Unheimliche Erscheinungen im virtuellen Gerichtssaal? Die Kölner Justiz tut sich schwer mit der Aufklärung eines mysteriösen Falls. Wie kann nach einer Verhandlung ein Urteil stehen, obwohl die gar nicht stattgefunden haben soll?
Über fünf Monate ist es nun her, da geschah etwas Unerklärliches am Arbeitsgericht Köln. Dort soll eine Gerichtsverhandlung per Videokonferenz stattgefunden haben, und gleichzeitig soll sie nicht stattgefunden haben. Der Vorsitzende Richter ist sich sicher: Er hat Fragen gestellt, Antworten bekommen – alles, was zu einer Gerichtsverhandlung dazugehört. Der Kläger und die Anwälte beider Seiten halten das für ausgeschlossen. Sie wollen in dem virtuellen Raum die ganze Zeit auf das Gericht gewartet haben, das aber nie erschienen sei. So etwas wie eine Gerichtsverhandlung habe nicht stattgefunden, sagen sie.
Seit dem Verhandlungstermin geht die Kölner Justiz dem unheimlichen Phänomen nach, doch – so viel kann man hier schon verraten – gelöst ist das Rätsel immer noch nicht.
Die Geschichte, die wie ein Fall für Akte X klingt, beginnt am Vormittag des 11. Mai: Für 11.15 Uhr ist ein Gerichtstermin anberaumt. Ein Flughafenmitarbeiter will von seinem Arbeitgeber Geld, knapp 70.000 Euro, es geht um Urlaub und Krankheitstage – Routine am Arbeitsgericht. Angesetzt ist eine Videoverhandlung, auch das mittlerweile Alltag für Rechtsanwälte und Gerichte. Im Gerichtssaal II steht eine Videoanlage bereit, statt Zoom oder Teams sorgt die NRW-Justizsoftware "dOnlineZusammenarbeit" für die Verbindung. Aus Eschborn wählt sich für den Kläger die Anwältin Asma Hussain-Hämäläinen ein, für die Gegenseite betritt Holger Knapp von der Kanzlei Schalast aus Frankfurt am Main den virtuellen, aber doch irdischen Gerichtssaal.
Ein Urteil mit Aussagen aus der Verhandlung, die es nie gegeben haben soll
Gegen 11.18 Uhr tut sich in Köln, Eschborn, Frankfurt oder irgendwo dazwischen ein Riss in der Wirklichkeit auf. Denn: Kläger und die Anwälte beider Seiten sehen sich gegenseitig in den Videokacheln auf ihren Bildschirmen, sie können sich hören und miteinander sprechen – nur das Gericht fehlt, so schildern sie es. Von dem Vorsitzenden Richter und seinen beiden ehrenamtlichen Kollegen auf der Richterbank sei nichts zu sehen gewesen. Die Anwälte plaudern und warten, fünf Minuten, eine Viertelstunde. Irgendwann reden sie unter sich über den Fall. Bald sind 45 Minuten um. "Meine Güte, haben wir gedacht, das Gericht lässt sich aber Zeit", erinnert sich Hussain-Hämäläinen. Sie hat an dem Vormittag noch einen Anschlusstermin: eine Videoverhandlung beim Arbeitsgericht Mannheim. Und langsam läuft ihr die Zeit davon.
Als sie gegen 12 Uhr ratlos in der Geschäftsstelle des Kölner Gerichts anruft, kann sie nicht fassen, was sie dort erfährt. Die Verhandlung habe doch stattgefunden, sie sei abgeschlossen und das Urteil bereits verkündet. Klingt nach Franz Kafka 2023. "Ich konnte es nicht glauben", sagt Hussain-Hämäläinen. "In was für einer Verhandlung? Es gab keine Begrüßung, keine Verabschiedung, es wurden keine Anträge gestellt, wir haben mit dem Vorsitzenden Richter sowie den Beisitzern nicht gesprochen, sie nicht gehört. Niemand von uns hat sie oder den Gerichtsraum überhaupt gesehen, nichts." Auch ihr Kollege Knapp ist perplex. "Mir war nicht bewusst, dass die mündliche Verhandlung stattgefunden haben soll", so Knapp gegenüber LTO. An eines erinnert er sich noch. Für wenige Sekunden sei einmal auf dem Bildschirm die Videokachel mit dem Namen des Vorsitzenden Richters aufgetaucht, dann aber wieder verschwunden. "Das war wirklich skurril und etwas Vergleichbares habe ich so auch noch nicht erlebt", sagt Knapp. Geisterstunde am Arbeitsgericht?
Es wird noch mysteriöser: Als die Anwälte wenig später das Urteil erhalten – irdisch-digital per Nachricht ans besondere elektronische Anwaltspostfach –, finden sich dort detailreiche Beschreibungen des Verhandlungsverlaufs. "Die Beklagte konnte im Kammertermin den klägerischen Vortrag zum Urlaub nicht bestätigen, sondern hat erklärt, sie wisse nichts von einem Urlaub", heißt es etwa. Das Urteil hält Aussagen von Knapp aus der Videoverhandlung fest. Knapp ist sich sicher, keine Frage gestellt bekommen zu haben.
