Droht Justiz der Stillstand?: Stand off in Thüringen

von Dr. Markus Sehl

01.04.2025

Die AfD blockiert im Thüringer Landtag die Wahlausschüsse für neue Richter und Staatsanwälte. Die Brombeer-Koalition setzt auf riskante Lösungen. Es läuft ein Spiel auf Zeit und mit der Rechtsunsicherheit. Nun steht die nächste Abstimmung an.

In Thüringen soll die Justiz durch die Haltung der AfD blockiert sein, genauer die Ernennung von Proberichtern und Staatsanwälten auf Lebenszeit. So war es kürzlich in vielen Medien zu lesen. Erleben wir also eine Machtdemonstration, was passiert, wenn die AfD in Parlamenten über eine Sperrminorität verfügt? Und was ist zu erwarten, wenn nun Anfang April die Brombeer-Koalition aus CDU, SPD und BSW erneut versucht, den Richterwahlausschuss zu besetzen?

Vieles deutet daraufhin, dass in Thüringen derzeit ein Stand Off stattfindet: keine Seite bewegt sich, weder Brombeer noch AfD und das aus guten Gründen. Ein Spiel auf Zeit - und eines auf Kosten des wertvollen Guts der Rechtssicherheit.

Warum Höcke triumphierend die Arme nach oben reißt

Aber ganz von vorne. In Thüringen werden Richter und Staatsanwälte durch einen entsprechenden Wahlausschuss gewählt.  Seine Mitglieder prüfen, ob eine Bewerberin oder ein Bewerber persönlich und fachlich für das Richteramt geeignet ist. Der oder die Justizministerin darf Kandidaten auf Lebenszeit nur ernennen, wenn der Ausschuss zugestimmt hat. Es handelt sich also um ein für die Funktionsfähigkeit der Justiz wichtiges Gremium. 

Vorausgesetzt wird der Richterwahlausschuss sogar von der Thüringer Verfassung (Art. 89), die genaueren Abläufe regelt das Thüringer Richter- und Staatsanwältegesetz (ThürRiStAG). Der Staatsanwaltswahlausschuss ist, anders als der Richterwahlausschuss, nicht von der Verfassung vorgesehen. Der Ausschuss für den Richternachwuchs soll sich aus zehn Abgeordneten des Landtags zusammensetzen, zwei Richtern als ständigen Mitgliedern, und jeweils drei Richtern des entsprechenden Gerichtszweigs, in den die Kandidaten wollen. Hinzu kommen Vertreter für jedes Mitglied im Gremium. Ähnlich ist der Staatsanwaltswahlausschuss besetzt, hier sind es zehn Abgeordnete des Landtags, fünf Staatsanwälte, plus Vertreter für jedes Mitglied. Die Zusammensetzung zeigt schon: Es handelt sich nicht um klassische Parlamentsausschüsse unter dem Dach des Landtags, sondern um Sondergremien. 

Eigentlich sollen die Ausschüsse jede Legislatur mit neuen Landtagsmitgliedern besetzt werden. Dazu wählt der Landtag sie "zu Beginn jeder Wahlperiode" – und zwar mit Zwei-Drittel-Mehrheit, so der § 51 ThürRiStAG.

Hier kommt nun die AfD-Fraktion ins Spiel. Seit der Landtagswahl im Herbst 2024 ist die AfD stärkste Kraft in Thüringen, sie verfügt im Landtag über 32 der 88 Sitze. Weit entfernt von einer absoluten Mehrheit, aber mit einer Sperrminorität ausgestattet. Ohne sie geht nichts mehr, überall da, wo eine Zwei-Drittel-Mehrheit gebraucht wird. Und diese Lage nutzt die AfD-Fraktion jetzt, um die Wahl neuer Abgeordneter aus dem Landtag in den Richterwahlausschuss zu verhindern. Dort sind bislang erfolgreich nur die AfD-Kandidaten gewählt worden, notwendigerweise auch mit Stimmen der Brombeer-Regierungskoalition. Dabei blieb es. Die Kandidaten der anderen Parteien wählt die AfD nicht mit. Nach dem letzten gescheiterten Anlauf Anfang März, das Gremium vollständig zu besetzen, hatte sich AfD-Landes- und Fraktionschef Björn Höcke triumphierend zurückgelehnt und die Arme in die Höhe gerissen.

Folgen im Wettbewerb um Nachwuchsjuristen?

Die AfD blockiert die Bildung der Ausschüsse, weil sie sich im Landtag ungerecht behandelt fühlt. Sie beansprucht nicht nur den Posten eines Vizepräsidenten des Landtags für sich, sondern auch zwei Sitze in dem fünfköpfigen parlamentarischen Kontrollgremium und einen in der G-10-Kommission des Landes. Bei den beiden Gremien handelt es sich um äußerst sensible Formate, sie kontrollieren die Arbeit der Geheimdienste etwa bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen. Soll eine Partei dorthin Vertreter entsenden dürfen, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft und beobachtet wird?

Das ist die Ausgangslage aktuell. Hinzu kommt, derzeit sollen in Thüringen etwa 30 Stellen für Richter und Staatsanwälte unbesetzt sein. Das Justizministerium fürchtet ohnehin um die Attraktivität des Justizstandortes, bundesweit plagen die Justiz Nachwuchssorgen angesichts einer Pensionierungswelle. Dabei sahen die Bewerberzahlen zuletzt in Thüringen alles andere als katastrophal aus, die dortige Justiz als juristischer Arbeitgeber scheint beliebt. Allerdings in Zukunft immer nur Proberichter ohne Perspektive auf Lebenszeiternennung einzustellen, das wird nicht helfen.

Knappes Zahlenspiel – Richterwahlausschuss mit gerupfter demokratischer Legitimation

Also was tun gegen die Blockade? Rechtliche Schützenhilfe bekommen Landesregierung und Landesjustizministerin Beate Meißner (CDU) vom Jenaer Rechtsprofessor Michael Brenner. Er hat – im Auftrag des Justizministeriums – ein zwölfseitiges Gutachten erstellt, es liegt LTO vor. Darin dekliniert Brenner die einfachgesetzliche Rechtslage durch und kommt in allen Fragen zugespitzt zum Ergebnis: Dank Übergangsregelungen, etwa § 52 Abs. 2 ThürRiStAG bleiben Richter- und Staatsanwaltswahlausschuss handlungsfähig. Besetzt mit Personal aus der letzten Legislatur. Sodass es auf eine durch die AfD blockierte Neubesetzung der Ausschüsse nicht ankommt. 

Wenig überraschend schloss sich das Justizministerium der Rechtsauffassung aus dem beauftragten Gutachten an. "Das ist eine wichtige Erkenntnis und auch eine gute Botschaft für die Thüringer Justiz", sagte Meißner zu den Ergebnissen des Gutachtens. 

Brenner konzentriert sich in seinem Gutachten darauf, wer bis zu einer Neubesetzung noch im Richterwahlausschuss verbleibt. Ein Zahlenspiel und eine knappe Sache, denn nur vier Vollmitglieder haben den Wiedereinzug in den neuen Landtag geschafft. Hinzu könnte noch eine wiedereingezogene Stellvertreterin kommen, deren Ausschusspartnerin es nicht mehr geschafft hat. Das sind fünf der vorgesehenen zehn Landtagsmitgliedersitze. Um es rechtlich noch etwas riskanter zu machen, ist eines der vier Mitglieder die nun neu amtierende Justizministerin Beate Meißner. Kann sie gleichzeitig als Mitglied des Ausschusses die Zustimmung zu ihrer eigenen Entscheidung geben? Brenner sagt ja.

Beschlussfähig ist der Richterwahlausschuss, wenn die Mehrheit, also mindestens acht der insgesamt 15 Mitglieder, anwesend sind, wie § 60 ThüRiStAG vorsieht. Nimmt man die fünf Richtermitglieder plus fünf oder vier oder drei Mitglieder je nach Rechtsauffassung dazu, kommt man gerade so mindestens auf acht. Knappe Sache. Egal wie man es rechnet, der Eindruck eines Ausschusses mit gerupfter demokratischer Legitimation ist in der Welt.

