"Wie Justitia zurückblickt" – unter diesem Titel befasste sich die digitale Jahrestagung des Forums Justizgeschichte mit Erinnerungskulturen an den deutschen Gerichten. Das BAG wurde exemplarisch kritisiert.
Wenn das Forum Justizgeschichte ein Kernthema hat, dann ist es die Rolle der Justiz im nationalsozialistischen Deutschland und die Aufarbeitung dieser Zeit. Der Verein war 1998 auf Betreiben des Braunschweiger OLG-Richters Dr. Helmut Kramer gegründet worden, einem der wichtigsten Vorreiter bei der Aufarbeitung der NS-Justiz; der heute 91-jährige Kramer war auch lange Jahre Vorsitzender.
Am Wochenende ging es beim Forum Justizgeschichte um die Rolle, die die Justiz bei der Aufarbeitung des eigenen Unrechts spielte und spielt. Die Geschichtsprofessorin Annette Weinke, die auch im Beirat des Forums sitzt, skizzierte die bisherigen Phasen dieser Aufarbeitung. Von Ende der 1940er- bis Mitte der 1950er-Jahre sei der westdeutschen Justiz eine "kollektive Selbstentlastung" gelungen. Spätere Angriffe aus der DDR, die in so genannten "Braunbüchern" Kontinuitäten zum NS-Staat und Beteiligung an NS-Verbrechen aufzeigte, seien damals als Propaganda abgetan worden und hätten eher noch zur Solidarisierung mit den Angegriffenen geführt.
Erst 1995 räumte der Bundesgerichtshof (BGH) ein "folgenschweres Versagen" im Umgang mit NS-belasteten Richtern ein – weil man nun gegen die Rechtsbeugung von DDR-Jurist:innen vorgehen wollte. Ab 1990 gab es auch in mehreren Wellen gesetzliche Rehabilitierungen von Opfern der NS-Justiz. Die Initiative hierzu kam aber aus Politik und Zivilgesellschaft, weniger aus der Justiz selbst. Inzwischen sei jedoch eine neue Juristengeneration durchaus offen für das Thema, so Historikerin Weinke, und beteilige sich am komplexen Diskurs mit Fachöffentlichkeit, Initiativen, Medien und Gedenkstätten.
Nachhaltiges "Nicht-wissen-wollen" am BAG?
Sozusagen als Negativbeispiel befasste sich Dr. Martin Borowsky, Richter am Landgericht Erfurt, mit einer "Ahnengalerie" am Bundesarbeitsgericht. In einem nicht offen zugänglichen Konferenzraum im zweiten Stock des Erfurter BAG-Gebäudes hängen Fotos der ersten BAG-Richtergeneration. Borowsky hält nach dreijähriger Forschung die Hälfte von 25 untersuchten Richter:innen für "erheblich bis schwer belastet". Festgestellt hat er zum Beispiel die Beteiligung an Todesurteilen von Sondergerichten, Engagement in der SA oder wissenschaftliche Veröffentlichungen im Geiste eines eliminatorischen Antisemitismus. Auch soll ein früher BAG-Richter in den Niederlanden als führender Jurist an der Ausplünderung der dortigen jüdischen Bevölkerung beteiligt gewesen sein.
Borowsky kritisierte zum einen den renommierten Arbeitsrechts-Professor Peter Hanau, der zum 60. Geburtstag des BAG 2014 eine Chronik verfasste und dort behauptete, man könne "mit Stolz" auf die erste Nachkriegsgeneration des BAG zurückblicken. Borowsky fand die Aussage "erstaunlich", da 2014 noch jede tatsächliche Grundlage für eine derartige Wertung fehlte.
Borowsky kritisierte aber auch das BAG selbst, das nie einen Grund gesehen habe, die NS-Verstrickung seiner ersten Richter:innen aufzuarbeiten. "Bis heute konnte sich so der Mythos des unbelasteten Gerichts halten", konstatierte Borowsky. Er stellte klar, dass es bei der "Ahnengalerie" nicht um eine Ehrung dieser Richter:innen gehe. Er werfe dem BAG aber ein nachhaltiges "Nicht-wissen-wollen" vor. Als mögliche Gründe nannte er Desinteresse, andere Prioritäten, Angst vor juristischen Klagen, wissenschaftliche und sonstige Nähebeziehungen und nicht zuletzt die "Furcht vor einer Delegitimation der Institution und ihrer Rechtsprechung". Borowsky betonte, dass er selbst "noch viel mehr Fragen als Antworten" habe.
Engagierte Richter und leere Bilderrahmen am OLG Frankfurt
Als leuchtendes Gegenbeispiel präsentierte Dr. h.c. Georg Falk, pensionierter Vorsitzender Richter am OLG Frankfurt/M., die Justiz in Hessen. In einer Fülle von Veranstaltungen und Publikationen befassten sich die hessischen Gerichte und Staatsanwaltschaften mit der Unrechts-Justiz im Nationalsozialismus, die bereits "relativ gut erforscht" sei. Schon in den 1970er-Jahren gab es mit dem Band "Juden vor Gericht" eine erste Veröffentlichung. Zuletzt brachte Falk 2020 mit vier Co-Autoren unter dem Titel "Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?" eine empirische Studie über die Zivilrechtsprechung des OLG Frankfurt von 1933 bis 1945 heraus.
Auch in der hessischen Referendarsausbildung ist die Auseinandersetzung mit der NS-Justiz fest verankert. Jährlich veranstaltet Falk eine Arbeitstagung für 25 Referendar:innen. "Juristen brauchen nicht nur Dogmatik, sondern auch eine Ethik", sagte Falk. Auch die "Ahnengalerie" der Präsident:innen des OLG Frankfurt wurde schon 1994 kritisch umgestaltet. Für die OLG-Präsidenten der NS-Zeit gebe es zwar noch einen Bilderrahmen, doch dieser bleibe leer; auf Fotos dieser Personen werde verzichtet. Über eine erneute Umgestaltung mit mehr Informationen werde derzeit diskutiert.
Wichtig ist für Falk die besondere Tradition des OLG Frankfurt. Dieses wurde 1948 nach dem Krieg nicht einfach fortgeführt, sondern neu gegründet. Justizminister war damals Georg-August Zinn (SPD), der später Ministerpräsident des Landes wurde. In den ersten Jahren, so hat Falk festgestellt, fand sich unter den OLG-Richter:innen kein einziges ehemaliges NSDAP-Mitglied. "Letztlich wird die Erinnerungspolitik aber immer von einzelnen Personen geprägt", betonte Falk und sprach dabei positiv über die letzten drei OLG-Präsident:innen.
Von der Strafverfolgung der DDR-Richter zur Aufarbeitung der NS-Justiz
"Das Recht ist ein Medium der Erinnerung", sagte die Politikwissenschaftlerin Christiane Wilke, die als Associate Professor am Department of Law der Universität in Ottawa (Kanada) lehrt. Sie hat untersucht, wie sich in Strafprozessen verschiedene Vergangenheiten verweben können.
Staatsanwaltschaften und Gerichte gingen dabei, so Wilke, meist von einem glatten Umbruch aus. Die Vergangenheit werde als Unrecht gebrandmarkt und das neue Recht als die Abkehr von diesem Unrecht. Angeklagte versuchten aber oft, dieses Narrativ in Frage zu stellen. Sie brächten "Gespenster" der Vergangenheit ein, um die Legitimation des Gerichts in Frage zu stellen. Bei Prozessen gegen ehemalige DDR-Funktionäre thematisierte die Verteidigung zum Beispiel immer wieder die unzureichende Aufarbeitung von NS-Unrecht.
Wilke beschrieb dies am Beispiel des DDR-Regimekritikers Robert Havemann, der 1976 von einem DDR-Gericht zu Hausarrest verurteilt worden war. Nach der Wende verurteilte die bundesdeutsche Justiz zwei hieran beteiligte Staatsanwälte wegen Rechtsbeugung. Im Prozess war allerdings zur Sprache gekommen, dass Havemann im 3. Reich bereits als Mitglied einer Widerstandsgruppe vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war - und keiner der damals beteiligten Richter im Nachkriegsdeutschland zur Rechenschaft gezogen worden war.
Mit der Figur der "Gespenster" lehnte sich Wilke an eine Begriffsbildung der US-Soziologin Avery Gordon und des französischen Philosophen Jacques Derrida an. Sie löste damit aber kontroverse Diskussionen aus. Historikerin Weinke zweifelte, ob die Gegenüberstellung von Umbruch-Narrativ und Gespenstergeschichten geeignet sei, so komplexe Vorgänge zu analysieren. Ex-Richter Falk fand dagegen, dass alles noch "viel einfacher" sei. Letztlich sei die Justiz Teil der Gesellschaft und nehme an ihren Diskursen Teil. Deshalb habe der BGH 1995 auch sein Versagen bei der Aufarbeitung der NS-Justiz eingeräumt. Man müsse die Analyse an den handelnden Personen festmachen. Wilke entgegnete: "Gespenster sind Ausdruck von Komplexität". Es sei eindeutig, dass die Strafverfolgung der DDR-Richter die Auseinandersetzung mit der NS-Justiz forciert habe.
Das Forum Justizgeschichte will die Diskussion um die Erinnerungskultur der Justiz mit mehreren Veranstaltungen im Monatsrhythmus bis Januar fortsetzen.
Forum Justizgeschichte zur Erinnerungskultur an Gerichten: . In: Legal Tribune Online, 02.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46184 (abgerufen am: 14.12.2024 )
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