Corona brachte die massive Einschränkung von Grundrechten mit sich. Wurde die Justiz dabei ihrer Aufgabe gerecht? Auf einem "Juristentag light" wurden jetzt Zweifel laut – auch am guten, alten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Eigentlich ist der Deutsche Juristentag (DJT) seit 1949 noch nie ausgefallen und so richtig fiel er auch in diesem Jahr – trotz Corona-bedingter Absage – in Hamburg nicht aus. Auf einer Ersatzveranstaltung, einer Art "Juristentag light", drehte es sich am vergangenen Freitag in der Messehalle zwar nicht um die ursprünglich vorgesehenen Themen wie z.B. der Unmittelbarkeit im Strafverfahren oder einer stärkeren Regulierung von Online-Plattformen. Diese Fragen werden – falls dann überhaupt noch aktuell – erst in zwei Jahren auf dem 73. DJT in Bonn unter die Lupe genommen werden.
In Hamburg ging es stattdessen auf zwei hochkarätig besetzten Podien um die Auswirkungen des Coronavirus auf das Recht. Und um es vorwegzunehmen: Der Veranstalter zeigte sich von der Resonanz seiner Ersatz-Veranstaltung hellauf begeistert. 200 Besucher vor Ort, 12.000 Menschen im Netz. "Besucherrekord, das Vielfache der normalen Teilnehmerzahl", jubelte der DJT e.V. am Sonntag in einer Pressemitteilung.
Auch wenn der Verein in seinem Fazit von "wichtigen Impulsen für die Rechtspolitik" sprach: Inhaltlich konnten die Diskussionsteilnehmer nach sechs Monaten Pandemie das Rad natürlich nicht neu erfinden. Dafür aber schilderten zum Beispiel Staatsrechtler und Anwälte, wie sehr die Pandemie vor allem das (Verfassungs-)Recht und die zu seiner Anwendung berufenen Gerichte teilweise vor äußerst schwierige Herausforderungen stellte und immer noch stellt - und die Justiz damit durchaus auch an die Grenzen ihres Sachverstandes stößt.
Versagt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Wie viel ist etwa der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch wert, wenn die Gerichte im Rahmen der Abwägung, ob eine Corona-Maßnahme verfassungsrechtlich noch vertretbar ist oder nicht, am Ende doch nur - mangels eigenen Wissens - der Expertise des Robert-Koch-Institutes folgen können? Vor allem die Berliner Staatsrechtlerin Prof. Dr. Anna-Bettina Kaiser, die sich schon seit Jahren mit dem Thema des verfassungsrechtlichen Ausnahmezustandes wissenschaftlich befasst, legte auf dem DJT-Forum "Grundrechte in Zeiten der Pandemie" immer wieder den Finger in die Wunde: Die Gerichte hätten vor allem zu Beginn der Krise nicht wirklich gut dagestanden, da sie im Grunde der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nur wenig entgegenzusetzen gehabt hätten.
Und auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz versage jedenfalls "als einzige Grundlage für Gerichte" in Krisen, so Kaiser. Sie warb daher dafür, im Rahmen der Prüfung, ob sich eine grundrechtseinschränkende Maßnahme noch im Rahmen der Verfassung bewege, als Alternative zur Verhältnismäßigkeitsprüfung verstärkt das Wesensgehaltsprinzip* zu Rate zu ziehen, bei der Entscheidungsfindung also eher auf den wesentlichen, unantastbaren Kern eines Grundrechts zu achten, so Kaiser.
Bei aller Kritik und Sorge stellte die Hochschullehrerin aber auch klar: Die Coronakrise hätte in Deutschland mitnichten einen rechtsfreien Raum produziert, die Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit und Leben der Bevölkerung hätten sich immer noch im Rahmen des Grundgesetzes bewegt und auch die Gerichte hätten im Verlauf der Krise in ihren Entscheidungen immer wieder "nachgesteuert" und so z.B. auch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gestärkt.
Schäuble: Vergleich mit Hindenburg-Klausel aus WRV ist "Unsinn"
Verfassungsrechtlich also an den Corona-Maßnahmen nichts zu beanstanden? Dass der per Videoschalte an seinem Geburtstag zugeschaltete Bundestagspräsident und Jurist ("Ich zähle auch zu dieser komischen Gattung") Dr. Wolfgang Schäuble diese Aussage ebenfalls in diversen, leicht modifizierten Formulierungen immer wieder betonte, überraschte im Saal und Netz wohl niemanden: Der CDU-Politiker verwehrte sich darüber hinaus auch gegen jeglichen Vorwurf, das Parlament habe während der Krise selbst zu wenig entschieden und vielmehr alle Verantwortlichkeit der Regierung überlassen. Die Rolle des Parlamentes sei "zu keinem Zeitpunkt" außer Kraft gesetzt worden, betonte Schäuble.
