Letzte Chance: Weil Bund und Länder es nicht schaffen, zum 1. Januar 2026 in Gerichten und Staatsanwaltschaften die E-Akte einzuführen, bekommen sie nun ein Jahr Aufschub. Anwaltsverbände und Richterbund reagieren genervt.
Um halb eins in der Nacht zum Freitag berät der Deutsche Bundestag über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf "zur Änderung der Vorschriften über die Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und über die allgemeine Beeidigung von Gerichtsdolmetschern sowie zur Änderung des Stiftungsregisterrechts" (BT-Ds. 21/1852).
Die Uhrzeit für die Erste Lesung im Parlament hätte nicht bezeichnender sein können: Die Debatte in der Nacht passt bestens zum düsteren Kapitel elektronische Akte (E-Akte). Denn in der Justiz ist das Zeitalter der Digitalisierung bis heute nicht zufriedenstellend angebrochen. Sie hat den digitalen Wandel schlichtweg verschlafen.
Ursprünglich sollte die E-Akte bereits ab dem 01. Januar 2026 bundesweit für alle Gerichte und Staatsanwaltschaften verpflichtend sein. Geworden ist daraus jedoch flächendeckend nichts. In vielen Bundesländern hat die Justiz keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, um den bisherigen Pflichttermin zu halten.
"Opt out"-Lösung bringt Aufschub
Das nunmehr von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz gibt den Ländern und dem Bund eine letzte Chance: Im Wege des "Opt out" können sie sich ein zusätzliches Jahr bei der Einführung der elektronischen Akte zu verschaffen. Durch Erlass einer Rechtsverordnung können sie in allen Fachbereichen den Einführungstermin vom 01. Januar 2026 auf den 01. Januar 2027 verschieben.
Darüber hinaus wird der Medienwechsel innerhalb eines Verfahrens ("Hybridakte") flexibilisiert. Und schließlich ist in Strafsachen im Kalenderjahr 2026 eine Führung von Papierakten auch dann – und ohne Erlass einer Rechtsverordnung – möglich, wenn die Ermittlungsbehörden Vorgänge von besonderem Umfang in Papier zuliefern. Aktenberge in der Strafjustiz werden also bis auf Weiteres nicht der Vergangenheit angehören.
Richterbund: "Digital-Wüste" in Sachsen-Anhalt
Auf mehr Tempo bei der Digitalisierung in der Justiz drängt schon seit Langem der Deutsche Richterbund (DRB). Sein Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn bewertet die Terminverschiebung gegenüber LTO ein Stück weit auch als Beleg des Scheiterns: "Die Möglichkeit eines nochmaligen Aufschubs für den flächendeckenden Einsatz der elektronischen Akte in der Justiz wirft ein Schlaglicht auf die Versäumnisse der vergangenen Jahre bei der Digitalisierung."
Sachsen-Anhalt zum Beispiel sei nach fast einem Jahrzehnt Vorbereitungszeit in weiten Teilen der Justiz immer noch eine Digital-Wüste. Aber auch in einigen anderen Bundesländern gehe der digitale Wandel noch zu schleppend voran, weiß Rebehn. "Dazu trägt eine zersplitterte IT-Landschaft in der Justiz bei, die auch den Umstieg auf eine leistungsfähige E-Akte aus einem Guss erschwert."
Mit Blick auf den von der schwarz-roten Koalition neuerlich beschlossenen "Pakt für den Rechtsstaat" begrüßt es der DRB-Geschäftsführer, dass Bund und Länder in die weitere Digitalisierung der Justiz investieren werden. "Gerichte und Staatsanwaltschaften setzen darauf, dass die von der Politik ausgerufene Digitaloffensive ein Erfolg wird und schnell zu Entlastungseffekten in der täglichen Arbeit führt."
Wie sehr die Lage bei der Digitalisierung aktuell im Argen liegt und Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, verdeutlicht Rebehn anhand eines Beispiels: "Dass es selbst für das altbekannte Phänomen der Fluggastklagen noch immer keine KI-gestützten Assistenzsysteme zur schnelleren Fallbearbeitung in allen Amtsgerichten gibt, passt nicht zu den hohen Zielen von Bund und Ländern bei der Digitalisierung."
DAV: "Wie lang soll das noch dauern?"
Unterdessen wächst auch bei den Anwaltsverbänden beim Thema Digitalisierung zunehmend die Ungeduld mit der Justiz: Geradezu genervt überschreibt der Deutsche Anwaltverein (DAV) ein Statement anlässlich der Bundestagsberatung mit den Worten: "Wie lang soll das noch dauern?"
Die Vorsitzende des Ausschusses Elektronischer Rechtsverkehr im DAV, Ulrike Silbermann, kritisiert eine “weiter verzögerte Teilnahme der Justiz an der digitalen Transformation" und betont: "Zumal die Anwaltschaft mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) die Vorteile der Digitalisierung schon seit Jahren für sich zu nutzen gelernt hat."
Mit dem beA, so die Anwältin, sei die Anwaltschaft bereits vor Jahren "in Vorleistung" gegangen. "Seit 2018 mussten wir digital empfangsbereit sein, seit 2022 dürfen wir mit Gerichten nur noch digital über das beA kommunizieren. Insgesamt existiert das beA seit fast zehn Jahren! Über 160.000 Anwältinnen und Anwälte haben das geschafft. Wie lang soll es noch dauern, bis die Justiz mitzieht?" Die Zeiten gerichtlicher Druckstraßen müssten endlich der Vergangenheit angehören, fordert Silbermann.
Unterdessen fordert die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme zum geplanten Zeitaufschub den Gesetzgeber auf, auch die verbleibenden Monate bis zum 01. Januar 2026 entschlossen zu nutzen, bestehende Umsetzungshemmnisse zu beseitigen, Ressourcen zu bündeln und klare Prioritäten zu setzen. "Ziel muss bleiben, Medienbrüche zu vermeiden und die bundeseinheitliche e-Aktenführung zu forcieren – für alle Gerichte, Verfahrensordnungen und Instanzen."
Ein funktionierender Rechtsstaat, mahnt die Kammer, dürfe sich keine weitere Verschleppung digitaler Infrastruktur leisten.
Bund und Länder bekommen mehr Zeit für die E-Akte: . In: Legal Tribune Online, 09.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58346 (abgerufen am: 07.11.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag