Seit drei Jahren sind bei Urteilsverkündungen an Bundesgerichten Kameras zugelassen. Die anfänglichen Befürchtungen der Justiz haben sich nicht bewahrheitet, beeinflusst haben die Kameras Gerichtsarbeit und Berichterstattung trotzdem.
Im Juli 2018 fand am Bundesgerichtshof (BGH) eine kleine Premiere statt. Der dritte Senat sprach sein Urteil in Sachen Vererbbarkeit eines Facebook-Kontos und das Volk, in dessen Name er das Urteil verkündete, konnte dabei sein. Nicht nur wie üblich im Gerichtsaal, sondern auch zeitgleich von zu Hause aus über einen Livestream im Internet. Was in anderen Ländern zu diesem Zeitpunkt längst üblich war, nämlich die Live-Übertragung einer Urteilsverkündung, war für die deutsche Justiz – abgesehen vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – eine Neuheit.
Möglich machte das ein Gesetz, welches erst wenige Monate zuvor, nämlich am 19. April 2018 in Kraft getreten war. Das "Gesetz über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren" (EMöGG) erlaubt seitdem Filmaufnahmen der Urteilsverkündungen an den fünf obersten Bundesgerichten. Vorher war das nach dem Gerichtsverfassungsgesetz verboten. Die Richterschaft war zunächst skeptisch, befürchtete gar, dass die Filmaufnahmen negative Auswirkungen auf die Arbeit und Außenwirkung der Bundesgerichte haben könnten. Mittlerweile hat sich die Justiz jedoch an die Kameras gewöhnt.
"Vielleicht waren einige der Vorsitzenden Richterinnen und Richter anfangs etwas nervös", erzählt die Pressesprecherin des BGH, Dietlind Weinland, in Bezug auf die ersten aufgezeichneten Verkündungen. "Das hat sich nach meinem Eindruck aber vollständig gelegt."
Kameras immer häufiger zugelassen
Ziel des EMöGG war und ist es, den Menschen den Rechtsstaat näherzubringen. Doch die Justiz hatte vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Bedenken gegen die Reform. Die Aufzeichnungen könnten geschnitten und die Aussagen der Richterinnen und Richter verzerrt werden, lautete einer der Einwände. Außerdem werde der Fokus durch die Aufnahmen auf die Präsentation der Inhalte gelegt, nicht mehr auf die Inhalte selbst. Deshalb war der Gesetzgeber zu einem Kompromiss bereit: Die Senate können die Aufzeichnung ihrer Urteilsverkündungen auch ablehnen.
Passiert ist das bislang aber fast nie. Auch im Übrigen zeigen die Zahlen, dass sich die Richterschaft so langsam mit den Kameras arrangiert. Am BGH liefen die Kameras im Jahr 2019 bei 43 Verkündungen. Im Jahr 2020 wurden immerhin 34 Verkündungen mitgeschnitten – eine immer noch beachtliche Zahl vor dem Hintergrund, dass die BGH-Senate im Corona-Jahr zurückhaltender terminierten und stattdessen häufiger im schriftlichen Verfahren entschieden.
An den anderen Bundesgerichten sind die Zahlen dagegen deutlich niedriger, was jedoch auch auf weniger Medienanfragen zurückzuführen ist. Beim Bundesarbeitsgericht wurden seit Inkrafttreten des EMöGG Aufnahmen bei sieben Verkündungen zugelassen. Vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) gab es vier Verkündungen vor laufender Kamera. Das Bundessozialgericht führt über EMöGG-Verfahren nach eigenen Angaben keine Statistik, allerdings wurden auch dort schon mehrfach Aufnahmen zugelassen. Schlusslicht ist der Bundesfinanzhof: Dort wurden noch keine EMöGG-Verfahren durchgeführt.
Höherer Organisationsaufwand, präzisere Texte
Was die Zahlen nicht verraten: Das EMöGG hat die Arbeit der Bundesgerichte beeinflusst.
Das betrifft zunächst die Organisation der Termine. Die Ermöglichung von Filmaufnahmen führe zu einem organisatorischen Mehraufwand bei der Vorbereitung und Durchführung der Termine, so BGH-Pressesprecherin Weinland. Im Vorfeld müsse die Pressestelle für die Kamerateams ein Akkreditierungsverfahren durchführen, weil in den Sälen des BGH nur Platz für zwei Kamerateams sei. Kurz vor dem jeweiligen Termin müsse außerdem die Tontechnik im Saal und während des Termins der geordnete Ablauf überprüft werden.
Die Anwesenheit der Kameras hat aber auch Einfluss auf die Verkündung selbst. "Ich habe das Gefühl, dass an dem mündlich vorgetragenen Text noch mehr gefeilt wird", sagt Weinland, die selbst BGH-Richterin ist. Nach ihrem Eindruck geht dadurch auch ein Stück weit die Lebendigkeit, manchmal sogar die Verständlichkeit für Nicht-Juristen, verloren. Wenn keine Kameras im Raum sind, werde überwiegend frei vorgetragen. Sobald die Kameras aber laufen, werde nun häufig ein hochpräziser juristischer Text vorgetragen.
"Das kann sich daraus erklären, dass bei manchen Vorsitzenden die Sorge besteht, eine juristisch ungenaue Formulierung würde durch die Aufzeichnung verfestigt", so Weinland.
Aufnahmen in voller Länge verfügbar: "Das ganze Bild"
Frank Bräutigam, Leiter der in Karlsruhe ansässigen ARD-Rechtsredaktion, war von Anfang an ein Befürworter des EMöGG. "Dank des Gesetzes sprechen die Personen, die den Fall entschieden haben, selbst", sagt Bräutigam. Das sei in der Berichterstattung auch normal. "In anderen Bereichen, beispielsweise der Politik, ist es der Regelfall, dass diejenige Person, die entscheidet, auch selbst dazu vor einem Mikrofon oder in eine Kamera spricht." Es gebe keine Gründe, weshalb dies nicht auch bei den Bundesgerichten so gehandhabt werden sollte.
"Die Pressesprecherinnen und Pressesprecher haben trotzdem weiter eine zentrale Rolle, etwa bei Beschlüssen ohne Verkündung, und insgesamt als zentrale und kompetente Ansprechpartner", meint Bräutigam.
Dabei verwendet seine Redaktion bewusst nicht nur Ausschnitte aus den aufgezeichneten Verkündungen für ihre Radio- und Fernsehbeiträge, sondern stellt einige der Aufzeichnungen auch in voller Länge ins Internet, zum Beispiel bei Youtube im Kanal von Phoenix. "Das zeigt das ganze Bild", sagt Bräutigam.
Angesichts der Auswirkungen, die Gerichtsurteile auf die Gesellschaft haben können, sei es auch angemessen, bestimmte Urteilsverkündungen in voller Länge zu zeigen, meint Bräutigam und zieht einen Vergleich zur Legislative. Bundestagsdebatten könne die Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren im Fernsehen oder im Internet mitverfolgen. Dank des EMöGG können sich Interessierte nun auch Verkündungen bestimmter Urteile der Bundesgerichte in voller Länge ansehen, ohne vor Ort sein zu müssen. "Beides hat für mich die gleiche Relevanz", so Bräutigam.
"Mein Eindruck nach drei Jahren Praxis ist, dass sich die anfänglichen Befürchtungen der Justiz nicht bewahrheitet haben", meint der Rechtsjournalist. In der Praxis funktioniere der Ablauf der Filmaufnahmen bei den Verkündungen gut. Aufzeichnungen der Urteilsverkündungen werden fast nie abgelehnt. Bräutigam hat auch den Eindruck, dass sich die Richterschaft für die Möglichkeit, ihre Urteilsverkündungen aufzeichnen zu lassen, zunehmend offen zeigt. Daher sei das EMöGG eine Bereicherung, sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die Berichterstattung.
Gerichte ziehen positives Fazit
Und wie bewertet die Richterschaft die Reform nach drei Jahren? Carsten Tegethoff, Pressesprecher des BVerwG, zieht ein positives Fazit. Seiner Meinung nach können die Filmaufnahmen der Verkündungen zu einem besseren Verständnis von Gerichtsentscheidungen führen.
Ähnlich sieht es BGH-Pressesprecherin Dietlind Weinland. Die Filmaufnahmen, so Weinland, ermöglichen es der Öffentlichkeit, sich ein Bild von der Tätigkeit eines Bundesgerichts zu machen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Timo Conraths ist Rechtsanwalt und Journalist. Als Journalist berichtete er unter anderem für ARD und SWR vom BGH und vom BVerfG in Karlsruhe.
Medienöffentlichkeit bei Gericht: . In: Legal Tribune Online, 19.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44754 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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