Wer nach Karlsruhe geht, hat meist schon von mehreren Gerichten gehört, warum er nicht Recht habe. Das BVerfG aber muss, wenn es eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annimmt, dafür keine Gründe nennen. Das will die AfD ändern.
Wer eine Verfassungsbeschwerde einreicht, hat meist einen langen Weg hinter sich. Er ist durch alle Instanzen gezogen, um sein Ziel zu erreichen. Und von allen Gerichten hat er, oft mit seitenlanger Begründung, erfahren, warum deutsche Richter der Ansicht sind, dass er nicht bekommen sollte, was er für sein gutes Recht hält. Bis nach Karlsruhe. Wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Verfassungsbeschwerde gegen die Urteile aus der Instanz gar nicht erst zur Entscheidung annimmt, müssen Deutschlands oberste Richter das nicht begründen. Dabei ist ihre Entscheidung unanfechtbar.
Das möchte die Alternative für Deutschland (AfD) nun ändern. Vor einigen Tagen haben Abgeordnete um den aktuellen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Stephan Brandner, einen Gesetzentwurf zur Einführung der Begründungspflicht im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) vorgelegt. Die Vorschrift des § 93 Abs. 1 S. 3, die derzeit regelt, dass die Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde keiner Begründung bedarf, sollte demnach künftig eine Begründungspflicht vorsehen. Weiter heißt es in dem Entwurf: "Es genügt, die für die Nichtannahme im konkreten Sachverhalt wesentlichen Punkte darzulegen. Sie (Anm.d. Red.: gemeint ist wohl die Begründung) ist zu veröffentlichen."
Besonders originell oder auch bloß neu ist die Idee keineswegs, dass die höchste und letzte deutsche Instanz den Rechtsuchenden nicht ohne Begründung fort schicken sollte. Nun greift sie ein rechtspopulistischer Zeitgeist auf, der ohnehin "denen da oben" im Allgemeinen und der Justiz im Besonderen mit Misstrauen begegnet.
Verfassungsrechtler: "Lässt Menschen am Rechtsstaat verzweifeln"
Für den Karlsruher Fachanwalt für Verwaltungsrecht Prof. Dr. Christian Kirchberg gehört es "zur Üblichkeit, dass das Verfahren mit einem ‚leeren Blatt‘ beendet wird, also mit einem nicht begründeten Nichtannahmebeschluss der jeweils zuständigen Kammer des Bundesverfassungsgerichts."
Aber "unbefriedigend und frustrierend ist es allemal", so der schwerpunktmäßig selbst im Verfassungsrecht tätige Anwalt ist. Eine unbegründete Nichtannahme lasse Menschen, die häufig mit einem ganz erheblichen Aufwand ein entsprechendes Verfahren betreiben, "am Rechtsstaat verzweifeln". Das gelte umso mehr, weil eine große Erwartungshaltung bestehe, "weil sich das Bundesverfassungsgericht in der Öffentlichkeit bzw. bei der Bevölkerung eine ganz außerordentliche Reputation erarbeitet hat."
Aus Sicht des erfahrenen Fachanwalts muss man als "Anwalt dem Mandanten bereits bei Übernahme des Mandats deutlich machen, dass die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde, rein statistisch gesehen, wesentlich wahrscheinlicher ist als das Gegenteil und dass insbesondere die entsprechende Beschlussfassung von Gesetzes wegen auch nicht begründet zu werden braucht".
Statistik des BVerfG zeigt: Jede Menge leere Blätter
Die eigenen Statistiken des BVerfG weisen in die gleiche Richtung: Die Anzahl der Verfassungsbeschwerden und einstweiligen Anordnungen, die in den beiden Karlsruher Senaten gar nicht erst zur Entscheidung angenommen wurden, lag im Jahr 2017 bei 5.250 – neu eingegangen waren 5.784 Verfassungsbeschwerden. Eingeführt wurde das vorgeschaltete Annahmeverfahren im Jahr 1963.
Zur Entscheidung angenommen wird eine Verfassungsbeschwerde, wenn ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, das zur Durchsetzung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechte angezeigt ist oder wenn dem Beschwerdeführer sonst ein besonders schwerer Nachteil entstünde.
Die Formulierung von § 93a BVerfGG lässt den richterlichen Entscheidungsspielraum beim Ausfüllen der Rechtsbegriffe erkennen.
Seit 2012 bewegte sich die Anzahl der nicht angenommenen Verfassungsbeschwerden zwischen 5.000 und 6.000 pro Jahr. Von den Nichtannahmebeschlüssen werden etwa 200 bis 300 mit einer Begründung versehen. Mit einer sogenannten Tenorbegründung, einem knappen Hinweis zur Unzulässigkeit oder Unbegründetheit, wurden in den vergangenen Jahren jährlich etwa 600 Nichtannahmen versehen, in den Jahren 2012-2014 waren es allerdings noch über 1.000. Ganz ohne Begründung bleiben schließlich über 4.500 Beschwerden jedes Jahr, also jeweils um die 80 Prozent der eingegangen Verfahren.
Und warum?
Kriterien für die Entscheidung über eine Begründung gibt es nicht. Seit 1993 muss das BVerfG nicht einmal mehr den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt nennen, auch interne Richtlinien oder Entscheidungsvorgaben gibt es nicht, wie ein Sprecher des BVerfG gegenüber LTO bestätigte.
Manchmal könne man sich innerhalb der Kammer auch schlicht nicht auf eine Begründung einigen, obwohl sich alle einig darüber sind, dass an der Verfassungsbeschwerde nichts dran ist“, so ein Kenner der Karlsruher Abläufe gegenüber LTO.
