Das BSG stellte die Zahlen für das vergangene Jahr und die wichtigsten Entwicklungen in der Sozialgerichtsbarkeit vor. Ein Grund zur Sorge: Die Beiordnung von Anwälten wird immer schwieriger.
Noch nie fand ein Jahresgespräch beim Bundessozialgericht (BSG) so kurz vor einer Bundestagswahl statt. Das war so nicht geplant "und würden wir auch nicht planen", sagte Dr. Christine Fuchsloch am Dienstag in Kassel. Auch für die Präsidentin des Gerichts selbst war es ein Novum: Es war ihr erstes Jahresgespräch. Fuchsloch hatte zum März 2024 die Nachfolge von Professor Dr. Rainer Schlegel angetreten. Der hatte immer sehr deutliche Worte zu aktuellen sozialrechtlichen und sozialpolitischen Fragen gefunden. Die Töne waren in diesem Jahr nur wenig leiser: "Zwölf Tage vor der Wahl befinden wir uns in einem Wahlkampf, in dem es ziemlich wenig um Sozialpolitik geht jedenfalls gemessen an der Bedeutung des Sozialrechts für die Menschen in Deutschland", sagte die Präsidentin.
Sie begann mit der "guten Nachricht", dass die Eingangszahlen beim BSG im Gegensatz zu den vergangenen fünf Jahren nicht mehr deutlich zurückgehen. Über alle Verfahrensarten lagen die Eingänge bei 2.523 Fällen (2023: 2.537 Fälle). Dass die Zahlen nicht weiter sinken sei wichtig, um anhand von Fällen tatsächlich Recht zu sprechen und damit die Aufgabe als Bundesgericht wahrnehmen zu können, grundlegende Maßstäbe für sozialrechtliche Regelungen zu entwickeln.
Beiordnung immer schwieriger
Beim BSG steigen die Fälle, bei denen sich die Bürger:innen ohne anwaltliche Vertretung an das Gericht wenden. In fast 600 Verfahren hätten rechtssuchende Personen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Anwalts oder einer Anwältin beantragt. Diesen Anträgen gibt das Gericht bei klärungsbedürftigen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung statt. Die Beiordnung allerdings sei "immer schwieriger", so Fuchsloch.
Der Grund liegt auf der Hand: Es ist eine hochkomplexe Materie mit geringen Verdienstmöglichkeiten für die Anwält:innen, etwa wegen der sogenannten Betragsrahmengebühren, also gedeckelter Gebühren und dem Verbot von Honorarvereinbarungen, wie etwa im Sozialgesetzbuch (SGB) II vorgegeben. "Die Einnahmen reichen für die Anwälte oft nicht mehr aus, um kostendeckend zu arbeiten", so die Präsidentin. Der Sozialrechtschutz durch Verbände und Gewerkschaften könne das nicht mehr ausgleichen.
Entsprechend gibt es auch weniger Anbieter für Fortbildungen zum Sozialrecht und damit auch weniger Fachanwälte. Das sei, in Hinblick auf die Komplexität des Rechtsgebiets, "ein besorgniserregender Trend". Ein sozialer Rechtsstaat brauche auch eine zahlenmäßig starke Anwaltschaft, um das Sozialrecht der Bürger:innen zu verteidigen.
“Es steht viel mehr Arbeit hinter dem, was sichtbar gemacht wird”
Die durchschnittliche Verfahrensdauer stieg gegenüber dem Vorjahr: Revisionen dauerten 15,1 Monate (Vorjahr: 14,4 Monate), die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren im Schnitt 5,9 Monate (Vorjahr: 5,6 Monate). Insgesamt sind dabei von allen Verfahrensarten 85,7 Prozent innerhalb eines Jahres, 58,6 Prozent der Verfahren innerhalb von sechs Monaten entschieden worden.
Für die gestiegene Bearbeitungsdauer führte Fuchsloch Einzelverfahren an, die viel Arbeitszeit und Ressourcen benötigen. Hinzu kamen im Vorjahr einige personelle Veränderungen in der Richterschaft, die zu notwenigen Vertretungen und zu Umorganisationen führten. Ein weiterer Grund sei eine gestiegene Anzahl an Fällen, die statistisch gar nicht erfasst werden, weil sie nicht in förmliche Verfahren münden geprüft werden diese Anfragen von Bürger:innen durch die BSG-Richter:innen dennoch. "Es steht viel mehr Arbeit hinter dem, was sichtbar gemacht wird", so Sabine Knickrehm, Vorsitzende Richterin des siebten Senats.
