habe nicht das Gefühl, dass hier etwas schiefläuft. Wenn doch, müssten wir mit den Städten darüber reden. Ich glaube aber, es ist gerade nur ein Zusammentreffen von Ereignissen. Denn vergleichbare Fälle gab es immer, sie wurden nur medial nicht so hochgezogen. Wenn die NPD früher eine Halle nicht bekam, dann war das eine Zeitungsnotiz – und mehr nicht.
Es ist ja richtig, Sorgen zu äußern. Doch für mich ist es sogar eine Bestätigung, dass der Rechtsstaat funktioniert, wenn deutschlandweit als Reaktion auf den Fall Sami A. oder die Ereignisse in Wetzlar geäußert wird, wir müssten den Rechtsstaat verteidigen. Mich macht es stolz, dass die Bewährungsprobe so positiv ausgefallen ist. Und so lange das so ist, brauchen wir uns um den Rechtsstaat keine großen Sorgen zu machen.
Herr Minister, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Peter Biesenbach (CDU) ist seit dem 30. Juni 2017 Justizminister in Nordrhein-Westfalen im Kabinett von Armin Laschet. Bis dahin war er als selbständiger Rechtsanwalt in einer Sozietät im oberbergischen Hückeswagen tätig.
NRW-Justizminister Biesenbach im Interview: . In: Legal Tribune Online, 12.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30889 (abgerufen am: 12.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag