Harbarth und Nußberger im Youtube-Gespräch: Wer hat das alle­ral­ler­letzte Wort?

von Annelie Kaufmann

23.09.2021

Im Youtube-Livestream trafen sich BVerfG-Präsident Stephan Harbarth und die ehemalige Vizepräsidentin des EGMR Angelika Nußberger zu einem Gespräch über Grundrechte – doch es fehlte ganz offensichtlich jemand.

Zum Abschluss der Gesprächsreihe schaltete sich am Dienstagabend der Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Stephan Harbarth auf Youtube ein. Das BVerfG feiert in diesem Monat seinen 70. Geburtstag – vor allem mit digitalen Formaten. Dazu gehört auch ein Youtube-Livestream in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung, bei der die Richterinnen und Richter aus Karlsruhe jeweils auf einen anderen prominenten Teilnehmer trafen. 

Die Zusammenstellung hatte durchaus Charme, so diskutierte die Verfassungsrichterin Susanne Baer mit Verfassungsrichter a.D. Udo di Fabio über die Menschenwürde, Verfassungsrichterin Christine Langenfeld mit der CDU-Politikerin und Buchautorin Diana Kinnert über Diskriminierung, der Verfassungsrichter Ulrich Maidowski bekam die Frage "Wem gewähren wir Asyl in Deutschland?" gestellt und Petra Bendel als Leiterin des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration an der Universität Erlangen-Nürnberg an die Seite und Ines Härtel, Neuzugang im ersten Senat, bearbeitete mit Josephine Ballon von HateAid das Thema "Grenzen des Sagbaren im Netz". Moderiert wurden die Gespräche jeweils von Mitgliedern der ARD-Rechtsredaktion, nachhören kann man sie auf dem bpb-Youtubekanal.

Die letzte Folge dieser Reihe gab es am Dienstagabend zu sehen und zu hören, Titel: "Wie steht es um den Grundrechtsschutz in Europa, Herr Prof. Dr. Harbarth?" Sein Gegenüber: Die ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Angelika Nußberger.

Karlsruhe, Straßburg – und was ist mit Luxemburg?

Der EGMR wurde 1959 in Straßburg von den Mitgliedstaaten des Europarats errichtet – acht Jahre nach dem BVerfG, man könne ihn also als jüngeren Bruder oder Schwester bezeichnen, meinte Nußberger mit Blick auf den runden Geburtstag in Karlsruhe. Wenn man in diesem Bild bleiben will, dann war der Europäische Gerichtshof (EuGH), mit 69 Jahren auch durchaus altehrwürdig, für den Grundrechtsschutz aber erst in neuerer Zeit relevant, sozusagen das Stiefkind des Abends. 

Denn das war schnell klar: Wenn es um den Grundrechtsschutz in Deutschland und Europa geht, dann um Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg. Und so wurde zwar viel über den EuGH gesprochen, aber nicht mit ihm – die Zweierbesetzung, so angeregt das Gespräch auch war, wirkte in dieser Folge aber eher wie ein Konstruktionsfehler.

Die Aufteilung des Grundrechtsschutzes zwischen diesen drei Institutionen scheint nur auf den ersten Blick einfach: Das BVerfG ist für die Wahrung der Grundrechte nach dem Grundgesetz zuständig, der EGMR überwacht die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zwar für alle 47 Staaten des Europarats und der EuGH ist für die Auslegung der EU-Grundrechte-Charta zuständig. 

Der wichtigste Unterschied: An das BVerfG und an den EGMR können sich Bürgerinnen und Bürger direkt wenden, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt sehen – der EuGH dagegen entscheidet nur auf Vorlage der nationalen Gerichte.

Wenn der EGMR entscheidet, was das BVerfG über die EU-Grundrechte-Charta sagt…

Das Zusammenspiel der drei Gerichte ist aber kompliziert. So hat die EMRK zwar in Deutschland den Rang eines einfachen Gesetzes – anders als etwa in Österreich, wo sie neben der Verfassung steht – wird aber vom BVerfG regelmäßig in den Blick genommen, ebenso wie die Rechtsprechung des EGMR. Sind Bürgerinnen und Bürger der Auffassung, dass Karlsruhe ihre Rechte aus der EMRK nicht ausreichend berücksichtigt hat, können sie sich an den EGMR wenden – wenn sie den Rechtsweg ausgeschöpft haben. 

Für die EU-Grundrechte-Charta gilt, dass das BVerfG sie selbst anwendet, wenn es um zwingendes EU-Recht geht – das BVerfG hatte 2019 mit seinen Entscheidungen "Recht auf Vergessen I" und "Recht auf Vergessen II" seine Rolle bei der Grundrechtsprüfung neu geordnet. Eine Verfassungsbeschwerde kann also unter bestimmten Umständen auch auf die Rüge der Verletzung eines Rechts aus der EU-Grundrechte-Charta gestützt werden. Wie komplex es werden kann, erklärte Nußberger an einem Fall, der zwar noch nicht vorkam, aber früher oder später eben vorkommen kann: "Wenn das BVerfG die EU-Grundrechte-Charta anwendet, kann es durchaus passieren, dass der Betroffene anschließend nach Straßburg geht – dann muss der EGMR entscheiden, ob die Auslegung der Charta durch das BVerfG mit der EMRK vereinbar ist." 

Bei 80 Millionen Deutschen und insgesamt 820 Millionen Menschen, die der Gerichtsbarkeit des EGMR unterstellt sind, ist es eben ziemlich wahrscheinlich, dass schwierige rechtliche Fragen die Straßburger Richterinnen und Richter früher oder später erreichen. "Es gibt immer Menschen, die mit ihrem Rechtsproblem in die letzte und allerletzte und allerallerletzte Instanz gehen", so Nußberger.

Die allerallerletzte Instanz?

Womit sich dann auch die Gretchenfrage des Abends stellte: Wer hat denn nun das letzte Wort?  "Mal das Bundesverfassungsgericht, mal der EuGH und mal der EGMR", antwortet Harbarth. "Jedes Gericht hat seine spezifische Aufgabe. Die sollte es wahrnehmen und auch anerkennen, dass seine Aufgabe Grenzen hat."

Entsprechend beobachte man sich gegenseitig sehr genau und nehme die Argumentation der jeweils anderen Gerichte auf, das betonten Harbarth und Nußberger beide. Dabei kann das Verhältnis zwischen Straßburg und Karlsruhe als recht entspannt gelten, auch wenn Meinungsverschiedenheiten durchaus vorkommen. 

Das zeigt sich schon an den Zahlen: Von rund 6.000 Verfassungsbeschwerden, die das BVerfG jährlich erledigt (größtenteils durch Nichtannahmebeschlüsse) landet etwa ein Drittel anschließend in Straßburg, auch dort werden aber rund 95 Prozent in einer Vorprüfung aussortiert. Die Fälle, die übrig bleiben, könne man an zwei Händen abzählen, so Nußberger: "In vielleicht fünf bis zehn Fällen kommt es vor, dass wir einen Fall tatsächlich anders sehen als das BVerfG."

Konflikte zwischen Gerichten dauern manchmal etwas länger

Das war mal anders, insbesondere als der EGMR vor rund zehn Jahren regelmäßig die überlangen Gerichtsverfahren in Deutschland und fehlende Entschädigungszahlungen kritisierte. "Damals hatten wir schon mal um die hundert aussichtsreich anhängige Fälle", so Nußberger. Erst mit einer Gesetzesänderung in Deutschland ließ sich das Problem lösen

Ein anderer Konfliktfall war die nachträgliche Sicherungsverwahrung – der Rechtsstreit ging zwischen BVerfG und EGMR von 2004 bis ins Jahr 2018. Aber auch hier kam man schließlich zu einer gemeinsamen Linie, bei der Karlsruhe die Straßburger Rechtsprechung berücksichtigte. "Ein Dialog zwischen Gerichten dauert eben manchmal etwas länger als zwischen Menschen", so Harbarth.

Angespannter ist das Verhältnis derzeit zwischen BVerfG und EuGH. Grund dafür ist die heftig umstrittene Karlsruher Entscheidung zum Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB). Das deutsche Verfassungsgericht erklärte das billigende EuGH-Urteil für "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar", die Aufregung war groß. Harbarth versucht seitdem gleichermaßen zu verteidigen wie zu beschwichtigen. In diesem konkreten Fall sei das Problem doch gelöst, sagte er am Dienstag. Die EZB reichte eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach, das BVerfG bestätigte, dass Bundesregierung und Bundestag seine Vorgaben umgesetzt hatten

Ob man den Konflikt am EuGH ebenso entspannt als "gelöst" betrachten will, musste offenbleiben. Da aus Luxemburg eben keiner da war, übernahm Nußberger eine etwas undankbare vermittelnde Rolle. Einerseits sei die grundsätzliche Linie des BVerfG nachvollziehbar, betonte sie, andererseits habe der EuGH seine Entscheidung "immerhin ausführlich begründet", so Nußberger. "Ihm da Willkür vorzuwerfen wurde allgemein sehr kritisch gesehen." Zugleich warnte sie jedoch vor einer Eskalation: "Das würde wirklich in eine Sackgasse führen. Denn dann landet das Verfahren erneut beim EuGH – und der müsste als Richter in eigener Sache entscheiden." Dass das nirgendwohin führen würde, dürfte aber allen Beteiligten klar sein.

Zitiervorschlag

Harbarth und Nußberger im Youtube-Gespräch: . In: Legal Tribune Online, 23.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46104 (abgerufen am: 03.10.2024 )

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