Der Generalanwalt am EuGH hält die deutsche Staatsanwaltschaft für nicht unabhängig genug, um einen europäischen Haftbefehl auszustellen. Sollte der Gerichtshof dieser Ansicht folgen, hätte das handfeste Konsequenzen.
Wenn der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gleich zu Beginn seiner Schlussanträge schreibt, dass er auf eine "geeignete Gelegenheit gewartet" und die sich nun ergeben habe, um allgemeine Aussagen zur Legitimation der Staatsanwaltschaften in den Mitgliedsstaaten zu treffen, dann lässt das bereits ahnen: Es könnte wichtig werden.
Am Ende der 23 Seiten Schlussanträge steht die Einschätzung von Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona, dass die Staatsanwaltschaft in Deutschland nicht unabhängig genug sei, um einen europäischen Haftbefehl zu erlassen, Az. C-508/18 u.a.
Damit wird ein empfindlicher Punkt im deutschen Justizsystem angesprochen, der in seinem organisatorischen Aufbau fußt: Wie unabhängig ist eine Staatsanwaltschaft, die zwar Organ der Rechtspflege ist, aber auch einem grundsätzlichen Weisungsrecht aus dem Justizministerium untersteht? Eine solche Eingriffsbefugnis der Politik auf die Justiz soll zwar nur in absoluten Ausnahmefällen genutzt werden, aber sie kommt vor: Etwa als der damalige Justizminister Heiko Maas den Generalsbundesanwalt Harald Range in der sog. netzpolitik-Affäre entfernte. Und im Fall des umstrittenen Staatsanwalts in Gera wurden nun Stimmen laut, die ein Handeln des Justizministers sogar lautstark einforderten. Das mag bereits zeigen, wie sensibel sich die Frage nach der Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft darstellt.
Irischer Supreme Court meldete Zweifel an
Der EuGH-Generalanwalt musste sich nun mit ihr im Zusammenhang mit dem europäischen Haftbefehl beschäftigen. Ein solcher Haftbefehl darf nach Art. 6 Abs. 1 des entsprechenden EU-Rahmenbeschlusses (2002/584/JI) nur von einer "Justizbehörde" in einem Mitgliedsstaat ausgestellt werden. Während ein Haftbefehl nach deutschem Recht nur von einem Richter erlassen werden kann, können europäische Haftbefehle von einer Staatsanwaltschaft allein ausgestellt werden. Ob unter "Justizbehörde" auch die deutsche Staatsanwaltschaft fällt, das musste der Generalanwalt nun in einem Fall entscheiden, der ihn aus Irland erreichte.
Im Mai 2016 erließ die Staatsanwaltschaft Lübeck einen europäischen Haftbefehl gegen einen litauischen Staatsbürger mit Wohnsitz in Irland. Der Vorwurf: Er soll 1995 eine vorsätzliche Tötung und schwere Körperverletzung begangen haben. Deshalb schickte die Lübecker Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Haftbefehl nach Irland.
Vor dem irischen High Court (Hoher Gerichtshof) widersprach der Beschuldigte einer Übergabe und argumentierte, dass die Staatsanwaltschaft Lübeck keine "Justizbehörde" im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sei. Der High Court wies 2017 mit einem Urteil das Vorbringen mit der Begründung zurück, dass das deutsche Recht die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft vorsehe und die Exekutive nur in Ausnahmefällen in ihr Handeln eingreifen könne, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei.
Der Rechtsstreit ging weiter und erreichte schließlich den Supreme Court (Oberster Gerichtshof), der dem EuGH eine Reihe von Auslegungsfragen zur Vorabentscheidung vorlegte. Sie betreffen allesamt die Stellung und Rolle der deutschen Staatsanwaltschaft in ihrer Beziehung zur politischen Exekutive. Die letzte Frage der Vorlage lautet: Ist die Staatsanwaltschaft Lübeck bzw. Zwickau eine Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses? Ein ganz ähnlicher Fall der Staatsanwaltschaft Zwickau kam nämlich ebenfalls über Irland zum EuGH-Generalanwalt, sodass die beiden Verfahren verbunden wurden.
Generalanwalt: Was national gilt, muss auch in der EU gelten
Im Kern geht es für den Generalanwalt um die Frage, ob die Staatsanwaltschaft bei der Ausstellung eines europäischen Haftbefehls eine ähnlich unabhängige und Grundrechte sichernde Rolle innehat, wie sie ein Gericht erfüllen soll. Das verneint der Generalanwalt nun.
Sein zentrales Argument lautet: Wenn die deutsche Staatsanwaltschaft schon nicht im Alleingang einen nationalen Haftbefehl ausstellen darf, und dafür die Kontrollinstanz eines deutschen Gerichts eingeschaltet werden muss – dann kann nichts Anderes für den europäischen Haftbefehl gelten, der in einem anderen Mitgliedsstaat vollstreckt werden soll.
"Es wäre widersinnig, wenn sie nicht die weniger einschneidende Maßnahme (die Ausstellung eines kurzzeitig wirkenden nationalen Haftbefehls), wohl aber die einschneidendere Maßnahme (die Ausstellung eines EHB, der zu einer weitaus längeren Freiheitsentziehung führen kann) treffen könnte", schreibt Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona.