Demokratische Legitimation vs. Funktionsfähigkeit der Justiz

Auch der Verfassungsrechtler Carl-Christian Dressel hält die Erwägungen zu Übergangslösungen und Vertreterregelungen im FAZ Einspruch Podcast für tragfähig. Trotz dieser sachkundigen Einschätzungen bleiben Zweifel. Denn Brenners Gutachten befasst sich zwar mit dem Abgleich der Praxis mit dem einfachen Gesetzesrecht, aber er geht nicht auf die entscheidende Frage ein: Sind die Übergangsregelungen eigentlich auch mit höherrangigem Verfassungsrecht vereinbar?

Das kritisiert auch Juliana Talg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Verfassungsblog gegenüber LTO. "Meines Erachtens kann man auf Grundlage der Übergangsregelung für eine Weile fortfahren." Talg sagt weiter: "Ein Auffüllen des Richterwahlausschuss mit den gewählten Stellvertreterinnen und Stellvertretern würde jedenfalls die demokratische Legitimation des durch die Übergangsregelungen getragenen Ausschusses eher erhöhen."

Das könne allerdings keine Dauerlösung sein. Denn die Verfassung sehe selbst keine Übergangsregelung vor. "Je länger die Übergangszeit dauert, desto problematischer ist sie verfassungsrechtlich betrachtet mit Blick auf den Grundsatz der Diskontinuität und die demokratische Legitimation des Ausschusses", so Talg.

Auch das Bundesverfassungsgericht betont, wie wichtig die Funktionsfähigkeit der Justiz: "Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zählt zu den Grundbedingungen des Rechtsstaats und ist im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient." Funktionsfähigkeit setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert. Das dürfte dafürsprechen, eine Übergangsregelung notgedrungen auch über längere Zeit verfassungsrechtlich auszuhalten.

Einig scheinen sich alle zu sein, dass die Übergangsregelung eben für einen Übergang gedacht ist, und nicht als Dauerlösung. Aber was heißt das in Monaten und Jahren? 

Das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis von (schwindender) demokratischer Legitimation und (notwendiger) Funktionsfähigkeit der Justiz muss über die Zeit zunehmen. Das aber nun aufzulösen, daran scheint notgedrungen im Moment niemand Interesse zu haben.

AfD plant keine rechtlichen Schritte

Der Thüringer AfD-Abgeordnete und Ex-Mitglied des Richterwahlausschusses Stefan Möller kritisiert die Rechtsauffassung von Brenner und der Landesregierung. Außerdem sieht er "eine Überlastung der Justiz durch massenhafte Rügen der unzulässigen Gerichtsbesetzung" drohen. Interesse an einer finalen Klärung der Rechtslage vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof hat seine Fraktion aber nicht. Auf LTO-Anfrage teilt die Pressesprecherin der AfD-Fraktion mit, "die Fraktion plant derzeit keine rechtlichen Schritte." 

Das ist interessant, schreckt die AfD doch sonst nicht zurück, Rechte vor den Verfassungsgerichten geltend zu machen. So drängt sich der Eindruck auf, die Rechtslage um den Übergangs-Richterwahlausschuss soll lieber im Zustand der Rechtsunsicherheit verbleiben, um das politische Drohpotential aufrecht zu erhalten.

Der AfD wohl nicht unangenehme Nebenfolge: Das demokratische System macht nach außen hin auf den ersten Blick keinen guten Eindruck. Gremien, die schon längst neu besetzt werden sollten, werden mit Übergangs- und Vertretungskonstruktionen am Leben gehalten.

Brombeer-Koalition hat schnell Zugang zu Geheimdienstgremien geändert

Und auf der anderen Seite die Brombeer-Regierungskoalition? Ob die eine Klärung der Rechtslage vor dem Verfassungsgerichtshof herbeiführen könnte, ungewiss. Denn was sollten sie versuchen einzuklagen? An der alten Übergangsbesetzung des Ausschusses werden sie nicht rütteln wollen. 