Der BT-Präsident widersprach auch der Kritik, § 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) sei als eine Art "Hindenburg-Klausel" wie in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ausgestaltet worden. Unter anderem der Regensburger Staatsrechtler Thorsten Kingreen hatte diesen Vergleich gezogen. § 5 IfSG war im Frühjahr im Eiltempo geändert worden und ermächtigt das Gesundheitsministerium seither zu weit reichenden Maßnahmen bei epidemischen Lagen, die nach Auffassung von Kritikern zudem tief in Länderzuständigkeiten eingreifen. Schäuble stellte auf der DJT-Veranstaltung nunmehr klar: Bundestag und Bundesrat hätten die Änderungen des IfSG bewusst so beschlossen, der Vergleich mit der Hindenburg-Klausel sei "Unsinn". Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht ließ per Video-Grußwort die Teilnehmer wissen: Die beschlossenen Corona-Maßnahmen folgten nicht der "Logik des Ausnahmezustands", sondern der "Logik des Grundgesetzes". Der Rechtsstaat, so Lambrecht, habe sich in den vergangenen Monaten als "krisenfest und handlungsstark" erwiesen.
Wen der Lockdown am ärgsten getroffen hat
Dass dieser nach Aussage der Bundesjustizministerin "handlungsstarke" Rechtsstaat indes in der Praxis vielen Menschen jede Menge Probleme bereitet, berichtete auf dem DJT-Podium, das von FAZ-Journalistin Dr. Helene Bubrowski moderiert wurde, der Hamburger Rechtsanwalt Prof. Dr. Cristian Winterhoff. Er bemängelte ebenfalls, dass die gerichtliche Kontrolle während der Coronakrise immer wieder an wissenschaftliche Grenzen gestoßen sei und viele Corona-Maßnahme von den Gerichten "durchgewunken" worden seien. Das liege auch daran, dass im Eilverfahren die Zeit fehle, Sachverständige zu hören, kritisierte Winterhoff.
Der Anwalt, zu dessen Mandanten vor allem Unternehmen zählen, berichtete davon, wie schwer es augenblicklich sei, bestimmten Betrieben, deren Branche noch nicht von Lockerungen profitiere, zu vermitteln, warum derartige Ungleichbehandlungen stattfänden. Auch Moderatorin Bubrowski thematisierte den Aspekt der Gleichbehandlung und fragte provokant in die Runde: "Ist Puff gleich Kirche?" Ob die Sachverhalte rechtlich nicht "gleich" behandelt werden müssten und was denn nun lauter sei, der "Gesang in der Kirche" oder die Geräusche im Puff? Um es abzukürzen: Die Frage, ob im Bordell oder im Gottesdienst die Corona-Ansteckungsgefahr nun höher liegt, blieb am Freitag in Hamburg letztlich unbeantwortet.
Ziemlich eindeutige Antworten gab es indes auf die Ausgangsfrage des zweiten Podiums des Tages, wer denn die Lasten der Pandemie tragen müsse und ob sich die Verlierer bereits eindeutig bestimmen ließen. Hier sorgten auf dem zwei Wirtschaftswissenschaftlerinnen für den besonderen Sachverstand: Sowohl EZB-Direktorin Prof. Dr. Isabel Schnabel als auch die Vizepräsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Prof. Dr. Regina T. Riphahn, kamen anhand umfassender Statistiken zu der unmissverständlichen Aussage, dass die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung sozial Schwache, Frauen und Alleinerziehende mit Kindern am meisten getroffen hätten. Soziale Ungleichheit sei zementiert worden. Und unter den wirtschaftlichen Folgen der Krise werde der Euroraum noch viele Jahre zu knabbern haben.
In einigen Jahren könnte dann vielleicht – wie ursprünglich geplant – auch ein "vollwertiger" Juristentag in Hamburg stattfinden. Diesen Wunsch äußerte am Freitag jedenfalls Hamburgs neue Justizsenatorin, Anna Gallina. "Vielleicht klappt es ja 2026", so die Grünen-Politikerin.
*Anmerkung d. Redaktion: In einer ersten Fassung stand an dieser Stelle "Wesentlichkeitsprinzip". Frau Prof. Kaiser hatte aber vom "Wesengehaltsprinzip" gesprochen (Korrektur am 23.09.20, 11.30 Uhr).
DJT-Forum Pandemie und Recht: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42858 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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