Interview mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt: "Ver­fahren werden kon­f­likt­hafter geführt"

Interview von Tanja Podolski

21.11.2019

Vor 20 Jahren zog das BAG von Kassel nach Erfurt. Jetzt lebt gut die Hälfte der Richter im Osten und arrangiert sich mit konflikthafter geführten Verfahren, umfangreichen Schriftsätzen und der Digitalisierung.

LTO: Frau Schmidt, zehn Jahre nach der deutschen Einheit hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor 20 Jahren seinen ersten Arbeitstag in Erfurt. Wissen Sie noch, was Sie damals gemacht haben?

Ingrid Schmidt: Der erste Arbeitstag in Erfurt war der 22. November 1999. Es war ein kalter, grauer Novembertag. Bratwurst- und Braunkohleduft hingen in der Luft. Das neue Gebäude des BAG auf dem Petersberg war hellerleuchtet und warm. Mein Büro war schnell gefunden – an der Glastür war bereits mein Name angebracht. Zuerst waren die Umzugskartons auszupacken, der Schreibtisch einzuräumen und die neuen PC in Gebrauch zu nehmen. Dann ein Gang durchs rechteckig gegliederte Gebäude – die Orientierung fiel da nicht schwer. Am Abend die Suche nach einem Restaurant. Das war schon schwieriger – die Gastroszene war noch nicht so ausgeprägt wie heute. Im "Güldenen Rad", das montags geöffnet hatte, wurden ich und andere Kollegen fündig.

(c) Bundesarbeitsgericht

Das BAG war zuvor in Kassel. War das einfach nur ein Standortwechsel oder steckte mehr hinter dem Umzug?

Das BAG war damals das einzige repräsentative Großprojekt des Bundes außerhalb Berlins. Es war das erste Revisionsgericht, das auf dem Gebiet der früheren DDR für Rechtssicherheit und Rechtseinheit auf dem Boden des Grundgesetzes sorgen sollte. Einfach gesagt, das BAG sollte den Rechtsstaat sichtbar machen und auch die Selbständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die war in der früheren DDR im Jahre 1963 abgeschafft worden.

Das BAG war das erste Gericht, das seine Tätigkeit in den neuen Ländern aufgenommen hat, das Bundesverwaltungsgericht folgte erst im Herbst 2002. Sie selbst sind bereits seit 1994 Richterin am BAG. Haben Sie damals von der Stimmung in Erfurt, Standort für ein Bundesgericht zu werden, etwas mitbekommen?

Natürlich war bekannt, dass die Erfurter Bevölkerung dem geplanten Neubau – aber nicht der Verlagerung des BAG - zunächst kritisch gegenüberstand. Ein Teil der Pläne sowie das Modell waren in der Lokalpresse nicht eben vorteilhaft dargestellt worden. Es war uns klar, dass für diesen Neubau, dessen architektonischen Vorzüge, Zeitlosigkeit und Wertigkeit sich nicht auf den ersten Blick erschließen, geworben werden muss. Das geschah lange vor Fertigstellung des Neubaus  auf einer dafür anberaumten Bürgerversammlung.

Wie der damalige Präsident berichtete, überwog nach lebhaften, emotionalen Diskussionen bei den Erfurtern die Bereitschaft, sich auf das Gebäude einzulassen. Und gegen Ende der Veranstaltung verlangte eine Teilnehmerin gar, man müsse sich bei der Architektin entschuldigen, weil ihr bitteres Unrecht angetan worden sei. Heute erinnert sich kaum noch einer an die damalige Aufregung.

Auch mal unspektakulär

Welche war die erste Entscheidung, die ergangen ist? War das ein bedeutender Moment oder doch nur ein Urteil wie so viele?

Die erste Entscheidung, die nach dem Umzug am 24. November 1999 erging, betraf einen Streit über die richtige Eingruppierung zweier Klägerinnen aus Brandenburg – gänzlich unspektakulär. Ein Urteil wie so viele andere.