Offenbar geht es der Koalition auch eher darum, Zeit zu gewinnen. Sie hat inzwischen auf die Schnelle Gesetzesänderungen beschlossen, mit denen der Zugang zu den Geheimdienstgremien von einer Zwei-Drittel-Mehrheit auf eine einfache Mehrheit herabgesetzt und das Beteiligungsverhältnis von Regierung und Opposition flexibilisiert wird. Zudem sind feste Regelungen zur genauen Besetzung aufgelöst und in die Hände der einfachen Parlamentsmehrheit gelegt.

Damit dürfte der Blockade dieser Gremien durch die AfD der Boden unter den Füßen weggezogen sein. Möglich wird das, weil die Regelungen im einfachen Gesetzesrecht stehen. 

Das würde auch für die Ausgestaltung des Staatsanwaltwahlausschusses gelten. Man könnte ihn sogar auch einfach wieder abschaffen – und damit auch die Blockade. Das gilt aber nicht für den Richterwahlausschuss, für den schreibt die Verfassung die Zwei-Drittel-Mehrheit vor. Eine Verfassungsänderung – nur durch Zwei-Drittel Mehrheit – wiederum kann die AfD durch ihre Sperrminorität blockieren. Was tun?

Talg vom Verfassungsblog schlägt vor: "Sollte die Blockade des Richterwahlausschusses dauerhaft anhalten, wird das Justizministerium einen Weg finden müssen, dennoch Richter und Richterinnen auf Lebenszeit zu ernennen. Denkbar wäre zum Beispiel die einfachgesetzliche Einführung einer Art Notfallmechanismus."

Nicht zum ersten Mal politische Erpressung mit dem Richterwahlausschuss durch AfD

Die Ausschüsse tagen eigentlich ein bis zweimal pro Jahr. Offenbar will man aber trotz Brenners Rechtsgutachtens das Gremium lieber erst einmal nicht tagen lassen. Sollte sich doch irgendwann herausstellen, dass der Richterwahlausschuss verfassungswidrig besetzt war, würden Folgefragen zum Schicksal von Richterernennungen und resultierenden Gerichtsentscheidungen auftauchen. Auch wenn das weniger ein Rechtskraftproblem, als wiederum ein Problem des öffentlichen Ansehens der Justiz sein dürfte.

Auf LTO-Anfrage teilt das Justizministerium Thüringen mit, dass der Richterwahlausschuss "nach Bedarf von der für Justiz zuständigen Ministerin einberufen" werde. Aktuell habe Ministerin Meißner zu keiner Sitzung eingeladen, weil bislang die Zustimmungsentscheidungen des Richterwahlausschusses aus der vergangenen Legislaturperiode noch abzuarbeiten gewesen seien.

Ganz neu ist die Lage für Landtag und Regierung in Thüringen nicht. Es ist nicht das erste AfD-Blockademanöver gegen den Richterwahlausschuss. Bereits in der vorigen Legislatur hatte zu Beginn im Jahr 2020 die AfD das Gremium als politische Erpressungsmasse genutzt. Da in dem Ausschuss laut Thüringer Verfassung von jeder Partei ein Mitglied vertreten sein muss, hielt die AfD einen eigenen Kandidaten so lange zurück, bis die anderen Fraktionen den AfD-Kandidaten für den Posten des Landtagsvizepräsidenten wählten. Auch 2017 kokettierte die AfD bereits mit einem ähnlichen Zug, um den Richterwahlausschuss lahmzulegen.

Wie geht es weiter?

Für die nächste Plenarsitzungsrunde im Erfurter Landtag steht am Freitag als TOP 25 wieder die Wahl der Kandidaten von CDU, SPD, Linke und BSW auf der Tagesordnung. Eine Durchbrechung der Justizausschussblockade ist aber nicht zu erwarten. Denn die von der AfD zur Bedingung gemachte Wahl des Vizepräsidenten steht nicht auf der Tagesordnung. 

Zitiervorschlag

Droht Justiz der Stillstand?: . In: Legal Tribune Online, 01.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56915 (abgerufen am: 25.04.2025 )

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