Neben Senatsurteilen fällt das BVerfG zuletzt 2023 über 4.500 Kammerentscheidungen. Unterstützt werden die Richter von wissenschaftlichen Mitarbeitern. Wie sie vorgehen und den Rechtsprechungsüberblick behalten, dazu Sandra Lukosek und Alix Schlüter.
Das Jahr 2024 ist das Jahr des Bundesverfassungsgerichts: Nicht nur, dass unser Grundgesetz, über welches das Gericht als oberster Hüter wacht, im Mai seinen 75. Geburtstag gefeiert hat. Zudem haben sich im Juli Vertreterinnen und Vertreter der damaligen Regierungsfraktionen sowie der CDU/CSU-Fraktion nach intensiven Diskussionen in Politik und Wissenschaft auf einen Vorschlag für Grundgesetzänderungen zum besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts geeinigt, zu dem am 13. November 2024 eine Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages stattgefunden hat. Das Resilienz-Projekt ist eines der wenigen, das aufgrund seiner Bedeutung noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden könnte.
Und das Gericht ist sehr beschäftigt. Allein im vergangenen Jahr 2023 hat das Bundesverfassungsgericht so oft mündlich verhandelt und so viele Entscheidungen verkündet wie selten zuvor in seiner Geschichte. Viele dieser Entscheidungen standen im Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und wurden von einem erheblichen medialen Interesse begleitet, darunter – um nur einige wenige zu nennen – die Entscheidungen des Ersten Senats zu "Hessendata" und zur Kinderehe sowie die Urteile des Zweiten Senats zur Stiftungsfinanzierung, zur Berlinwahl, zur Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen, zur Gefangenenvergütung und, kurz vor Jahresende, das Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz, das die Zusammenarbeit der damaligen Regierungsfraktionen auf eine Zerreißprobe stellte. Daneben ist das Gericht aber auch mit dem alltäglichen Rechtsprechungsbetrieb beschäftigt, seine sechs Kammern entschieden 2023 insgesamt 4.894 Fälle, etwa über Verfassungsbeschwerden zum Hafturlaub von Strafgefangenen, zum Ausschluss eines NPD-Mitglieds aus einem Sportverein und gegen die Durchsuchung eines Universitätslehrstuhls zur Auffindung von Forschungsunterlagen.
Die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
Jede Entscheidung wird von einer Berichterstatterin oder einem Berichterstatter vorbereitet und anschließend in einem der beiden Senate oder in einer der sechs Kammern beraten. Welche Richterin oder welcher Richter zuständig ist, richtet sich nach dem Geschäftsverteilungsplan, der jeweils am Ende eines Jahres für das kommende Jahr beschlossen wird. Im Hintergrund wirken an den Entscheidungen neben den vielen Beschäftigten in den Vorzimmern, Senatsgeschäftsstellen, im Rechtspflegerdienst, dem Allgemeinen Register, der IT/EDV und der Bibliothek auch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorbereitend mit. Jeweils vier stehen jedem der 16 Senatsmitglieder helfend zur Seite.
Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts unterstützen sie die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts. Die Mitglieder des "Dritten Senats", wie sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen selbst nennen, sind zumeist für einige Jahre aus allen Teilen Deutschlands an das Gericht abgeordnet. In ihrer Zeit in Karlsruhe arbeiten die Richterinnen und Richter, Assessorinnen, Verwaltungsbeamten, Rechtsanwälte oder Wissenschaftlerinnen an den Verfahren vom Eingang der Beschwerdeschrift, der Klage oder des Antrags bis hin zur Verkündung der Entscheidung mit. Sie haben keine Entscheidungskompetenz und nehmen an den Beratungen der Senate und Kammern nicht teil. Sie beobachten und begleiten die Verfassungsrichterinnen und -richter aber täglich bei der Ausübung ihres Amtes und stehen mit ihnen in ständigem Austausch.
Aufgabe der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist es zunächst, für den berichterstattenden Richter oder die berichterstattende Richterin den Sachverhalt des zu entscheidenden Falles aufzubereiten. Dies erleichtert den Senatsmitgliedern das Studium der oft sehr umfangreichen Akten – im Fachjargon als "Gürteltiere" bezeichnet, inspiriert von den geschnürten Hilfsmitteln, die den Aktenstapel zusammenhalten. Die Mitarbeiter erstellen außerdem eine rechtliche Ersteinschätzung des Falles, ein sogenanntes (Kurz-)Votum. Dies geschieht auch dann, wenn am Ende des Verfahrens nur ein nicht begründeter Nichtannahmebeschluss das Gericht verlässt. Die Bezeichnung "Kurzvotum" führt in die Irre: Manche Kurzvoten haben mehrere hundert Seiten und beinhalten eine akribische Auswertung der einschlägigen Fachliteratur und Rechtsprechung. Der Berichterstatter entscheidet dann, ob ihn das Kurzvotum überzeugt – oder er hakt beim zuständigen Mitarbeiter nach. Manche Mitarbeiter bearbeiten in ihrer Zeit am Gericht auf diese Weise eine dreistellige Anzahl an Verfahren. Andere wiederum sind über mehrere Monate bis Jahre in die Erstellung eines Senatsvotums eingebunden – die Entscheidungen, die später Eingang in die berühmten "grauen Bände" finden.
Von Pfaden, Wegen und Linien in der Rechtsprechung
Ob Vaterschaftsanfechtung, Berliner Wiederholungswahl, Nachtragshaushaltsgesetz oder Parteien- und Stiftungsfinanzierung – die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gründen auf einem Fundament aus über sieben Jahrzehnten Verfassungsrechtsprechung. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist heute in einer Phase angekommen, in der es bei der Interpretation, Ausdeutung und Konkretisierung der abstrakten Verfassungsgehalte zunehmend um die Detailsteuerung und Ausbuchstabierung von bereits etablierten Fallgruppen und Maßstäben geht, während richtungsweisende Grundsatzentscheidungen vielfach bereits getroffen wurden.
So zeichnet sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit jeher durch ein hohes Maß an Pfadabhängigkeit aus. Dies gilt zunächst für Entscheidungen der Kammern, die schon entsprechend der Konzeption des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nur zuständig sind, wenn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden ist, aber auch für Senatsentscheidungen. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass die Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts immer linear verläuft. Das Verlassen von Pfaden ist nicht ausgeschlossen, und gerade in erstmals zu entscheidenden Fallkonstellationen kann sich das Gericht die bestehenden Maßstäbe vergegenwärtigen und sie bei Bedarf präzisieren. Die berühmten "Zitierketten" bilden die Gewähr dafür, dass das Bundesverfassungsgericht eingeschlagene Wege nicht kurzerhand verlässt.
Diesen Entwicklungslinien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachzuspüren und sie dabei kritisch zu hinterfragen, haben sich die "Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" zum Ziel gesetzt. Seit einigen Jahren geben die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen diesen Sammelband heraus, in dem sie die großen, aber auch kleineren, manchmal über Jahrzehnte verflochtenen Rechtsprechungslinien betrachten, systematisieren und veranschaulichen. Die während ihrer Zeit am Bundesverfassungsgericht gewonnene Innensicht ergänzt sich durch ihre Außensicht. Mit der gebündelten Behandlung einer Vielzahl konkreter Entscheidungen wählt der Linienband einerseits einen detailbezogenen Ansatz. Wie die Entscheidungen selbst decken auch die Beiträge andererseits ein breites Themenspektrum ab. Die Linienbände spiegeln daher immer wieder anschaulich wider, was diejenigen, die das Gericht anrufen, sowie Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aktuell bewegt. Die Linienbände haben sich daher – so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Stephan Harbarth, in seinem Geleitwort zum sechsten Band – als "Hilfsmittel von großem Wert" erwiesen. Im kürzlich erschienenen siebten Band werden neben übergreifenden Themen wie der Staats- und Grundrechtslehre neue Leitentscheidungen aus den Bereichen des Grundrechtsschutzes, des Parteien-, Parlaments- und des Finanzverfassungsrechts behandelt. Als Gemeinschaftsprojekt des Dritten Senats bieten die "Linien" eine vielfältige Perspektive auf die Arbeit des Gerichts, die heute vielleicht wichtiger ist als jemals zuvor.
Der 7. Band der "Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" ist im September 2024 im Verlag De Gruyter erschienen. Die Autorinnen dieses Beitrags sind dessen Herausgeberinnen und sind bzw. waren wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Neues vom "Dritten Senat": . In: Legal Tribune Online, 06.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56052 (abgerufen am: 24.01.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag