So schadet der Verfassungsgerichtshof der Demokratie: Ber­liner Wurs­tig­keit auf allen Seiten

Kommentar von Annelie Kaufmann

30.09.2022

Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat es sich zu leicht gemacht, wenn er allein aus dem Eindruck der Wahlprotokolle die gesamte Wahl für ungültig erklären will – und vor allem die Verhandlung nicht ernst genommen, meint Annelie Kaufmann.

Dass es sich natürlich nur um eine "vorläufige Rechtsauffassung" handelt, sagt Ludgera Selting, Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs, zu Beginn ihrer Ausführungen und vorsichtshalber auch nochmal zum Schluss. Was sie zwischen diesen Hinweisen vorträgt, hört sich allerdings kein bisschen vorläufig an: Die Wahl sei schon völlig unzureichend vorbereitet gewesen, die langen Wartezeiten vor den Wahllokalen am 26. September 2021 unzumutbar, viele Wahllokale seien völlig überlastet gewesen, teilweise fehlten Stimmzettel, wurden falsche Stimmzettel ausgegeben oder Kopien von Stimmzetteln verteilt.

Dazu der Satz, den alle anwesenden Journalisten mitschreiben: Es handele sich bei den dem Gericht bekannten Wahlfehlern wohl nur um "die Spitze des Eisbergs". Die Integrität des Wahlergebnisses sei durch die Vielzahl der Wahlfehler erheblich beschädigt, es könne wohl nur durch die vollständige Ungültigerklärung und die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen das Vertrauen in die Demokratie wiederhergestellt werden.

Gut eineinhalb Stunden haben die Berichterstatterin Schönrock und die Präsidentin vorgetragen, dann verkündet Letztere eine halbe Stunde Verhandlungspause - und lässt ihre Pressesprecherin die vorbereitete Presseerklärung rausschicken, in der alle diese Sätze nachzulesen sind. Die Beteiligten - das sind neben der Landeswahlleitung, die Senatsverwaltung für Inneres, Die Partei und die AfD, auch der Präsident des Abgeordnetenhauses, die Vorstehenden der Bezirksverordnetenversammlungen, die Bezirkswahlleitenden, Bewerber, Abgeordnete und Bezirksverordnete – hatten da noch kein Wort gesagt.

Das war keine Verhandlung, das war ein Aufrufen der Beteiligten

Als Ulrike Rockmann, die derzeit noch amtierende Landeswahlleiterin und Professorin für Statistik, den Verfassungsrichterinnen und –richtern zwei umfangreiche Tabellen übergibt, mit denen sie erklären will, dass sie "den Eisberg sehr wohl kennt" und die Wahlfehler und ihre Relevanz für die Mandatsverteilung aufschlüsseln könne, sind die Schlagzeilen zu einer etwaigen Wahlwiederholung schon überall zu lesen. Als Ulrich Karpenstein und Roya Sangi, die offensichtlich bestens vorbereiteten Verfahrensbevollmächtigten der Senatsverwaltung, damit beginnen, die Argumentation des Verfassungsgerichtshofs Baustein für Baustein auseinanderzunehmen, sind viele Zuhörer schon gegangen.

Dass die beiden anderen Einsprechenden – Die Partei und die AfD – der Landeswahlleiterin und dem Senat vorwerfen, das Wahlchaos kleinreden zu wollen, dass ausgewiesene Parlamentsrechtsexperten wie Wolfgang Zeh (für das Abgeordnetenhaus) und Sebastian Roßner (für Die Partei) auf verschiedenen Seiten argumentierten, dass sich Wahlbewerber zu Wort melden, um von unzumutbaren Zuständen zu berichten, dass Bezirkswahlleiter erklären, warum es in ihrem Wahlbezirk sehr geordnet ablief – das alles zeigt, was für eine interessanter und demokratiefördernder Verhandlungstag sich im großen Hörsaal der FU Berlin hätte abspielen können.

