Gerichte, die ausschließlich analog arbeiten, mutieren immer mehr zu Fremdkörpern. Die Justiz darf sich durch die Digitalisierung der Rechtslandschaft nicht ins Abseits drängen lassen, sondern muss Lösungen anbieten, fordert Stefanie Otte.
Zwar genießen Gerichte nach wie vor ein hohes Ansehen in der Bevölkerung: Laut Roland Rechtsreports 2022 haben 70 Prozent der Befragten viel oder ziemlich viel Vertrauen in die Gerichte. Bereits die Hälfte der Bevölkerung kann sich allerdings vorstellen, ihre rechtlichen Angelegenheiten künftig eher unter Zuhilfenahme von Computerprogrammen als durch Anwälte zu erledigen. Zu erwarten ist, dass dieser Wert mit dem Digitalisierungsfortschritt der Gesellschaft schnell zunehmen wird. Die damit verbundene Entwicklung wird auch die Gerichte erreichen.
Der Befund schon heute rückgängiger Eingangszahlen passt in dieses Bild, auch wenn es sich dabei um ein komplexes Phänomen handelt, das besondere Beleuchtung verdient. Bundesweit sind die Neuzugänge in Zivilsachen von 1997 bis 2017 bei den Amtsgerichten um mehr als 40 Prozent und bei den Landgerichten um rund 30 Prozent zurückgegangen. Allein die Massenverfahren im Zusammenhang mit dem Dieselskandal und der Geltendmachung von Fluggastrechten haben den Verfahrensrückgang an den Landgerichten in den letzten Jahren kompensiert. Mit Spannung wird die seitens des BMJ in Auftrag gegebene Studie zur Untersuchung der Gründe für diesen Rückgang der Eingangszahlen erwartet, die für Anfang 2023 angekündigt ist.
Neue anwaltliche Geschäftsmodelle, der nahezu ungebremste digitale Fortschritt und die vielfältigen Legal Tech Innovationen lassen bereits heute erahnen, dass wir gerade erst am Anfang eines kaum vorstellbaren Umbruchs in der Zivilgerichtsbarkeit stehen, den es nicht abzuwehren, sondern zu gestalten gilt, damit der Rechtsstaat nicht erodiert. Welche Folgen hätte es, wenn sich nennenswerte Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens alternative Streitlösungsformen suchen und sich von der unabhängigen Justiz abwenden?
Öffentlichkeitsarbeit verbessern
Landauf, landab leisten Gerichte tagtäglich hervorragende Arbeit. Sie bieten vor allem unabhängige Rechtsprechung. Den Wert dieser unabhängigen Rechtsprechung durch nur dem Recht und Gesetz verpflichtete Richterinnen und Richter kann man nicht häufig genug betonen. Eine unabhängige Judikative ist elementare Voraussetzung für unsere Demokratie!
Rechtssuchende erwarten zu Recht qualitativ hochwertige, transparente und zügige Lösungen. Dass die weit überwiegende Mehrzahl der Zivilgerichtsverfahren diesen Qualitätsmerkmalen genügt, vergessen wir Richterinnen und Richter zuweilen gerne selbst und geben uns in der Außendarstellung eher selbstkritisch. Wir sind gut darin, die Punkte zu benennen, die in der Justiz nicht funktionieren. Werbung für unsere Arbeit erscheint uns fremd, gar untunlich und der eigenen Bedeutung unangemessen. Es erscheint mir unerlässlich, unsere Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern und – nicht nur, aber auch – mithilfe einer umfassenderen Veröffentlichungspraxis der zivilgerichtlichen Verfahren zu mehr Sichtbarkeit zu kommen. Das allein wird aber nicht ausreichen.
Die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft zwingt uns zu einer umfassenden Veränderung der Arbeit an den Gerichten wie auch der Verfahrensordnungen. Die im Juni veröffentlichte Studie "The Future of Digital Justice" kommt zur rechten Zeit und provoziert meines Erachtens zu Recht mit einer wenig schmeichelhaften Darstellung des Status quo der digitalen Transformation der deutschen Justiz. Zwar widerspreche ich den Verfassern der Studie ausdrücklich, soweit sie einen mangelnden Veränderungswillen der Richterinnen und Richter andeuten. Denn: Die überwiegende Mehrheit der Gerichte steht der überall erkannten Veränderungsnotwendigkeit positiv gegenüber.
Erhebliche finanzielle Investitionen erforderlich
Die Digitalisierung der Justiz setzt allerdings erhebliche finanzielle Investitionen und eine Vision voraus, wie der Zivilprozess der Zukunft aussehen soll. Digitalisierung ist mehr als die Einführung der E-Akte. Die Arbeitsfähigkeit der Gerichte, das hat sich jüngst insbesondere in den sogenannten Massenverfahren gezeigt, wird auch davon abhängen, dass in der Justiz Künstliche Intelligenz (KI) zur Verfügung steht. Nicht, um richterliche Entscheidungen zu ersetzen: Insofern besteht Einigkeit, dass nur ein Mensch gesetzlicher Richter des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz sein kann.
Allerdings benötigen auch die Gerichte KI-basierte Unterstützungs- und Assistenzsysteme, um den in digitalisierten Rechtsanwaltskanzleien erstellten Schriftsätzen auf Augenhöhe begegnen zu können und ressourcenschonend zu arbeiten. In einer von mir gemeinsam mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg initiierten bundesweiten Arbeitsgruppe ist im Frühjahr dieses Jahres ein Grundlagenpapier zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz und algorithmischen Systemen in der Justiz erarbeitet worden, das als Diskussionsgrundlage für den weiteren Veränderungsprozess dienen kann.
Vision des Zivilprozesses der Zukunft entwerfen
Die Digitalisierung der Justiz darf sich indes nicht auf das Innenleben der Rechtsfindung beschränken. Digitale Rechtsantragstellen und ein Online-Klageverfahren sind nur zwei Vorhaben, die es zwingend mit umzusetzen gilt, wenn der Transformationsprozess erfolgreich sein soll. IBM hat in der jüngst erschienenen Studie "Unter Digitalisierungsdruck – Die Justiz auf dem Weg ins digitale Zeitalter" vorgeschlagen, ein Zielbild des "Gerichts im digitalen Zeitalter" zu entwerfen. Ich plädiere dafür, eine Vision nicht nur des digitalen Gerichts, sondern auch des Zivilprozesses im digitalen Zeitalter zu zeichnen.
Dabei dürfen wir die weitere digitale Entwicklung nicht abwarten, sondern sollten jetzt Ideen dazu zu entwickeln, welche Aufgaben, Funktionen und Ausgestaltung der Zivilprozess in einer digitalisierten Gesellschaft hat und die hierfür notwendigen Investitionen und Änderungen der Verfahrensordnungen beherzt umsetzen. Ein Streit zwischen Bund und Ländern darüber, in welcher Höhe sich der Bund an den Kosten beteiligen sollte, wird der Bedeutung des Themas nicht gerecht und lenkt von den eigentlichen Fragestellungen ab.
Ausgangspunkt der Diskussion kann nichts Geringeres als unser demokratischer Staat sein, zu dessen Kernbestand die unabhängige Judikative gehört. Auf dieser Grundlage müssen wir zunächst die gleichzeitig gesellschaftspolitische wie staatstheoretische Frage stellen, welche Kernbereiche der Streitlösung unabhängigen Richterinnen und Richtern vorbehalten bleiben müssen. Anschließend sind zügige Lösungen zu den veränderten Anforderungen einer digitalisierten Gesellschaft an den Zugang zu Gerichten zu entwickeln.
Bundeseinheitliche IT-Systeme
Hierzu gehören die digitale Rechtsantragstelle und die Möglichkeit, Verfahren komplett online führen zu können. Auch die Frage der Gerichtsöffentlichkeit im digitalen Zeitalter drängt und wird nach meiner Auffassung ohne digitale Übertragungsmöglichkeiten nicht zielführend zu beantworten sein. Gleichzeitig benötigen wir verbindliche Strukturierungsmöglichkeiten für den Parteivortrag und damit einhergehend Veränderungen der Zivilprozessordnungen mindestens in den sogenannten Massenverfahren, dazu bundeseinheitliche justizielle IT-Systeme.
Über all diese Themen wird vielerorts engagiert und fachkundig diskutiert. Jetzt gilt es, die Fachthemen mit der Vision eines "Digitalen Rechtsstaats" zu untermauern. Und dann müssen die Fäden mit politischer Durchsetzungskraft und finanzieller Stärke zusammengeführt und konzertiert umgesetzt werden. Es ist Zeit!
Autorin Stefanie Otte ist Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle und ständiges Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs. Zuvor war sie nach langjähriger richterlicher Tätigkeit im Niedersächsischen Justizministerium tätig und wurde 2015 zur Staatssekretärin ernannt. In dieser Funktion leitete sie den E-Justice-Rat und setzte sich maßgeblich dafür ein, die IT-Anwendungen der Bundesländer zu vereinheitlichen. Als Mitglied im Beirat des "Digital Justice Summit" unterstützt sie die Vernetzung und den Austausch zu Fragen der Digitalisierung der Justiz.
Modernisierung der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 18.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50213 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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