Es war aber nicht die erste Revisionsentscheidung, die in Erfurt getroffen wurde. Das Gericht hat bereits ab 1994 in Verfahren, die nach Sachverhalt oder Problematik einen Bezug zu den Neuen Bundesländern aufwiesen, mündliche Verhandlungen im damaligen Landgericht Erfurt durchgeführt.

Die Mehrheit der Richter am BAG wechselte von dem früheren Standort Kassel mit nach Erfurt, es war sozusagen zunächst ein Pendler-Gericht. Wie ist die Situation heute, wie viele BAG-Richter leben in Erfurt?

Die Hälfte der Mitglieder des derzeitigen Richterkollegiums sind mit ihren Familien nach Erfurt oder in andere Städte in Thüringen oder Sachsen gezogen. Und viele Pensionäre sind nach Beendigung ihrer Amtszeit hiergeblieben. Sie sehen, der Osten ist attraktiv!

Haben die Erfurter bzw. Thüringer ein besonderes Verhältnis zum BAG?

Sie haben sich an das BAG gewöhnt. Das BAG wird wertgeschätzt, genießt besondere Aufmerksamkeit aber vor allem bei der Stadt Erfurt und dem Freistaat Thüringen.

Konflikthafter, umfangreicher und digitaler

Sie persönlich feiern kommendes Jahr ein Jubiläum: Sie wurden zum 1. März 2005 zur Präsidentin des BAG ernannt und gleichzeitig dem Ersten Senat als Vorsitzende zugewiesen. Sie stehen also die überwiegende Zeit seit der Ansiedelung des BAG in Erfurt an der Spitze des Gerichts. Was hat sich seitdem verändert?

Das BAG wird am neuen Standort in der Fachöffentlichkeit als sehr präsent wahrgenommen. Dazu tragen unsere neuen Veranstaltungsformate wesentlich bei. Alle drei Jahre findet das Europasymposion statt, auf dem das Zusammenspiel von nationalem Recht und europäischen Recht von der Richterschaft, der Anwaltschaft und der Rechtswissenschaft lebhaft diskutiert wird.

Ebenfalls dreijährig wird der Dialog der Instanzen durchgeführt. Hier treffen sich die Arbeitsrichterinnen und -richter aller Instanzen, um die Auswirkungen höchstrichterlicher Rechtsprechung auf die instanzgerichtliche Arbeit zu diskutieren, sie aber auch kritisch zu hinterfragen. Und nicht zuletzt veranstalten wir alle zwei Jahre zur Förderung des arbeitsgerichtlichen Nachwuchses einen arbeitsrechtlichen "Moot Court". Dabei müssen studentische Teams, gecoacht von einem arbeitsrechtswissenschaftlichen Lehrstuhl, einen vorgegebenen Rechtsstreit im Rahmen einer fiktiven mündlichen Verhandlung vor dem BAG vorbereiten und vertreten.

Im Laufe der Jahre hat sich die Arbeitsweise geändert. Die Verfahren werden konflikthafter geführt, die Schriftsätze werden aufgrund des verbesserten Zugangs zu juristischen Datenbanken umfangreicher, es sind in zunehmendem Maße sogenannte Massenverfahren zu bewältigen. Das sind im Wesentlichen gleichlaufende Verfahren, deren Entscheidung von der Beantwortung sich einheitlich stellender Rechtsfragen abhängt. Aufgrund der hohen Zahl an Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren, die nur in durchschnittlich sieben Prozent erfolgreich sind, muss sich das Gericht verstärkt mit Nichtzulassungsbeschwerderecht befassen.

Und nicht zuletzt: Das Gericht muss ab dem Jahre 2022 den elektronischen Rechtsverkehr bewältigen können und ab dem Jahre 2026 die Gerichtsakten elektronisch führen. Die damit verbundene Digitalisierung der Arbeitsweise der Richterschaft und des nichtrichterlichen Dienstes sind in bereits in vollem Gang.

Erfurt steht für Arbeitsrecht des 21. Jahrhunderts

Inwiefern haben sich die arbeitsrechtlichen Themen in den 20 Jahren BAG in Erfurt verändert?

Der Umzug des BAG fand kurz vor der Jahrtausendwende statt. Das Arbeitsrecht des 21. Jahrhunderts ist daher mit dem Gerichtsstandort Erfurt verbunden. Natürlich haben sich die arbeitsrechtlichen Themen verändert. Das Arbeitsrecht ist nicht auf dem Stand vor 20 Jahren stehen geblieben. Es muss Tag für Tag und Jahr für Jahr schon deswegen neujustiert werden, weil das Recht der europäischen Union in zunehmendem Maß die Auslegung des nationalen Rechts bestimmt und in einigen Fällen dessen Anwendung auch untersagt.

Und nicht zu vergessen: Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte redet mit. Zudem wird der nationale Gesetzgeber in seinen Aktivitäten nicht nachlassen. Die AGB-Kontrolle von Klauseln in vorformulierten Arbeitsverträgen und das Antidiskriminierungsrecht – um nur einige zu nennen - sind Neuregelungen des 21. Jahrhunderts, die das Arbeitsrecht verändert haben.

Zeitlos aber bleibt die Kraft der Gedanken, mit denen das BAG seit mehr als sechs Jahrzehnten versucht, das Arbeitsleben in Deutschland im Sinne eines Ausgleichs zwischen wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit zu ordnen. Das erzwingt neue Antworten des Gesetzgebers auf die Änderungen der Arbeitswelt, verlangt nach anderen richterlichen Antworten und nach gelegentlichem Einschreiten mittels gesetzesvertretendem Richterrecht.

Langer Atem für Parität

Auffällig ist die Besetzung des Gerichts. Sie persönlich sind seit dem Jahr 2005 Präsidentin des BAG. Die paritätische Besetzung haben Sie noch nicht ganz geschafft, aber Sie sind mit 45 Prozent nah dran. Woran liegt das?

Also die erste Frau an der Spitze eines Gerichts war ich ja nicht. Vor mir hat bereits Dr. Iris Ebling mit dem Bundesfinanzhof ein oberstes Bundesgericht geleitet und natürlich Jutta Limbach nicht zu vergessen – die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts.

Um für eine paritätische Besetzung eines obersten Bundesgerichtes zu sorgen, bedarf es eines langen Atems. Der Richterwahlausschuss, der für die Wahl der Bundesrichterinnen und -richter verantwortlich ist, muss hierfür sensibilisiert werden. Es braucht geeignete Kandidatinnen, was eine Steigerung des Frauenanteils bei Neueinstellungen in den Ländern voraussetzt. Diese müssen mit Hilfe der vorschlagsberechtigten Länder und Abgeordneten gefunden werden. Kein einfaches Geschäft, aber ein lohnendes!

Wenn Sie sich für die nächsten 20 Jahre etwas wünschen dürften, was wäre das?

Ich wünsche mir, dass die Worte des großen Arbeitsrechtsgelehrten Prof. Peter Hanau (Anm. der Red.: emeritierter Professor an der Universität zu Köln) nach wie vor Gültigkeit behalten. Dieser hat gesagt: "Eine Rechtsordnung, die sich eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit leistet, drückt damit aus, dass sie dem Humanen, den materiellen und ideellen Bedürfnissen des Menschen in besonderer Weise verpflichtet ist. Dies ist der zu verwirklichende Anspruch an die Arbeitsgerichtsbarkeit in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; darauf beruht die Daseinsberechtigung dieses besonderen Zweiges der Gerichtsbarkeit."

Auch im Zeitalter der Digitalisierung der Arbeitswelt und der Justiz, möchte ich hinzufügen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zitiervorschlag

Interview mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38819 (abgerufen am: 04.12.2024 )

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