Verfassungsrechtler Kirchberg kann trotz seiner langjährigen Tätigkeit im Verfassungsrecht nach eigenen Angaben als Außenstehender noch immer nicht abschätzen, wann das BVerfG eine Nichtannahme begründen wird und wann nicht. Wenn Nichtannahmebeschlüsse begründet werden, erweckt das aus seiner Sicht häufig den Eindruck, "es handele sich um "kleine" Senatsentscheidungen, also um Entscheidungen, die sich durchaus mit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen befassen, die man allerdings gleichwohl, um einen entsprechenden Aufwand zu vermeiden bzw. aus Gründen der Effektivität der Senatsarbeit, durch die Kammer hat verbescheiden lassen".
Die Entscheidung, die Verfassungsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung anzunehmen, trifft meist eine Kammer, die aus drei Mitgliedern des Senats besteht. Für Verfassungsbeschwerden ist eigentlich der Erste Senat des BVerfG zuständig, wegen Überlastung gibt das Gericht aber seit Jahren auch Verfassungsbeschwerden aus bestimmten Rechtsgebieten an den Zweiten Senat ab, der sonst als sog. Staatsgerichtshof weit weniger Arbeit hätte als der Erste Senat mit den zahlreichen Individualrechtsbeschwerden.
Kaum mehr Arbeit oder nur Mehrarbeit ohne Mehrwert?
Die Belastung des BVerfG, also Machbarkeitserwägungen, sind eines der Hauptargumente für den Wegfall der Begründungspflicht. Ein Blick auf die absoluten Zahlen macht klar, dass das höchste deutsche Gericht unverändert hoch belastet ist. In den vergangenen Jahren gingen stets um die 6.000 Verfahren neu ein. Wenn das Gericht die 80 Prozent, die es jetzt ohne Begründung nicht zur Entscheidung annimmt, auch noch begründen müsste, bräuchte es wohl mehr als nur einen weiteren Senat.
Diese hohe Auslastung von "Karlsruhe" ist auch darauf zurückzuführen, dass die Verfassungsbeschwerde das letzte Mittel für jedermann ist, der den Weg durch die Instanzen erfolglos gegangen ist. Man muss nur behaupten, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder in bestimmten anderen von der Verfassung garantierten Rechten verletzt zu sein (Art. 90 Abs. 1 Grundgesetz, GG). Dieses "Jedermann" nimmt das Grundgesetz sehr ernst: Es gibt keinen Anwaltszwang, das Rechtsmittel kann also tatsächlich jedermann einlegen, bloß schriftlich und in deutscher Sprache abgefasst muss es sein.
Für Verfassungsrechtler Kirchberg ist die Belastung kein Argument. Auch den Nicht-Annahmebeschlüssen gehe stets ein Gutachten am Gericht voraus. "Warum es nicht möglich sein soll, die tragenden Gründe eines solchen Gutachtens redaktionell zusammenzufassen, erschließt sich mir jedoch nach wie vor nicht", so Kirchberg. Hinzu komme, "dass die unbegründeten Nichtannahmebeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zusehends auch beim EGMR in Straßburg 'mit gerunzelten Brauen' gesehen werden, weil der Gerichtshof nicht erkennen kann, ob und mit welchem Ergebnis das Bundesverfassungsgericht sich im konkreten Fall tatsächlich mit den Grundrechten des Grundgesetzes, die in großem Umfang ihre Entsprechung in den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, befasst hat".
Dagegen sieht Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), in dem Vorschlag der AfD "nur Mehrarbeit ohne Mehrwert". Würde man das Gericht zu einer Begründung zwingen, könnte es darauf mit lediglich formelhaften Ausführungen antworten – für die Beschwerdeführer wäre damit seines Erachtens nichts gewonnen.
Ohne Begründung: Verkürzung oder Ermöglichung von Rechtsschutz?
Auch für oberste Bundesgerichte gelte in vielen Fällen keine Begründungspflicht, der BGH verwerfe Revisionen in Strafsachen gem. § 349 Abs. 2 StPO in aller Regel ohne Begründung, so Buermeyer- "Wenn man also die Begründungspflichten erweitern will, so müsste man sinnvollerweise weiter unten im Instanzenzug anfangen", meint Buermeyer, der selbst wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BVerfG war.
Im Vorstoß der AfD sieht der Richter am Landgericht einen populistischen Vorschlag, "der offensichtlich auf der Welle der jedenfalls beim BVerfG völlig unbegründeten Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen reitet, in der Sache aber niemanden helfen würde."
Für Dr. Fabian Scheffczyk, ehemaliger Mitarbeiter am BVerfG, zeugt der Antrag der AfD-Fraktion von "großer Unkenntnis der rechtlichen und tatsächlichen Umstände". Es gebe Verfassungsbeschwerden deren Qualität eine nähere Begründung der Nicht-Annahme quasi überflüssig mache.
Die Nicht-Begründung verkürze in einigen Fällen den Grundrechtsschutz nicht, sondern sie helfe, ihn überhaupt erst zu sichern. "Das schafft die Kapazitäten für Beschwerden, in denen wirkliche verfassungsrechtliche Probleme liegen oder mithilfe derer das objektive Verfassungsrecht weiterentwickelt werden kann", so Scheffczyk, der die entsprechende Passage im BVerfGG auch wissenschaftlich kommentiert. Er gibt zu bedenken: "Egal wie umfangreich und gut eine gerichtliche Entscheidung begründet wird, manche Verlierer vor Gericht werden auch dadurch nicht zufrieden oder befriedet werden."
Nichtannahme ohne Begründung durch das BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32141 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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