Strafprozesse werden in Deutschland bislang nicht aufgezeichnet, jeder muss für sich mitschreiben. Eine Reform hängt im Vermittlungsausschuss fest. Das kritisiert ein offener Brief, schuld seien die Länder, der Richterbund und eine Justizministerin.
Wenn in deutschen Gerichten über Wochen, Monate oder sogar Jahre Strafprozesse verhandelt werden, ist noch jeder Beteiligte im Saal auf seine eigenen Mitschriften angewiesen. Kann so die Zukunft der Justiz aussehen? Nein, meinen Anwälte, Rechtswissenschaftlerinnen, Studierende und Referendare sowie einzelne Mitglieder der Justiz. Sie haben einen offenen Brief an die Justizministerinnen und Justizminister geschickt und kritisieren, dass die Länder eine "längst fällige" Reform bei der Aufzeichnung im Gerichtssaal blockieren.
Der Zustand sei weit entfernt von einer "modernen" Justiz, den Rechtssuchenden und speziell unter jungen Nachwuchsjuristinnen und -juristen "niemandem mehr zu vermitteln". Gerade vor dem Hintergrund eines anstehenden Generationswechsels in der von Nachwuchssorgen ohnehin geplagten Richter- und Staatsanwaltschaft sei das nicht hinnehmbar, heißt es im Brief.
Kann die Software auch Badisch?
In deutschen Gerichten wird nur durch Mitschreiben per Hand festgehalten, was sich in einem Strafprozess ereignet hat. Jeder notiert sich also auf eigene Rechnung, was etwa die Zeugen ausgesagt haben. Eine objektive Dokumentation des Geschehens ist nicht vorgesehen. Stattdessen werden vor den Land- und Oberlandesgerichten nur die wesentlichen Förmlichkeiten im Protokoll festgehalten. Künftig soll eigentlich eine Tonspur der Verhandlung aufgezeichnet und per Software anschließend transkribiert werden. So sieht es ein Gesetzesvorschlag aus dem Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vor. Der verspricht sich davon eine Entlastung aller am Gerichtsverfahren Beteiligten: Statt aufs Anfertigen von Notizen sollten die sich auf das eigentliche Verfahren konzentrieren können. Der Bundestag hat für das Gesetz auch Ende 2023 gestimmt und es beschlossen – aktuell hängt es jedoch im Vermittlungsausschuss fest.
Widerstand gegen die Pläne kam und kommt aber aus Teilen der Richter- und Staatsanwaltschaft und den für ihre Justiz zuständigen Ländern. Auch die größte Justizvereinigung des Landes, der Deutsche Richterbund, weist auf fehlende technische Ausstattung hin und befürchtet, dass die Transkription anfällig für Fehler sein könnte. Zwischenzeitlich hat dazu sogar ein simuliertes Gerichtsverfahren im Bundesjustizministerium in Berlin stattgefunden, dabei hat man der Audio-Aufzeichnungssoftware Dialekte - unter anderem Badisch - vorgeführt, um ihre Leistungsfähigkeit zu testen. Die Eindrücke dazu fielen gemischt aus.
Sind der Richterbund und eine Justizministerin schuld?
Initiiert haben den Vorstoß die Vereinigung Berliner Strafverteidiger:innen um den Anwalt Stephan Schneider, der Passauer Strafrechtsprofessor Robert Esser sowie der Strafrechtler Oliver Harry Gerson, derzeit Lehrstuhlvertreter an der Uni Passau. Die rund 600 Unterzeichner des Briefs, darunter Völkerstrafrechtsprofessor Kai Ambos, OLG-Richter und Strafrechtsprofessor Matthias Jahn sowie zahlreiche Jura-Fachschaften kritisieren die Auffassung des Deutschen Richterbundes. "Hintergrund für diese Blockadehaltung sind aus unserer Sicht Äußerungen des Deutschen Richterbundes und der niedersächsischen Justizministerin […]", heißt es in dem Brief. Die niedersächsische Ministerin Kathrin Wahlmann (SPD) hatte Ende 2023 gesagt, das Gesetz sende "eine Botschaft des Misstrauens". Der Brief argumentiert, die Ministerin und der Richterbund würden das Gesetz als "Ausdruck eines generellen Misstrauens in die deutsche Richterschaft" missverstehen. Denn, so die Unterzeichner, es gehe bei der Reform vielmehr darum, die Nachvollziehbarkeit von Gerichtsentscheidungen zu stärken. Die derzeitige Praxis in deutschen Gerichtssälen stamme aus dem Jahr 1877, damals seien noch Pferdekutschen das wesentliche Verkehrsmittel in den Städten gewesen.
Nachdem der Bundesrat mit Mehrheit seiner Länder gegen das Gesetzgebungsprojekt gestimmt hat, hängt es derzeit im Vermittlungsausschuss fest - während die Zeit der Legislatur nach und nach abläuft. Die letzte Meldung auf der Website des Vermittlungsausschusses zum Stand der Dinge lautet: "Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. Juni 2024 die Beratungen zu dem Gesetz vertagt." Und: "Wann der Vermittlungsausschuss seine Beratungen zu diesem Gesetz fortsetzt, steht noch nicht fest."
Anm. d. Red.: Beitrag in der Version vom 23.10.2024, 10:29 Uhr, korrigiert wurde der Name und Lehrstuhlvertretung von Oliver Harry Gerson.
Kritik an blockierter Reform des Strafprozesses: . In: Legal Tribune Online, 22.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55687 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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