Am Ende verliert Hussain-Hämäläinen in erster Instanz den Fall, auch weil sie einen Anspruch "nicht substantiiert dargelegt" habe. So steht es im Urteil. "Wie auch", sagt sich Hussain-Hämäläinen, "ich habe mit dem Richter ja gar nicht sprechen können. Unsere Schriftsätze wurden in wesentlichen Teilen laut dem Urteil vom Gericht gar nicht zur Kenntnis genommen." Rückblickend sagt sie lakonisch: "Die Instanz gab es für die Gegenpartei mangels einer Gerichtsverhandlung geschenkt."
"Ein leichtes Nicken" auf eine Frage aus einer anderen Dimension?
Wie spielte sich die Verhandlung aus Sicht des Richters ab? In Köln beginnt der Vorsitzende Richter am 11. Mai um 11.18 Uhr seine Verhandlung. Er ist erleichtert, nur drei Minuten Verspätung. Vorangegangen war ein anderer Termin, der sich zu ziehen drohte. Der Richter startet die Videoverhandlung. Nachträglich mit ihm direkt sprechen kann man nicht, es antwortet die Pressestelle. Aber Gerichtsdokumente, die LTO vorliegen, zeichnen nach, was sich ereignet haben soll. Der Richter ruft die Sache auf, Zuschauer sind keine in den Saal II gekommen. Neben dem Richter links und rechts sitzen wie am Arbeitsgericht üblich zwei ehrenamtliche Richter. Die Videositzung verfolgen sie auf einem großen Flachbildschirm, zu sehen sind vier Kacheln, auf einer auch die Richterbank, so steht es in einer nachträglichen Stellungnahme des Richters. Der Vorsitzende "begrüßte die Teilnehmer der Videositzung und äußerte sich erfreut, dass diese bereits eingewählt waren und die Sitzung somit einigermaßen pünktlich beginnen konnte", heißt es in der Stellungnahme.
Jetzt wird es in seinen Ausführungen spannend: Der Richter fragt wie üblich, ob die Anträge aus der Klageschrift gestellt werden und auf der anderen Seite beantragt wird, die Klage abzuweisen. Daraufhin will er "ein leichtes Nicken" wahrgenommen haben. Sollte sich hier ein irrer Zufall abgespielt haben? Reagieren die in ihrem virtuellen Raum gefangenen Kläger und Anwälte genau in dem Moment sozialadäquat, in dem aus der Paralleldimension eine Frage an sie gerichtet wird, die sie nicht hören können?
Zeit Online, das im Sommer zuerst über den Fall berichtete, erinnert das Ganze an eine Séance. Wer daran glaubte, konnte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer Sitzung mit einem Medium versuchen, Kontakt mit Abwesenden aufzunehmen. Im besten Fall antwortete jemand oder etwas aus einer anderen Dimension.
Auf einfachste Fragen bekam der Richter keine Antworten
Was hat sich denn nun wirklich am 11. Mai 2023 zugetragen? Haben die Teilnehmenden miteinander gesprochen? Der Richter ist davon überzeugt, er will Antworten auf einige seiner Fragen bekommen haben. Auf eine ganze Reihe von Fragen kam allerdings keine Reaktion, wie er selbst festhält. Zum Beispiel in dem Moment, als er den Kläger nach seiner Version des Sachverhalts fragt: "Hierauf reagierte der Kläger auch auf mehrfache Ansprache des Vorsitzenden nicht." Auch als der Richter fragt, ob der Kläger an einem Folgetermin nach Köln kommen wird, notiert er "keine Reaktion". Es sind klare und unverfängliche Fragen. Vieles spricht dafür, dass der Richter die meiste Zeit nur mit sich selbst sprechen konnte.
Einmal wird er offenbar selbst stutzig. Für die Anwältin Hussain-Hämäläinen ein Indiz, dass er bemerkt haben musste, dass etwas nicht stimmte. Der Richter fragt dann den Kläger nach seiner Arbeit, wieder eine einfache Frage. Keine Antwort, der Richter fragt wieder und wieder. Keine Antwort. Dann verschmelzen die beiden Welten für einen Moment: Der Richter schreibt dem Kläger im Chat der Videosession, ob er ihn verstehen könne. Dieser schreibt sinngemäß zurück "Ja, ich verstehe Sie sehr gut." So hält es der Richter fest, und auch die Anwälte können sich an diesen Nachrichtenaustausch erinnern. Davor und danach habe man vom Gericht aber weder etwas gesehen noch gehört. Um 11.35 Uhr will der Richter die Videokonferenz beendet haben.
Wie konnte beim Gericht der Eindruck entstehen, über 20 Minuten eine Verhandlung zu führen?
