Viele europäische Gefängnisse sind überfüllt. In den Niederlanden gilt "Aufnahmestopp", dafür sollen in Estland Zellen angemietet werden. Droht das auch in Deutschland? Und wie prognostiziert man Gefangenenzahlen? LTO hat in der Justiz nachgefragt.
2024 schockierten die Zustände in britischen Gefängnissen die Öffentlichkeit. Berichtet wurde von Ratten, Kakerlaken, ständiger Gewalt, dramatischem Personalmangel und massiver Überfüllung – so massiv, dass jetzt 5.000 Gefangene früher entlassen wurden. In den niederländischen Gefängnissen gilt ein "Aufnahmestopp". Im Dezember mussten Straftäter vorzeitig entlassen werden. Nun werden keine neuen aufgenommen. Sogar auf den Polizeiwachen sind alle Zellen belegt. Daher versucht die niederländische Regierung jetzt, Gefängniszellen in Estland anzumieten. Gleiches gilt momentan für Schweden. 2024 rügte außerdem der Europarat Italien für seine überfüllten Gefängnisse und deren unhaltbare Zustände. Etwa jeden dritten Tag begeht ein Mensch in einem italienischen Gefängnis Suizid – so häufig wie noch nie. Als Grund wird die sich täglich verschärfende Überbelegung genannt.
Wie voll sind deutsche Gefängnisse?
Wird es derartige Meldungen bald auch aus Deutschland geben? LTO hat nachgefragt: Wie voll sind deutsche Gefängnisse? Wie wird ihre Auslastung gemanagt?
Zuständig für diese Fragen sind die Justizministerien der Länder. Dort beschäftigt sich eine Abteilung mit der Planung von Haftplätzen und legt in einem Vollstreckungsplan fest, welche Gefangenen in welcher Anstalt untergebracht werden (alle 16 Vollstreckungspläne sind hier einsehbar).
Wie voll Deutschlands Gefängnisse sind, lässt sich nicht mehr aus öffentlichen Statistiken ablesen. Seit 2023 gibt das statistische Bundesamt nur noch einen Bericht heraus, der keine Angaben zur Auslastung der Haftanstalten enthält. Die aktuellen Zahlen hat LTO daher bei den 16 Justizministerien der Länder einzeln abgefragt. Außer Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern haben alle geantwortet.
Vor allem in der U-Haft ist es voll
Die Abfrage zeigt in einigen Ländern eine entspannte Situation, etwa in NRW (78,97 Prozent Gesamtauslastung), Sachsen (76,3 Prozent) und Sachsen-Anhalt (75,43 Prozent). In Sachsen-Anhalt sind derzeit nur 67 Prozent der U-Haft-Plätze für männliche Erwachsene belegt.
Insgesamt wird aber klar: Viele deutsche Gefängnisse sind voll, vor allem in der U-Haft.
Vollbelegung, also eine Auslastung zwischen 85 Prozent und 90 Prozent, besteht bei den U-Haftplätzen in Bremen (89,3 Prozent), Niedersachsen (86,5 Prozent) und Schleswig-Holstein (86,9 Prozent). Voll ausgelastet ist dort auch die Strafhaft: In Schleswig-Holstein zu 87,61 Prozent und im geschlossenen Vollzug in Niedersachsen zu 85,4 Prozent. Bayern, Hessen und das Saarland stehen kurz vor Vollbelegung (Bayern: 83,6 Prozent Gesamtauslastung, Hessen: 83,1 Prozent, Saarland: 83,9 Prozent).
Zum Teil besteht auch eine Belegung von über 90 Prozent. So etwa im geschlossenen Vollzug in Baden-Württemberg (97 Prozent) und in Rheinland-Pfalz (91 Prozent). Bremen gibt eine Gesamtauslastung von 93,9 Prozent an, Hamburgs Strafhaftplätze sind zu 93,6 Prozent belegt und in der U-Haft gibt es in Hamburg aktuell nur noch drei freie Plätze (97,4 Prozent Auslastung). In Brandenburg ist die U-Haft zu 92,5 Prozent ausgelastet. An ihrer Kapazitätsgrenze ist die Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin Moabit, die zu 99 Prozent belegt ist. Dort wird vor allem die U-Haft männlicher Erwachsener vollstreckt.
