Gerichtsverfahren sind derzeit von Juristen vor allem für Juristen gemacht. Für Alisha Andert und Sina Dörr beginnt der Zivilprozess der Zukunft bei einer an den Bedürfnissen der Bürger orientierten Justiz.
Digitalisierung der Justiz muss mehr sein als die Kopie analoger Verfahren in einer digitalen Welt. Die Neuausrichtung von Gerichtsverfahren sollte den Ausbau des Zugangs zum Recht im Dienste der Bürgerinnen und Bürger in den Fokus nehmen. Der Begriff der "Bürgerzentriertheit" ist zum Schlagwort der Stunde avanciert. Wie kann es gelingen, Gerichtsverfahren so zu transformieren, dass bei der digitalen Neuausrichtung der Justiz Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt stehen?
Legal Design Thinking richtet die Gestaltung von Prozessen im rechtlichen Kontext auf Nutzerinnen und Nutzer aus. Legt man zugrunde, dass Bürgerinnen und Bürger die "Nutzenden" des Rechts sind, könnte diesem Ansatz bei der Entwicklung neuer digitaler Lösungen in der Justiz eine Schlüsselfunktion zukommen.
Die Methode baut auf dem Instrument des sog. Design Thinking auf. Erfolgreiches Design ist darauf angewiesen, die Bedürfnisse der potenziellen Nutzenden der Produkte zu erfüllen, andernfalls ist es wertlos. Ein Stuhl, auf dem man nicht richtig sitzen kann, verfehlt seinen Zweck und wird nicht gekauft. Designerinnen und Designer nähern sich in schrittweisen Wiederholungen, mit Testversuchen und Prototypen einer Lösung, anstatt zunächst einen vermeintlich perfekten Plan auszuarbeiten, der anschließend exekutiert wird.
Design Thinking als methodisches Werkzeug abstrahiert diese Herangehensweise, um Prozesse neu und nutzerfreundlich zu gestalten. Die Prozessgestaltung fokussiert sich auf den Menschen mit seinen Bedürfnissen und nicht auf bestimmte institutionalisierte Verfahrensabläufe (sog. Human-centered Design).
Legal Design Thinking: Recht, nutzerfreundlich
Eine auf die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürger zugeschnittene digitale Neugestaltung von Gerichtsverfahren? Das wäre ein Paradigmenwechsel für die Justiz: Gerichtliche Verfahren sind – zugespitzt – ganz überwiegend von Juristen für Juristen gemacht. Der Einsatz digitaler Technik - sei es die elektronische Akte oder der elektronische Rechtsverkehr - erfolgt bisher strikt entlang der eingeübten analogen Arbeitsweise von Gerichten und Anwaltschaft.
Wie wertvoll ein Umdenken hin zu mehr Bürgerfreundlichkeit sein könnte, ahnt, wer Erhebungen zur Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes in den Blick nimmt. Wie "nutzerfreundlich" kann ein Rechtssystem sein, das die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland laut Umfragen bei Streitwerten bis zu 1.950 Euro nicht in Anspruch nehmen würden? Zu umständlich erscheint die Durchführung eines Gerichtsverfahrens, zu ungewiss die Erfolgsaussichten. Dieser Effekt des sog. rationalen Desinteresse könnte auch für den drastischen Rückgang der Fallzahlen vor Amts- und Landgerichten verantwortlich sein.
Hier fehlt eindeutige Empirie bislang, aber die als umständlich und aufwändig empfundene Gestaltung der Verfahren dürfte eine der naheliegenden Ursachen sein. Eigene rechtliche Positionen und die Möglichkeiten, diese geltend zu machen, sind für Bürgerinnen und Bürger häufig wenig verständlich. Mechanismen wie etwa die Einreichung einer Klageschrift, die Abgabe von Anträgen zu Protokoll der Geschäftsstelle oder die Inanspruchnahme der Anwaltschaft, kurz die Schnittstellen zum Gericht werden als nicht hinreichend praktikabel, wenig zugänglich oder zu teuer empfunden. Unser Rechtssystem - so scheint es - leidet an seinen Schnittstellen zu Bürgerinnen und Bürgern an Designdefiziten.
Die Gestaltung von Verfahren muss sich deutlicher an den Bedürfnissen der überwiegend rechtsunkundigen Bürgerinnen und Bürgern orientieren. Genau diese Perspektive nimmt Legal Design Thinking ein.
Online-Verfahren, mit Legal Design gedacht
Wie könnte ein Design-Thinking-Prozess etwa am Beispiel des im "Thesenpapier zur Modernisierung des Zivilprozesses" vorgeschlagenen Online-Verfahrens aussehen?
Ein interdisziplinär besetztes Team ermittelt zunächst die relevanten Fragen: Wie sollen digitale Zugänge zu den Gerichten in Zukunft aussehen? Welche Interaktionsmöglichkeiten und gerichtliche Plattformen sind nötig? Wie können Rechtsuchende optimal dabei unterstützt werden, ihr Anliegen vorzubringen? Wichtig: Dieses Team darf nicht nur aus den professionellen Anwendenden bestehen, also etwa aus Juristinnen und Juristen. Auch Entwickler, Soziologen oder Psychologen gehören in dieses Team.
Der nächste Schritt: Was ist der Status Quo der Verfahren und was sind die damit einhergehenden Herausforderungen? Über Interviews mit allen Beteiligten und eine Beobachtung bei typischen Arbeits- und Handlungsschritten wird ein klares Bild der Nutzerperspektive und der unterschiedlichen Bedürfnisse ermittelt: Welche Fragen, Anforderungen und Eindrücke haben Bürgerinnen und Bürger, wenn sie eine Rechtsantragstelle aufsuchen? Wo suchen sie zunächst rechtlichen Rat? Was benötigen Anwältinnen und Anwälte, wenn sie eine Klageschrift formulieren und einreichen? Wie ermitteln Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger das Anliegen eines Rechtsuchenden?