Er sieht durch die fehlende Überprüfung durch ein Gericht die Garantie von gerichtlichem Schutz bedroht, wie sie in Art. 47 der EU-Grundrechtecharta verbürgt sei.
Ein bisschen Unabhängigkeit reicht nicht
Die deutsche Regierung hatte argumentiert, dass das entscheidende Kriterium nicht die völlige Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft, sondern ihre Zugehörigkeit zur rechtsprechenden Gewalt sei. Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft dürfe nicht mit der Unabhängigkeit der Justiz verwechselt werden. Im Gegensatz zur Tätigkeit eines Richters erfordere die der Staatsanwaltschaft keine vollständige Trennung von der Exekutive mit der Folge, dass eine Überwachung oder Weisungen unzulässig seien. Nach dieser Argumentation gibt es zweierlei Maß der Unabhängigkeit, und die Staatsanwaltschaft ist eben graduell weniger unabhängig.
Der Generalanwalt schreibt dazu knapp: "Ich kann dieser Auffassung nicht folgen." Für ihn kommt es beim geforderten Maß der Unabhängigkeit entscheidend auf die Tätigkeit an, um die es geht. Und für einen Haftbefehls bedarf es aus seiner Sicht einer umfangreichen Unabhängigkeit, wie sie nur bei einer Justizbehörde (der englische Begriff "judicial authority" wird aus dem Englischen etwas unglücklich mit "Justizbehörde" übersetzt) im engeren Sinne, also einem Gericht vorliegen kann.
Campos Sánchez-Bordona begründet die strengen Anforderungen außerdem vor allem mit den besonderen Vertrauensanforderungen beim europäischen Haftbefehl. Der ganze Mechanismus des europäischen Haftbefehls setze voraus, dass zwischen den Mitgliedstaaten die Behörden jeweils darauf vertrauen dürften, dass ein Haftbefehl nur aus einem Staat komme, in denen gerichtlicher Rechtsschutz gewährleistet ist, insbesondere die Entscheidung für den Haftbefehl unabhängig und unparteiisch getroffen wurde.
Als Maßstab zitiert der Generalanwalt aus einem Urteil des EuGH vom 25. Juli 2018 zu Mängeln im Justizsystem, in dem es auch um den europäischen Haftbefehl und seine strukturellen Voraussetzungen im Ausstellungsstaat ging:
"Diese Unabhängigkeit der nationalen Behörde, die den EHB ausstellt, setzt voraus, „dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten."
Diese Grundsätze überträgt er nun: "Es wäre widersinnig, wenn nach den jüngsten Urteilen des Gerichtshofs zur richterlichen Unabhängigkeit das Maß der Anforderungen zurückgeschraubt und als unabhängige Justizbehörde eine Stelle akzeptiert würde, die möglicherweise verpflichtet ist, den Weisungen anderer Behörden zu folgen." Das System des europäischen Haftbefehls sollte gerade nach dem Willen des Gesetzgebers des Rahmenbeschlusses gegenüber dem klassischen Auslieferungsrecht entpolitisiert werden.
Die deutsche Regierung habe offen eingeräumt, so die Schlussanträge, dass die Staatsanwaltschaft, auch wenn dies in der Praxis nur im Ausnahmefall geschehe, von der Exekutive Hinweise und Weisungen erhalten können. Der Generalanwalt meint dazu, dass allein diese Möglichkeit aber genüge, um auszuschließen, dass ihr richterliche Unabhängigkeit zukomme. Diese sei konzeptionell unvereinbar mit jedem Anschein von Hinweisen oder Weisungen. Und zwar "so theoretisch oder außergewöhnlich sie auch sein mögen und ob es für ihre Übermittlung formalisierte Verfahren gibt oder nicht."
Bald mehr Arbeit für Gerichte?
Sollte der EuGH den Ausführungen des Generalanwalts folgen, hätte dies natürlich weitreichende Auswirkungen. Die Ausführungen des Gutachters sind zwar nicht bindend, aber häufig Leitlinie für den Gerichtshof.
Demnach bräuchte es eine Umgestaltung in der Praxis des europäischen Haftbefehls, allerdings nicht nur in Deutschland. So schreibt der Generalanwalt in einer Parallelentscheidung, die die Staatsanwaltschaft in Litauen betrifft, für die Lage in den EU-Mitgliedsstaaten generell: "Tatsächlich ist eine Abstufung des Grades der Autonomie der Staatsanwaltschaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten feststellbar, die aus konzeptionellen Gründen niemals die der richterlichen Unabhängigkeit erreichen kann und von der Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in jedem einzelnen Fall anhand der im Ausstellungsmitgliedstaat für die Staatsanwaltschaft geltenden Vorschriften zu prüfen ist."
Vorsichtig skizziert der Generalanwalt auch schon eine denkbar konsequente Lösung des Problems: Vor jedem in Deutschland ausgestellten europäischen Haftbefehl muss ein richterlicher Beschluss her. Das würde auch eine Portion Mehrarbeit für die Gerichte bedeuten.
EuGH-Generalanwalt zu europäischem Haftbefehl: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35141 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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