BVerfG: Überbelegung verletzt Menschenwürde
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zur Auslastung deutscher Gefängnisse mehrere Entscheidungen getroffen und festgestellt, dass die Unterbringung in überfüllten Anstalten und zu kleinen Hafträumen die Menschenwürde der Gefangenen aus Art. 1 Abs. 1 GG verletzt Im Jahr 2011 entschied das BVerfG sogar, dass der Staat notfalls "im Falle menschenunwürdiger Haftbedingungen sofort auf die Durchsetzung des Strafanspruchs [...] verzichten" müsse.
Was tun die Länder?
Welche Maßnahmen also ergreifen die Länder, um Überbelegung zu verhindern?
Bei kurzfristigen Belegungsspitzen helfe der Belastungsausgleich, schreiben sie. Dabei können Gefangene in weniger volle Anstalten verlegt werden, im Einzelfall auch in andere Bundesländer. "Es ist aber nicht gut möglich, einzelne JVAs, zum Beispiel im weniger ausgelasteten Sachsen-Anhalt, zu 'Auffanganstalten' zu erklären und dorthin Gefangenen aus überbelegten Anstalten zu verlegen. Das ist mit dem Resozialisierungsziel oder der dafür notwendigen Förderung von Außenweltkontakten nicht vereinbar", erklärt der Göttinger Kriminologe und Strafrechtswissenschaftler Alexander Baur gegenüber LTO.
Die Länder weisen außerdem darauf hin, dass sie den Vollstreckungsplan anpassen, wenn sich eine langfristig stärkere Auslastung abzeichne. Zudem könne man eine JVA, die bislang Strafgefangene aufnimmt, so umwidmen, dass sie auch U-Häftlinge inhaftieren kann. Für eine mittel- bis langfristige Entlastung planen Länder wie Hessen und Rheinland-Pfalz Baumaßnahmen und Sanierungen. Bayern baut gerade zwei neue Anstalten. Die zu 93,44 Prozent ausgelastete JVA Münster will schon 2026 einen Neubau beziehen.
Hamburg stoppt Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe
Ein wichtiger Hebel ist auch der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe. Im stark ausgelasteten Hamburger Strafvollzug werde dieser bis Mai 2025 unterbrochen, um Platz zu schaffen. Das habe sich schon "während Corona und der Fußball-EM bewährt". Es seien bereits 30 Personen mit Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Vollzug entlassen worden. Neue Ersatzfreiheitsstrafen würden in Hamburg gerade aufgeschoben. Schleswig-Holstein bietet Ersatzfreiheitsstrafgefangenen außerdem "Arbeit statt Strafe" an.
Lassen sich Gefangenenzahlen prognostizieren?
Doch woher wissen die Länder, wie viel Platz sie in Zukunft brauchen werden?
Manche stellen Prognosen an. Zum Beispiel Sachsen-Anhalt prognostiziert die Gefangenenzahl bis ins Jahr 2035. Es berechnet diese anhand der Prognose zur Bevölkerungsentwicklung und der Gefangenenrate. In Sachsen werden die Entwicklungen der Gefangenenzahlen im Jahresdurchschnitt, in den Belegungsspitzen, den jeweiligen Haftarten, der Haftdauer und der Inhaftierungsraten in der Vergangenheit ermittelt und bewertet. Daneben wird die Bevölkerungs- und die Kriminalitätsentwicklung berücksichtigt. Ähnlich gehen Bremen und NRW vor, wobei NRW als einziges Bundesland angibt, die Prognosen mit computergestützten statistischen Verfahren zu berechnen. Künstliche Intelligenz komme aber nicht zum Einsatz.
"Das Land Berlin hat Abstand genommen, sich an weiteren Prognosen zu versuchen"
Aus Berlin heißt es hingegen: "Das Land Berlin hat Abstand genommen, sich an weiteren Prognosen zu versuchen". Dort werden stattdessen "interne Übersichten fortgeschrieben". Darin zeigten sich "wiederkehrende Muster" wie die stärkste Belegung der U-Haft "gegen Ende des ersten Quartals eines Jahres" oder mit Ersatzfreiheitsstrafgefangenen "in den kalten Wintermonaten".
Hessen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Niedersachsen und das Saarland versuchen sich an regelmäßigen "Beobachtungen", "Monitorings" und "Projektionen der Belegungsentwicklung in die nähere Zukunft".