Alle Beteiligten, auch die Geschäftsstellenmitarbeitenden, Richterinnen und Richter, haben eine eigene Nutzerperspektive und unterschiedliche Bedürfnisse. Für eine bürgernahe Gestaltung würde das Team sich aber fokussieren auf die typische Sichtweise eines Bürgers oder einer Bürgerin.
Wie erfüllt man die Bedürfnisse der Bürger?
Let’s do it: Die eigentliche Lösungsfindung folgt erst jetzt. Wie können die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllt werden? Auch in diesem Schritt gilt: Alle ermittelten Bedürfnisse werden berücksichtigt. Aber die der Bürgerinnen und Bürger sind der zentrale Orientierungspunkt.
Das Wesensmerkmal dieser Ideen-Phase ("Ideation") ist deren Ergebnisoffenheit. Wie können wir bei Prozesskostenhilfe- und Klageanträgen assistieren? Können intelligente Chatbots und Abfragesysteme helfen? Wie kann man die Angst vor rechtlichen Auseinandersetzungen nehmen? Auf welche Weise lässt sich eine intuitive Bedienung garantieren? Der Begriff des Online-Verfahrens wird nun mit Leben gefüllt.
Beim anschließenden "Prototyping" werden die entwickelten Ideen konkret und greifbar gemacht, zum Beispiel in Form einer klickbaren Darstellung einer Online-Plattform des Gerichts oder als Chatbot-Dummy. Die anvisierten Nutzenden testen den Prototypen und ihre Nutzererfahrungen werden ermittelt: Ist die Plattform einfach zu bedienen und zu verstehen? Wie reagieren die verschiedenen Nutzergruppen auf die gefundene prototypische Lösung? Was fehlt oder ließe sich verbessern?
Mit den gefundenen Erkenntnissen werden die Lösungen verfeinert. Ein denkbares Zwischenergebnis wäre etwa, dass die Eingabemöglichkeiten der Plattform für Bürgerinnen und Bürger ganz anders gestaltet werden müssen als für die Anwaltschaft, weil typische Rechtsbegriffe wie "Klageantrag" für Bürgerinnen und Bürger nicht selbsterklärend sind. Dann könnten in der nächsten Iteration unterschiedliche Eingabesysteme für Naturalparteien und für professionelle Beteiligte entwickelt werden. Der Prototyp wird so lange nachgeschärft, bis der Punkt erreicht ist, an dem das Feedback, insbesondere das der Bürgerinnen und Bürger, positiv wäre.
Keine Revolution, sondern ein Bekenntnis
Das Beispiel zeigt: Nimmt man den Gedanken der Bürgerzentriertheit ernst und stellt die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Bedürfnissen in den Fokus digitaler Umgestaltung, verändert sich der Blick auf das traditionelle Verständnis des Zugangs zum Recht. Bei den bisherigen Digitalisierungsmaßnahmen der Justiz ging es um eine Abbildung der vorhandenen analogen Prozesse unter Nutzung digitaler Technik, die – als wichtigen ersten Schritt – Briefkästen und Papierakten durch elektronische Postfächer und eAkten ergänzte.
Nun geht es in die nächste Phase, wir stehen vor neuen Möglichkeiten und Aufgaben: eine (weitergehende) Digitalisierung der Justiz, die aus einer neuen bürgerzentrierten Perspektive den Zugang zum Recht ausbaut.
Digitale Werkzeuge können diesen Prozess maßgeblich unterstützen. Denkbar sind gerichtliche Plattformen, die von jedem digitalen Endgerät aus erreicht und bedient werden können und Bürgerinnen und Bürgern bei der Einordnung rechtlicher Konflikte helfen. Die Plattformen könnten erforderlichenfalls bei der Formulierung von Schriftstücken an die Gegenseite oder das Gericht unterstützen, einen Dialog moderieren oder eine vorgeschaltete gerichtliche Mediation online begleiten. Das alles wäre nicht nur durch den körperlichen Gang zum Gericht, sondern von überall aus unkompliziert möglich. So könnten Ergebnisse aussehen, die mit Methoden des Legal Design Thinking entwickelt wurden.
Wäre das eine Revolution? Nicht unbedingt. Es wäre aber in jedem Fall ein Bekenntnis zum eigentlichen Adressaten der Justiz: den rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürgern.
Die Autorin Sina Dörr ist Richterin am Landgericht und hat seit 2014 zahlreiche Projekte in den Bereichen IT, Legal Tech und Digitalisierung der Gerichtsbarkeit geleitet, u.a. den bundesweit ersten gerichtlichen LegalTech-Hackathon beim Oberlandesgericht Köln initiiert. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Einschätzung der Autorin wieder.
Die Autorin Alisha Andert ist Head of Legal Innovation bei der digitalen Arbeitsrechtskanzlei Chevalier. Als Mitgründerin der Innovationsberatung „This is Legal Design“ unterstützt sie insbesondere Kanzleien und Rechtsabteilungen bei der nutzerzentrierten Gestaltung in Digitalisierungsprojekten. Als Vorstandsvorsitzende des Legal Tech Verbands Deutschland möchte sie die Digitalisierung des Rechtsmarkts insgesamt voranbringen.
Der Zivilprozess der Zukunft: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43531 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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