Wahlrechtsurteil geleakt: Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt sieht tech­ni­schen Fehler als Ursache

von Joschka Buchholz und Dr. Markus Sehl

27.11.2024

Die BVerfG-Entscheidung aus Juli 2024 zum Bundeswahlgesetz war mit Spannung erwartet worden – und vor der Verkündung schon online. Der Vorfall machte Schlagzeilen, nun will das BVerfG den Vorfall aufgeklärt haben. Aber es bleiben Fragen offen.

Am späten Abend des 29. Juli 2024 war die Aufregung plötzlich ganz groß: Das für den nächsten Morgen zur Verkündung bestimmte Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Bundeswahlgesetz 2023 war vorab online verfügbar und zirkulierte schnell bei X und anderswo, LTO berichtete.

Auch wenn es im letztlich verkündeten Urteil, das wie seit Langem üblich um kurz nach 10 Uhr seitens des BVerfG veröffentlicht wurde, letztlich minimale Veränderungen im Vergleich zur vorab geleakten Version gab, waren die wesentlichen Entscheidungsgründe schon am Vorabend in der Welt. Wie sich schon in der mündlichen Verhandlung abgezeichnet hatte, wurden große Teile der Wahlrechtsreform von 2023 für verfassungsgemäß erklärt, doch die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel erklärte der Zweite Senat für mit dem Grundgesetz unvereinbar – über den Inhalt des Urteils freuten sich ausnahmsweise mal fast alle.

Im Rahmen der Urteilsverkündung adressierte die Senatsvorsitzende und Gerichtsvizepräsidentin Doris König das Leak vom Vorabend nur kurz: "Ich nehme an, mit Spannung wird jetzt erwartet, dass wir Stellung nehmen", sagte sie, nachdem sie die grundsätzlichen Entscheidungen des Gerichts stichpunktartig verkündet hatte. Dann hieß es aber nur knapp: "Das Gericht ist gerade dabei zu prüfen, wie es dazu kommen konnte", sagte König. Man vermute einen technischen Fehler.

Am Nachmittag des Verkündungstages gab es seitens des BVerfG noch zusätzlich eine kurze Pressemitteilung, in der das Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck gebracht wurde. Der Direktor beim BVerfG, Peter Weigl, sei mit der Aufklärung des Falls und Prävention künftiger Vorkommnisse beauftragt worden, hieß es damals.

War nur die Technik schuld?

Diese angekündigte Aufklärung sei nun abgeschlossen, wie das BVerfG am Mittwoch mitteilte – abermals allerdings sehr knapp.

"Es wurde festgestellt, dass eine PDF-Datei mit einer Version der schriftlichen Urteilsgründe vorübergehend über eine URL abgerufen werden konnte. Die Untersuchung hat bestätigt, dass hierfür eine technische Funktion ursächlich war. Die PDF-Datei wurde unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls noch am Abend des 29. Juli 2024 gelöscht. Die ursächliche technische Funktion wurde am 30. Juli 2024 dauerhaft deaktiviert", heißt es in der Pressemitteilung. Menschliches Versagen will das BVerfG damit ausschließen, die Technik soll stattdessen schuld gewesen sein. 

Das ist knapp, sagt zwar etwas über das Ende der Praxis, allerdings wenig über das vom BVerfG praktizierte Vorgehen, das erst zum Auffinden der Entscheidung führte. Denn natürlich hatten Menschen am Gericht die technische Möglichkeit genutzt, um Entscheidungen "unsichtbar" vorab hochzuladen. 

BVerfG: "Nur für interne Zwecke vorbereitet"

Auf diese Praxis aufmerksam wurde ein Nutzer der Plattform Bluesky. Ihm war bei der Durchsicht von BVerfG-Entscheidungen aufgefallen, dass aufgrund eines in den digitalen Dokumenten erkennbaren Datum der Veröffentlichung, sie bereits älter waren als das jeweilige Verkündungsdatum. Das brachte ihn auf die Spur der vorab hochgeladenen Urteils-Dokumente. Der Spiegel hat ein Interview mit ihm geführt. Der Nutzer fand nach eigenen Angaben heraus, dass die PDF-Dateien alle einem bestimmten Muster folgten, ihr Dateiname war zusammengesetzt aus Aktenzeichen und Entscheidungsdatum. Um die Wahlrechtsentscheidung vorab im Netz zu finden, brauchte er nun nur noch in der Suche im Netz mit Aktenzeichen und Datum auszuprobieren. Wenig später kursierte das Urteil im Netz.

Auf eine LTO-Presseanfrage zu den Vorgängen antwortete eine Sprecherin des BVerfG am Mittwochabend: "Die Veröffentlichung des Urteilstexts wurde in einem Content-Management-System ausschließlich für interne Zwecke vorbereitet." Aus IT-Sicherheitsgründen sehe man von einer weiteren Beantwortung der Frage ab. Weitere Fragen, dazu über welchen Zeitraum regelmäßig Entscheidungen versteckt online gestellt wurden und nach dem Zweck des Vorgehens, blieben damit unbeantwortet.  

 

Anm. d. Red.: Beitrag in der Version vom 27.11.2024 17.44 Uhr, ergänzt wurde eine Antwort der BVerfG-Pressestelle.

Zitiervorschlag

Wahlrechtsurteil geleakt: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55968 (abgerufen am: 11.12.2024 )

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