Die Anzahl der Erledigungen lag im Jahr 2024 bei 2.569 Akten (Vorjahr: 2.537 Fälle). Insgesamt ist der Bestand der unerledigten Verfahren über alle Verfahrensarten hinweg leicht angestiegen (959 Verfahren Anfang 2024, 970 Verfahren Ende 2024).
Gesetzgeber zugunsten einzelner Berufsgruppen
Inhaltlich wiesen die Richter:innen am BSG neben den wichtigen Entscheidungen im Jahr 2024 auf ein älteres Urteil hin, das jetzt den Gesetzgeber in Aktion versetzte: Die Herrenberg-Entscheidung aus dem Jahr 2022 (Urt. v. 28.06.2022, Az. B 12 R 3/20 R). In dem Fall ging es um eine Musiklehrerin an einer städtischen Schule und die Frage ihrer abhängigen oder selbstständigen Beschäftigung. Das BSG hatte in dem Fall wegen einer stärkeren Gewichtung des Kriteriums der Eingliederung in die Betriebsabläufe durch den Senat hier eine abhängige Beschäftigung und damit eine Versicherungs- und Beitragspflicht festgestellt. Das hat erhebliche Kostenfolgen für die Arbeitgeber wegen der Nachversicherungen.
Der Gesetzgeber reagierte mit dem "Sechsten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgten". Darin wird eine Übergangsregelung geschaffen, § 127 SGB IV, über die eine Beitragspflicht im Einvernehmen der Parteien bei einer schulischen Zusammenarbeit ausgesetzt werden kann. Der Vorsitzende des Zwölften* Senats und BSG-Vizepräsident, Andreas Heinz, sieht darin zwei Probleme: Zum einen sei Sozialrecht "zwingendes Recht", es steht also im Gegensatz zu vielen arbeitsrechtlichen Regelungen nicht zur Disposition der Parteien. Zum zweiten sei es eine Sonderregelung für Bildungseinrichtungen, also für eine einzelne Berufsgruppe.
"Dem Gesetzgeber hat diese Entscheidung nicht gefallen" und er habe sie "ausgehebelt", sagte Fuchsloch. Das sei legitim, aber man müsse schon die Frage stellen, ob es richtig sei, eine Insellösung zu einzelne Berufsgruppen zu schaffen. Wichtiger sei es, dass insbesondere kleine, schutzbedürftige Selbstständige in das gesetzliche System der Rentenversicherung einbezogen werden.
Krankenhausreform als nächstes großes Thema
Als nächstes großes Thema rechnet das BSG mit Verfahren im Zusammenhang mit der Krankenhausstrukturreform. Mit dem Gesetz soll in Abkehr von den geltenden Fallpauschalen eine neue Grundlage für die Krankenhausversorgung in Deutschland geschaffen werden. Das Problem sei aber, so die BSG-Präsidentin, dass der Gesundheitsfonds im Umfang von 25 Milliarden Euro in zehn Jahren (von 2026 bis 2035) zur Finanzierung des Bundesanteils der Reform eingesetzt werden solle. Das Geld werde aber zur Finanzierung eines Reformstaus eingesetzt, der eigentlich von den Ländern hätte finanziert werden müssen. Ein großer Sozialverband habe bereits Klagen angekündigt.
Auch aus der Demografie in Deutschland dürften sich weitere Themen für das BSG ergeben: Bald seien über zehn Millionen Menschen über 80 Jahre alt: "Damit haben wir die Themen Pflege- und Altersversicherung", so Fuchsloch. Schon jetzt sei der Beitrag zur Pflegeversicherung stark gestiegen, und werde weiter steigen müssen.
Dem BSG bleibe, als Sozialgerichtsbarkeit durch "kluge und überlegte Rechtsprechung einen Beitrag zu einem stabilen Sozialstaat leisten und hoffen damit auch, das Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat zu sichern."
*natürlich des Zwölften - Fehler korrigiert, 12.02.24, red tap 9.07h
BSG-Jahresbericht für 2024: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56572 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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