Weil das Verfahren zu lange dauerte, musste in Brandenburg ein verurteilter Ex-NPD-Politiker aus der U-Haft entlassen werden. Der Beschluss des OLG zeigt, was schief gelaufen sei: "nicht nachvollziehbare Fehler" beim LG Potsdam und BGH.
Erhebliche Fehler beim Landgericht Potsdam (LG), aber auch beim Bundesgerichtshof (BGH) haben dazu geführt, dass der ehemalige NPD-Politiker Maik Schneider aus der U-Haft entlassen wurde. Das geht aus der Begründung des Beschlusses (Az. 1 Ws 203/18) des Oberlandesgerichts (OLG) Brandenburg hervor, der LTO vorliegt.
Zwar seien Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Brandstifter vor den Strafkammern des Landgerichts (LG) Potsdam stringent und zügig geführt worden, heißt es in der Begründung. Nach Erlass des Urteils aber sei es in erster Instanz im Februar 2017 zu "erheblichen Verfahrensverzögerungen gekommen". Diese hätten sich auf mehr als sechs Monate summiert. Die Verzögerungen seien "nicht nachvollziehbar und daher der Justiz zuzurechnen", so der OLG-Senat.
Schneider war kürzlich nach knapp drei Jahren aus der U-Haft entlassen worden. Seit März 2016 saß er in der Justizvollzugsanstalt Neuruppin-Wulkow. Ihm wird vorgeworfen, im Sommer 2015 in Nauen (Havelland) eine Sporthalle in Brand gesteckt zu haben, die als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen war. Das Urteil des LG Potsdam aus dem Februar 2017 gegen ihn ist nicht rechtskräftig und die Revision läuft noch.
Stresstest für die Brandenburger Justiz
Der Beschluss des OLG führt eine ganze Reihe von Verzögerungen auf. Oft geht es um einige Wochen, über die vielen Stationen hinweg summieren die sich aber auf Monate.
So vergingen von der Verkündung des Urteils am 9. Februar 2017 bis zur Fertigstellung des Protokolls am 7. Juli 2017 fünf Monate. Obwohl das Urteil selbst bereits ab dem 12. April 2017 bei der Geschäftsstelle des LG Potsdam eingetroffen war, brauchte man dort noch einmal knapp drei Monate, bis dort das Protokoll fertig war. Nach § 273 Abs. 4 Strafprozessordnung (StPO) darf das Urteil erst zugestellt werden, wenn das Protokoll fertig gestellt ist. Durch diese Verspätung habe sich der Fortgang des Revisionsverfahrens gegen Schneider erheblich verzögert. Der Beschluss verweist auf die Regelung des § 345 Abs. 1 StPO: Die Frist für die Revisionsbegründung bei den Verteidigern beginnt erst mit der Zustellung des Urteils.
Das LG Potsdam begründet die Verzögerung mit der Vielzahl an Verfahren, mit denen die Kammern beschäftigt gewesen seien. "2017 haben doppelt so viele Haftsachen vorgelegen wie sonst üblich", sagte Gerichtssprecher Sascha Beck der Deutschen Presseagentur (dpa). In Haftsachen gelte das Beschleunigungsgebot, weshalb wohl zu viele Verfahren terminiert worden seien. Den Beschluss des OLG nehme das Gericht zur Kenntnis und wolle die angesprochenen Verzögerungen prüfen, hieß es weiter.
Wann beginnt eine Verzögerung?
Aus Sicht des OLG dagegen waren die Verzögerungen "vermeidbar" und "sachlich nicht gerechtfertigt". Das Protokoll habe mit 165 Seiten nebst Anlagen auch "keinen außergewöhnlichen Umfang erreicht", so der Senat.
Im Gespräch mit LTO betont Gerichtssprecher Beck, es gebe im Gesetz keine Frist für die Erstellung des Protokolls. "Der Ansatz, den das OLG hier verfolgt, ist zwar durchaus nachvollziehbar, war aber bisher nicht in der Rechtsprechung verankert", so Beck. "Das OLG scheint da eine neue Rechtsprechungslinie begründen zu wollen."
Das OLG verweist in der konkreten Frage allerdings auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Danach verlangt das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen, dass das Protokoll im unmittelbaren Anschluss an die Verhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt.
Bei der Anordnung und Überprüfung der Untersuchungshaft sei nach dessen Rechtsprechung ständig zu prüfen, ob die Beschränkung des in Art. 2 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes (GG) garantierten Rechts auf persönliche Freiheit wegen des staatlichen Interesses an der Strafverfolgung gerechtfertigt sei. Diese Grundsätze sollen während des gesamten Strafverfahrens gelten, referiert das OLG – und eben auch für die Absetzung und Zustellung des Urteils, sowie der Weiterleitung von Akten.
"Bekannte außerordentliche Belastung" am LG Potsdam
Im Verfahren gegen Schneider setzten sich die Verzögerungen fort. Zwar war die Zustellung von Urteil und Protokoll der Hauptverhandlung dann am 10. Juli 2017 verfügt worden, die Geschäftsstelle beim LG Potsdam führte sie aber erst am 4. August 2017 aus. Üblich, so das OLG Brandenburg, sei für diesen Vorgang eine Bearbeitungszeit von drei Tagen – stattdessen entstanden weitere drei Wochen Verspätung.
Das OLG betont ausdrücklich die "auch dem Senat bekannte außerordentliche Belastung" am LG Potsdam. Es sieht aber als Grund vor allem strukturelle Defizite: "Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen."
Ein Sprecher des Justizministeriums Brandenburgs sagte gegenüber LTO, man nehme die Entscheidung zur Kenntnis. Eine weitere Stellungnahme werde es nicht geben. Zur Begründung verwies er auf die richterliche Unabhängigkeit.
Laut dem Beschluss sind weitere Wochen der Verzögerung auch bei der Staatsanwaltschaft Potsdam entstanden. Am 5. Oktober hätten die Ankläger die Revisionsgegenerklärung nach § 347 Abs. 1 S. 2 StPO abgegeben, die Akten aber hätten sie erst am 1. November 2017 an den BGH geschickt. Auch hier sind laut OLG drei Tage Bearbeitungszeit üblich, stattdessen verzögerte sich das Verfahren auch hier um drei Wochen.
Verzögerung auch beim BGH
Der Beschluss übt auch Kritik am zeitlichen Ablauf des Verfahrens beim BGH. Der hat das Urteil im Rahmen des Revisionsverfahrens gegen den Neonazi Schneider am 6. März 2018 aufgehoben. Zwar habe das BVerfG grundsätzlich festgestellt, dass die Zeitspanne des Revisionsverfahrens nicht in die Überlänge des Gesamtverfahrens hinzuzurechnen sei – allerdings mit einer gewichtigen Ausnahme: Wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlichen Justizfehlers diente. Und ein solcher Fall habe bei Schneider vorgelegen: Bei dem erstinstanzlichen Urteil am LG Potsdam habe ein befangener Schöffe mitgewirkt
Am 6. März 2018 habe der 3. Strafsenat des BGH einstimmig den Beschluss gefasst, das Urteil des LG Potsdam wegen des befangenen Schöffens aufzuheben. Die Entscheidung sei in Potsdam aber erst am 1. Juni 2018 zugestellt worden, auch die Akten seien erst danach wieder eingetroffen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Schneider bereits zwei Jahre in Untersuchungshaft.
Die Pressesprecherin des BGH verwies auf Anfrage von LTO darauf, dass es ihr nicht zustehe, zu dem Beschluss des OLG Stellung zu nehmen oder ihn zu bewerten.
Verteidiger: "Juristisch war das ein Elfmeter ohne Torwart"
"Gänzlich überrascht worden sind wir nicht von dem Beschluss", sagt Gerichtssprecher Beck zu LTO. Bereits im Dezember 2018 hatte das OLG Brandenburg eine ganz ähnliche Entscheidung zur überlangen Verfahrensdauer am LG Potsdam getroffen. Damals kam ein wegen Mordes verurteilter Mann auf freien Fuß. Beck betonte, dass die personelle Ausstattung des Gerichts abseits der Richterstellen bei solchen Verfahrensverzögerungen ebenfalls eine wichtige Rolle spiele. Schließlich seien am LG sämtliche Geschäftsstellenmitarbeiter auch Protokollhilfen.
Auch für Schneiders Verteidiger, Sven-Oliver Milke, war die Begründung des OLG vorhersehbar: "Juristisch war das ein Elfmeter ohne Torwart", sagte Milke. Das BVerfG habe genaue Vorgaben für die Dauer der Untersuchungshaft gemacht. Das habe das OLG erkannt.
Am Donnerstag wollte sich eigentlich der Rechtsausschuss des Landtags erneut mit der Haftentlassung Schneiders befassen. Wegen einer Bombenentschärfung auf dem Areal der nördlichen Speicherstadt wurde die Sitzung aber in die vierte Kalenderwoche verschoben.
Mit Material der dpa
Justiz-Pannen in Neonazi-Verfahren: . In: Legal Tribune Online, 16.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33255 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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