Allein: Es wurde nicht verhandelt. Die Präsidentin beschränkte sich darauf, die Beteiligten aufzurufen, die sich auf ihren Hörsaalplätzen meldeten wie eifrige Studenten. Die vier Verfassungsrichterinnen und fünf Verfassungsrichter hielten sich brav an die offensichtliche Absprache, keine einzige Nachfrage zu stellen. Während die Anwälte auf ihren Klappstühlen hin-und herrutschten, sich jede Bemerkung verkniffen, wie sie es wohl fanden, in die Zuhörerreihen verwiesen worden zu sein und auf die Frage, ob es dieser oder jener Punkt sei, den das hohe Gericht erörtert wissen wolle, allenfalls ein gnädiges Nicken erhielten.

Eine Wahl ist kein Bebauungsplan, den man mal eben verwerfen kann

Die Niederschriften von 2.256 Wahllokalen hat der Verfassungsgerichtshof studiert – das klingt beeindruckend. Tatsächlich aber hat er es sich damit zu einfach gemacht. Die Wahlprotokolle sind unvollständig und unzuverlässig. Daraus zu schließen, dass alles noch viel schlimmer war, ist aber keine Aufklärung des Wahldesasters. Der Hinweis, es sei eine "Dunkelziffer" von Wählern verloren gegangen, mag richtig sein, kann aber nicht über die verfassungsrechtlich hochkomplexen Fragen zur Mandatsrelevanz hinweghelfen.

Der Verfassungsgerichtshof hätte Sachverständige anhören können und Zeugen befragen – und wenn er dann darlegen kann, dass die Wahlfehler weit zahlreicher und schwerwiegender sind als es Senat und Landeswahlleitung gerne hätten, dann sprechen gute Gründe dafür, dass er die Wahl in weiten Teilen oder sogar vollständig für ungültig erklärt und damit über die Einsprüche aller Einsprechenden hinausgeht. Aber mit dem Stichwort "Anstoßfunktion" mal eben die gesamte Wahl für ungültig zu erklären, als ob man einen Bebauungsplan zu verwerfen hätte? Das kann man am Oberverwaltungsgericht machen, aber nicht an einem Verfassungsgericht.

Der Eindruck, den die Hauptstadt am Wahltag hinterlassen hat, war desaströs. Aber der Verfassungsgerichtshof hat diese unfassbare Berliner Wurstigkeit fortgesetzt. Das Wahlrecht ist nicht umsonst eine hochtechnische Disziplin. Fehlerfreie Wahlen wird es nie geben, deshalb darf nicht jeder Fehler zur Ungültigkeit einer Wahl führen. Aber zu viele und zu schwerwiegende Fehler erschüttern das Vertrauen in die Wahl, sie müssen aufgeklärt werden und sie müssen auch Konsequenzen haben. Was der Verfassungsgerichtshof entscheidet, wird weitreichende Auswirkungen haben, nicht nur für diese Berliner Wahl, sondern als Signal für den Zustand unseres demokratischen Systems.

Die Richter hätten sich ruhig mal in die Karten gucken lassen können

Auf der Richterbank im Hörsaal saßen honorige und kluge und gewiss demokratische Juristinnen und Juristen – aber jeder weiß auch, dass die normalerweise damit rechnen dürfen, nur alle paar Jahre mal ein landesverfassungsrechtliches Verfahren zu führen. So ein Verfassungsgerichtshof hat nicht den Nimbus des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man hier neue Pflöcke einschlagen will, wenn man erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik neue Maßstäbe anwenden will, weil das Vertrauen in die gesamte Wahl erschüttert ist, dann braucht man eine hieb- und stichfeste Begründung. Und dann muss man sich den Hieben und Stichen, die da kommen, auch in einer Verhandlung aussetzen, die ihren Namen verdient.

In dieser Verhandlung hätten alle die gewichtigen verfassungsrechtlichen Probleme, die das mit sich bringt, zur Sprache kommen müssen. Da hätte jeder Eindruck widerlegt werden können, dass man sich von politischen Motiven leiten lässt. Da hätten sich die Richterinnen und Richter ruhig mal in die Karten gucken lassen können und zeigen, dass neun Köpfe unterschiedliche Probleme sehen und diskutieren. Stattdessen hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin wie ein gestrenger Vater aus Struwwelpeter-Zeiten seine Kinder gemaßregelt: So geht das aber nicht.

So geht es aber auch nicht.

Zitiervorschlag

So schadet der Verfassungsgerichtshof der Demokratie: Berliner Wurstigkeit auf allen Seiten . In: Legal Tribune Online, 30.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49782/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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