"Das hätte keine Prognose vorhersehen können“
Insgesamt sind sich die Länder einig: Es sei sehr schwer, die künftige Gefangenenentwicklung abzusehen und hierfür erforderliche Haftkapazitäten zu planen. Die Vollzugsplanung sei überaus komplex, sagt auch Kriminologe Baur: "Man kann künftige Gefangenenzahlen zwar näherungsweise berechnen, aber es wird immer auch schwer vorhersehbare Faktoren geben. In der Rechtspolitik ist ja Bewegung. In der Folge verändern sich Sanktionspraktiken und Strafgesetze. Ich bin beispielsweise gespannt, wie sich die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe und mittelbar auch die Reform der Unterbringung nach § 64 StGB auf den Strafvollzug auswirken werden".
Unerwartete Gefängnisauslastungen können auch durch Fortschritte in der polizeilichen Kriminalitätsbekämpfung verursacht werden, wie ein Beispiel aus Bremen zeigt: Bremen musste plötzlich zahlreichen unvorhergesehenen (Untersuchungs-)Häftlingen gerecht werden, als Ermittler:innen 2021 tausende deutsche "EncroChat"-Handys entschlüsselten und 500 Hinweise nach Bremen führten. Viele der Beschuldigten waren zuvor nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. "Das hätte keine Prognose vorhersehen können", so die Pressesprecherin der Bremer Senatorin für Justiz und Verfassung zu LTO.
Was berichtet die Praxis aus den JVAs?
Trotz prognostischer Ungewissheiten und zum Teil hoher Belegungszahlen kann man für den deutschen Strafvollzug insgesamt aber festhalten: Es läuft ganz gut.
Das berichten auf LTO-Anfrage jedenfalls die Vertreter:innen der Praxis. Also die, die es am besten wissen müssen: Die Justizvollzugsanstalten. Es sei "bisher immer gelungen, jedem Gefangenen einen Haftplatz zuzuweisen", so etwa der Pressesprecher der JVA Hannover. Die Projektierung der Auslastung erfolge "stets in enger Abstimmung mit dem Justizministerium, um sicherzustellen, dass Erkenntnisse aus der Praxis unmittelbar in die Planungen einfließen". Auch die JVA Münster steht mit dem Ministerium "in engem und konstruktiven Austausch, um bei Änderungen der Belegungssituation angemessene Lösungen zu finden", wie ihre Pressesprecherin LTO mitteilt. Die zu 99 Prozent ausgelastete JVA Berlin Moabit räumt zwar ein: "Die Belegungsplanung beinhaltet und akzeptiert die durchgängige Vollauslastung der JVA Moabit". Doch auch hier betont man, dass es "vollumfänglich" möglich sei, Überbelegungen zu vermeiden und für all diejenigen Gefangenen ein Haftplatz zur Verfügung zu stellen, die allein der JVA Moabit zugeteilt seien.
"Deutscher Strafvollzug steht international doch ganz gut da"
Und wie schlagen sich Deutschlands Gefängnisse im internationalen Vergleich? "Im internationalen Vergleich doch ganz gut", meint Prof. Baur, der in einer Forschungs- und Lehrkooperation mit dem Stanford Criminal Justice Center vergleichend zum US-Strafvollzug forscht. Die deutsche Vollzugswirklichkeit werde, anders als in den stets gnadenlos überfüllten Haftanstalten der USA, stark durch die Verfassungsrechtsprechung geprägt: "Karlsruhe ist der große Taktgeber für die Vollzugsbedingungen in deutschen Gefängnissen". Deutschland verfüge über ein resozialisierungs-, vor allem aber auch über ein freiheitsorientiertes Sanktionen- und Vollzugsystem, das aus seinen sehr begrenzten finanziellen Ressourcen das Beste mache. "Wir haben mit der Bewährungshilfe oder den Trägern der freien Straffälligenhilfe Institutionen, die durch ihre wichtige Arbeit dazu beitragen, die Haftanstalten weniger auszulasten", so Baur.
Im Ergebnis lässt sich also zumindest eine Prognose guten Gewissens anstellen: In nächster Zeit droht in deutschen Gefängnissen kein "Aufnahmestopp".
LTO-Justiz-Recherche: . In: Legal Tribune Online, 01.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56491 (abgerufen am: 11.02.2025 )
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