Luxemburger Gericht löst Datenschutz-Dilemma: EuGH ver­gibt fik­tive Namen

von Tanja Podolski

13.01.2023

Der EuGH gibt seinen Fällen wieder Namen statt bloß die Fallnummern, aus Datenschutzgründen allerdings fiktive. Diese werden von einer eigens programmierten Software generiert. Ziel ist, die Fälle wieder einprägsamer zu machen.  

Francovich, Defrenne, Mangold – das sind nur einige der echten Namen von Kläger:innen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), deren Gegenstand unter diesen Begriffen zu Leuchttürmen der europäischen Rechtsprechung geworden sind. Auf Fachkonferenzen fallen lediglich sie als bloße Schlagworte für die Kernaussagen der Entscheidungen – und alle wissen, welche Fälle gemeint sind und wie relevant die Entscheidungen für die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung in Europa waren.  

Längst aber ist mit dieser Praxis, dass Namen für wichtige Entscheidungen standen, Schluss. Im Sommer 2018 teilte der EuGH mit, in den ab dem 1. Juli anhängig gemachten Vorabentscheidungssachen in allen veröffentlichten Dokumenten die Namen der an der Rechtssache beteiligten, natürlichen Personen durch Anfangsbuchstaben zu ersetzen. "Ebenso werden alle ergänzenden Details, anhand deren die Betroffenen identifiziert werden können, weggelassen", kommunizierte der EuGH damals.  

Hintergrund war seinerzeit das Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung und der Datenschutzverordnung für die Organe der Europäischen Union. Ziel war also, den Schutz der Daten natürlicher Personen bei Veröffentlichungen zu Vorabentscheidungssachen zu verbessern. Der Gerichtshof teilte seinerzeit mit, er folge damit einer innerhalb der Mitgliedstaaten beobachteten Tendenz zur Verbesserung des Schutzes personenbezogener Daten im Kontext immer vielfältigerer Such- und Verbreitungsinstrumente. 

In der Folge wurden die Vorabentscheidungsersuchen anonym geführt, es gab nur noch Initialen und die Nummern der Rechtssachen. Doch wer merkt sich schon, was sich hinter C 55/18 (Arbeitszeiterfassung) oder C-804/18 (Kopftuchverbot) verbirgt?  

Zurück zur Orientierung für die Rechtswissenschaft 

Das sahen auch die Richter:innen in Luxemburg selbst so  – ziemlich schnell, nachdem die Anonymisierung umgesetzt worden war. "Eine Rechtsachen-Nummer oder zwei Anfangsbuchstaben sind nicht so prägnant wie ein Name", sagt Hartmut Ost vom Referat Presse und Information am EuGH, auf Nachfrage von LTO. Die Jurist:innen am EuGH hätten sehr zeitnah den Bedarf erkannt, die Fälle wieder einprägsamer zu bezeichnen, etwa, um in Rechtsprechung und Wissenschaft auf die Entscheidungen Bezug nehmen zu können. "Um die Orientierung in der Rechtsprechung im Schrifttum, auf Konferenzen und in der allgemeinen juristischen Diskussion zu erleichtern, hielten wir es daher für wünschenswert, dass die Fälle über die reine Nummer hinaus und anstelle der Kombination von zwei Buchstaben wieder Namen bekommen." Das sollten aus den bekannten Datenschutzgründen allerdings nicht die echten Namen der Beteiligten sein. 

So hat die Generalversammlung des Gerichtshofs – also alle Richter:innen und Staatsanwält:innen –beschlossen, künftig ausgedachte Namen zu verwenden. Im Frühjahr 2022 ging der Gerichtshof die Umsetzung an: Die hausinterne IT-Abteilung sollte eine Software entwickeln, die fiktive Namen generieren kann. 

"In das Programm haben wir hunderte Namen aus allen Mitgliedstaaten eingespeist", erklärt Ost. Das Programm zerlegt diese Namen noch einmal in Silben und generiert dann auf Anforderung – unter Berücksichtigung der Trennungsregeln – einen neuen zusammengesetzten fiktiven Namen passend zum Land, in dem der Fall spielt. Der so generierte Name wird individuell noch einmal überprüft, um sicherzustellen, dass kein unangemessener Name entsteht. Namen wie Adolf, Osama oder Ficka sind damit ausgeschlossen. 

Supreme Court als Vorbild 

Dort, wo in den Landessprachen anhand der Endungen des Namens auch das Geschlecht der beteiligten Person erkennbar ist - u.a. in Tschechisch oder Slowakisch – kann das Programm dies berücksichtigen. "Wenn es im Ausgangsverfahren um mehrere Personen geht, spielt das natürlich nur hinsichtlich der im Vorabentscheidungsersuchen an erster Stelle aufgeführten Person eine Rolle, da die anderen für die Namensgebung nicht berücksichtigt werden", erklärt Ost. Die Herkunft der Fälle sollte aber so gut wie möglich berücksichtigt werden. Die Herkunft der Fälle sollte aber so gut wie möglich berücksichtigt werden. 

Bei Bedarf könnte die Software daher auch noch für die Sprachen von Drittländern weiterentwickelt werden – ob dieser tatsächlich besteht, wird sich aber erst zeigen.  

Die Idee hat sich der EuGH übrigens vom Supreme Court in den USA abgeschaut. Auch dort besteht die Praxis, bestimmten Sachverhalten fiktive Namen zuzuordnen. 

"Hesbrink" und "Baramlay" sind die ersten Fälle  

Seit dem 1. Januar 2023 bekommt schon jede Rechtssache wieder ihren eigenen Namen. Die fiktiven Namen allerdings werden nur wie ein Titel benutzt, nicht aber in den Darstellungen des Sachverhaltes oder der Entscheidungsgründe verwendet. Sie erscheinen lediglich in der Kopfzeile des Urteils sowie auf dessen erster Seite, nach der Nummer der Rechtssache. 

In den Entscheidungen selbst schreiben die Richer:innen schon jetzt – sobald es um Privatpersonen geht – abstrakt von "einem Bürger", "einer Aktionärin" oder "einem Drittstaatenangehörigen" – und dabei wird es bleiben.  

Die gesamten Anonymisierungsregeln und die Zuordnung fiktiver Namen betreffen im Übrigen keine Vorabentscheidungsverfahren, in denen der Name der juristischen Person hinreichend unterscheidungskräftig ist. In diesem Fall wird die Rechtssache nach dieser juristischen Person benannt.  

Auch bei Klageverfahren gibt es keine fiktiven Namen, hier ordnet der Gerichtshof den Rechtsachen weiterhin eine beschreibende Angabe zu, die in Klammern nach der Kurzbezeichnung der Rechtssache erscheint. Auch Anträge auf Erstattung von Gutachten, Rechtsmittelverfahren und beim Gericht geführte Verfahren bekommen keine ausgedachten Namen. 

Die ersten fiktiven Namen gibt es bereits: C3/23 kommt aus den Niederlanden und heißt "Hesbrink", C6/23 heißt "Baramlay" – ein Fall aus Ungarn.  

Zitiervorschlag

Luxemburger Gericht löst Datenschutz-Dilemma: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50745 (abgerufen am: 06.10.2024 )

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