Hotels, Gaststätten, Tennisspieler – die Verwaltungsgerichte müssen in zahlreichen Eilverfahren entscheiden. Das ist per se kein gutes Zeichen für den Rechtsstaat, findet der Staatsrechtler Lepsius. Und fordert ein verfassungsrechtliches Umschalten.
Rund 35 Eilentscheidungen gegen Corona-Schutzmaßnahmen haben die Verwaltungsgerichte allein seit Ende Oktober abgesetzt. Seit März hätten Verwaltungsgerichte in tausenden Fällen Corona-Beschränkungen überprüft und nötigenfalls korrigiert, hieß es am Dienstag vom Deutschen Richterbund.
Zuletzt haben sich wieder Tätowierer, Hotelketten, Urlauber, Gastronomiebetreiber und Tennisfreunde vor Gericht gegen die Einschränkungen für November gewehrt. Sie alle sind, soweit es um Maßnahmen des "zweiten Lockdowns" ging, bislang fast ausnahmslos vor den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten gescheitert. Es zeichnet sich ab, dass die Gerichte bei ihren vorläufigen Prognosen davon ausgehen, dass die Einschränkungen hingenommen werden müssen – unter anderem, weil eine Entschädigung in Aussicht steht. Und vor allem auch deshalb, weil die Maßnahmen auf November befristet sind. Die Justiz hält sie für verhältnismäßig.
Wie ein Mantra hatte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem November-Lockdown im Bundestag betont, dass die neuen Regeln für November "geeignet, erforderlich, verhältnismäßig" seien.
"Eigentlich haben die Gerichte noch gar nichts entschieden"
"Eigentlich", sagt der Staatsrechtler Prof. Dr. Oliver Lepsius von der Uni Münster, "haben die Gerichte erstmal noch gar nichts entschieden." Zu den Maßnahmen lägen bislang nur Eilentscheidungen, aber keine Entscheidung in der Hauptsache vor. Er sieht in den bisherigen Entscheidungen einen gewissen "Vertrauensvorschuss" für die Maßnahmen.
Auffällig bleibt eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von Anfang November. Die Richter haben Zweifel daran, ob "erhebliche Grundrechtseingriffe über einen längeren Zeitraum allein durch die Exekutive" entschieden werden können – oder ob es dafür nicht eine Entscheidung des Parlaments bräuchte. Was die Länder bislang angeordnet haben, stützten sie auf die Generalklausel des § 28 Infektionsschutzgesetz, obwohl dort nur ziemlich pauschal von "notwendigen Schutzmaßnahmen" die Rede ist.
Neues Infektionsschutzgesetz – vom Parlament für die Gerichte?
Die Große Koalition hat reagiert und eine neue Version des IfSG auf den Weg gebracht. Es heißt etwas umständlich "Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite". Am vergangenen Freitag wurden die Nachbesserungen in erster Runde im Bundestag beraten, am Donnerstag soll es eine Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss geben. Das geänderte Gesetz soll, ähnlich wie bei Standardmaßnahmen im Polizeirecht, konkrete Maßnahmen benennen, also ausdrücklich zum Beispiel das Schließen von Gaststätten und Sportstätten. Damit soll das InfSchG gerichtsfit gemacht werden bzw. die Gerichte entscheidungsfit – wie gut das allerdings angesichts der eher vage formulierten Standardmaßnahmen ("Reisebeschränkungen" oder "Ausgangsbeschränkungen") klappen wird, bleibt fraglich.
Dass die Gerichte überhaupt so viele Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen treffen müssen, hält Lepsius nicht für ein Zeichen eines funktionierenden Rechtstaats. Ganz im Gegenteil. "Der Rechtsstaat funktioniert nicht, nur weil Gerichte entscheiden", so Lepsius am Montagabend in einer Runde vor Journalisten. Und vor allem entscheiden sie nur zu ganz bestimmten Lebensbereichen, gab Lepsius zu bedenken. "Gerichte werden erst dann befasst, wenn jemand klagt. Und den Rechtsweg muss man sich leisten können." Was einer Hotelkette und ihren Anwälten leichter falle, sei für Menschen, die in ihren Freizeitaktivitäten eingeschränkt sind, eine andere Herausforderung. Viele Einbußen seien zudem gar nicht kompensierbar. "Ein Abiball findet nur einmal im Leben statt".
Wie weiter nach November?
Lepsius plädierte dafür, die Verfassung nicht mehr nur als ein nachträglich von den Gerichten aktiviertes "Kontrollsystem" zu sehen, sondern auch und in erster Linie als Handlungsanleitung für die Politik bei ihren Entscheidungen.
Ziel des veränderten Infektionsschutzgesetzes ist ausweislich des Entwurfs der Großen Koalition der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung. Das ist eine Weichenstellung, die Lepsius begrüßt. Wenn zu Beginn der Coronapandemie auch auf den Lebensschutz als Ziel abgestellt wurde, dann habe das verfassungsrechtlich Probleme bereitet. "Leben ist das einzige Schutzgut, das nur eine Eingriffsform kennt, nämlich den Tod", so Lepsius. Die Probleme liegen auf der Hand: Eine Abwägung wäre damit ausgeschlossen, differenzierte Lösungen so gut wie nicht möglich. Sind die Maßnahmen hingegen am Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung zu messen, müssen sie gut begründet werden. Wie gut das gelingt, darüber werden am Ende wieder Gerichte entscheiden.
Die größte Frage für Lepsius bleibt: Was machen wir nach November? Er geht davon aus, dass weiterhin soziale Kontakte in großem Umfang beschränkt werden müssen. In welchen Bereichen – also Schule, Arbeit, Freizeit – das geschieht, sei am Ende eine Verteilungsfrage. Und die müsse am besten in einem Parlament entschieden werden.
Staatsrechtler Lepsius zu Corona-Maßnahmen und Justiz: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43382 (abgerufen am: 13.10.2024 )
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