Wie passt das alles zusammen? Zuständig für die Aufklärung ist das Landesarbeitsgericht, eine Instanz höher also. Mehr als fünf Monate nach dem denkwürdigen Termin, bilanziert ein Sprecher auf LTO-Anfrage: "Ein präzises Bild ergibt sich nicht." Einzelheiten zu diesem "ungewöhnlichen Ablauf der Verhandlung" ließen sich nicht mehr genau aufklären, so der Sprecher. Vermutet wird ein technischer Fehler der Videokonferenzsoftware. Auf Nachfrage habe der Hersteller es für technisch möglich gehalten, "dass zwar das Gericht sich selbst und sämtliche anderen Teilnehmer sehen konnte, die zugeschalteten Parteivertreter und der Kläger indes das Gericht nicht wahrnehmen aber untereinander kommunizieren konnten", so der Sprecher.
Eine weitere Spur gibt es offenbar nicht. "Alle ersichtlichen Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts seien ausgeschöpft" worden, heißt es in einer Antwort des Arbeitsgerichts. Auch die beiden ehrenamtlichen Richter habe man befragt. "Diese hatten keine genaue Erinnerung mehr an die Videokonferenz, konnten sich aber jedenfalls daran erinnern, dass eine Bildübertragung stattgefunden hat", so die Antwort des Landesarbeitsgerichts. "Ein ehrenamtlicher Richter bestätigte zudem ausdrücklich, dass auch eine zeitweise Tonübertragung erfolgte."
Eine ähnliche Antwort ging Ende Oktober auch der Anwältin Hussain-Hämäläinen zu, sie hatte nach dem Urteil noch im Mai eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt. Sie ist enttäuscht. "Die Antwort des Gerichts trägt nichts zur Aufklärung bei", findet Hussain-Hämäläinen. Denn sie erkläre nicht, wie für den Richter überhaupt der Eindruck einer ordnungsgemäßen Verhandlung aufgekommen sein soll, wenn die Anwälte mit dem Richter doch gar nicht gesprochen haben.
Ein Befangenheitsantrag der Anwältin gegen den Richter war im Juli erfolgreich. Ein anderer Richter glaubte der Wahrnehmung der Anwälte. Er entschied: Ein Urteil, das unter dem Eindruck gefallen sei, nicht zu Wort gekommen zu sein, könne den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen. Und vielleicht noch wichtiger, die Kammer-Entscheidung hält fest: Wie die Anwälte und der Kläger versichert haben, "hat aus ihrer Sicht keine Kommunikation mit dem Vorsitzenden stattgefunden, welche von der Kammer als Antragstellung oder Verhandlung verstanden werden konnte. Die Kammer hat keinen Anlass, an dieser übereinstimmenden Sachverhaltsschilderung der nicht im Sitzungssaal anwesenden Beteiligten zu zweifeln."
Damit scheint die entscheidende Frage dieses rätselhaften Falls freigelegt: Wenn keine bewusste Kommunikation von einer Seite aus stattgefunden hat, wie konnte für das Gericht knapp 20 Minuten lang der Eindruck entstehen, eine Verhandlung zu führen?
Anwältin: "Völlig offenkundig, dass der Richter die Verhandlung erfunden hat"
In der Sache selbst haben die Parteien in zweiter Instanz einen Vergleich geschlossen, der Rechtsstreit ist damit beendet. Das bedeutet: Keine nächste Instanz wird mehr Gelegenheit haben, die Sache mit der Geisterverhandlung aufzuklären. Denkbar wäre, sie zur Sache der Staatsanwaltschaft zu machen. Das Strafrecht kennt Urkundendelikte und Rechtsbeugung. Eine Eskalationsstufe, die keine Seite bisher beschritten hat.
Was bleibt, ist eine Anwältin, die die Justizwelt am Arbeitsgericht Köln nicht mehr versteht. Und die einen schwerwiegenden Verdacht nicht ausgeräumt sieht. Bemerkte der Richter, dass es Probleme bei der Videoverhandlung gab und hat er kurzen Prozess gemacht? Hat er sich eine Verhandlung zusammengebastelt? Immerhin hatten die Parteien ihre schriftsätzlichen Ausführungen schon im Vorfeld des Kammertermins, wie üblich, an das Gericht geschickt.
"Das Arbeitsgericht scheint sich darum zu drücken, diese für mich völlig offenkundige Tatsache, dass der Vorsitzende Richter die von ihm behauptete Verhandlung und die Aussagen der Anwälte, die in dieser Verhandlung gemacht worden sein sollen, erfunden hat, einfach zu benennen", sagt Hussain-Hämäläinen. "Das würde den Rechtsstaat Deutschland tatsächlich erschüttern."
Vielleicht ist es für den Rechtsstaat weniger erschütternd, den Fall als übersinnliche Erscheinung zu den Akten zu legen.
Richter erfindet Verhandlung?: . In: Legal Tribune Online, 06.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53085 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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