Wenn Gerichtsentscheidungen überhaupt veröffentlicht werden, dann in anonymisierter Form – das öffentliche Interesse an Informationen auch zu beteiligten Personen fällt dabei selten ins Gewicht. Ist die Angst vor Fehlern zu groß?
Post von der Hamburgischen Datenschutzbeauftragten an OpenJur: In einer Entscheidung des Amtsgericht München, die OpenJur in seiner Rechtsprechungsdatenbank frei zugänglich veröffentlicht hat, findet sich der Name und die Adresse der Mieterin. Es ist ein unguter Fall, eine Räumungsklage. Im Tatbestand ist ausführlich von den persönlichen Verhältnissen der Frau die Rede, es geht um einen etwaigen Sozialförderungsbetrug und darum, dass die Tochter volltrunken Kot im Treppenhaus hinterlassen habe. Die Vermieterin, eine Genossenschaft, durfte der Mieterin kündigen und kann nun verlangen, dass sie die Wohnung räumt. Das Ergebnis mag für die Öffentlichkeit interessant sein – der Name der Frau ist es sicher nicht.
Sie schaltete den Hamburger Datenschutzbeauftragten ein, weil das Urteil als Google-Suchergebnis bei der Suche nach ihrem Namen angezeigt wurde. Die Behörde meldete sich bei OpenJur und Geschäftsführer Benjamin Bremert reagierte sofort: Innerhalb von Minuten wurde die Entscheidung anonymisiert. Dennoch droht nun eine förmliche Verwarnung. Der Fall sei gravierend, argumeniert der Leiter der Behörde Thomas Fuchs. Zusammen mit dem Vor- und Zunamen und der Adresse seien zahlreiche sensible Daten zum Mietverhältnis, zum verstorbenen Ehemann der Frau, zu persönlichen Lebensumständen und zu gesundheitlichen Einschränkungen veröffentlicht worden.
Kommt es zu so einer Verwarnung, muss OpenJur beim nächsten Verstoß mit einem Bußgeld rechnen – deshalb will Bremert gegen die Verwarnung vorgehen. Er sieht sein Geschäftsmodell in Gefahr: OpenJur hat die Entscheidung vom Landesjustizportal BayernRecht übernommen, das auch erst auf Hinweis vollständig anonymisierte. Der Fehler lag also beim Gericht, das hier schlicht den Namen übersehen hatte. "Wir reagieren schnell, aber wir können nicht proaktiv alle Entscheidungen, die von den Gerichten so veröffentlicht wurden, auf einen Fehler bei der Anonymisierung überprüfen", sagt Bremert. "Wenn wir dazu verpflichtet wären, müssten wir OpenJur einstellen. "Fuchs sieht das anders: "Zumindest wenn es um eklatante und offensichtliche Fehler geht, muss eine Online-Plattform wie OpenJur selbst vorab prüfen können, ob die Veröffentlichung datenschutzrechtlichen Vorgaben genügt."
Wie der Fall ausgeht, bleibt abzuwarten – inwiefern die Rechtsprechungsdatenbanken zur Überprüfung verpflichtet sind, ist bisher nicht geklärt. Tatsächlich kommen solche Fälle auch selten vor. In aller Regel reicht es aus, wenn die Plattformen schnell reagieren und eine Anonymisierung nachträglich vornehmen.
Nur ein Prozent der Entscheidungen wird überhaupt veröffentlicht
In der deutschen Justiz ist es ohnehin die Ausnahme, dass eine Entscheidung – zumal die eines Instanzgerichts – überhaupt veröffentlicht wird. Laut einer Studie sind es maximal ein Prozent der Gerichtsentscheidungen eines Jahres. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass die Gerichte solche Fehler fürchten und den Aufwand der Anonymisierung scheuen.
Denn grundsätzlich müssten alle Entscheidungen veröffentlicht werden, an denen ein öffentliches Interesse besteht – das ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Demokratieprinzip. "Veröffentlichungswürdigen Entscheidungen müssen veröffentlicht werden. Das ist eine verfassungsrechtliche Pflicht," erklärt Dr. Anna Bernzen, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Informations- und Datenrecht an der Universität Bonn insbesondere zu Fragen der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren forscht.
Begrenzt wird diese Pflicht durch kollidierendes Verfassungsrecht, insbesondere durch Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten. Es kommt also immer auf eine Abwägung im Einzelfall an: Überwiegt das öffentliche Interesse an bestimmten Informationen oder überwiegen Persönlichkeitsrechte einzelner Personen?
Gesetzliche Regelungen gibt es nur in Ausnahmefällen, etwa bei Musterfeststellungsklagen oder im Markenrecht, im Übrigen ist Frage der Veröffentlichungspflicht vor allem durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt.
Die Gerichte sind vorsichtig
Einheitliche Vorgaben gibt es dafür nicht – stattdessen wird die Anonymisierung von Bundesland zu Bundesland und teils an jedem Gericht unterschiedlich gehandhabt. Ob und in welcher Form eine Entscheidung veröffentlicht wird, entscheiden die Richterinnen und Richter selbst.
Und die gehen eher vorsichtig vor, das zeigt eine LTO-Umfrage bei Gerichten und Justizministerien. Urteile, in denen der vollständige Name von Beteiligten erwähnt wird, kommen praktisch nicht vor. Auch zahlreiche andere Angaben werden überprüft und in der Regel anonymisiert. In Niedersachsen gehören dazu etwa Namen von juristischen Personen, Prozessbevollmächtigten, Ortsbezeichnungen, Geburtsdaten, Aktenzeichen von Verwaltungsbehörden, Orts- und Straßennamen und Namen von Gewerkschaften oder gemeinnützigen Vereinen.
Teilweise übernehmen Richterinnen und Richter die Anonymisierung selbst, oft setzt das die Gerichtsverwaltung standardmäßig oder mit Hilfe von Hinweisen des Senats um. An einigen Gerichten erledigen Bibliotheksmitarbeiter oder Pressesprecher die Aufgabe. An den hessischen Gerichten gibt es Dokumentationsstellen, die die Anonymisierung zentral erledigen.
Für die Frage, was anonymisiert werde, komme es aber stets auf die schützenswerten Persönlichkeitsrechte im Einzelfall an, betont die Pressesprecherin des Oberlandesgericht Frankfurt am Main: "In der Regel werden aber zumindest alle Klarnamen von Verfahrensbeteiligten anonymisiert und Ortsangaben, soweit sie einen Rückschluss auf die Verfahrensbeteiligten zulassen."
Namen können interessant sein
Dabei kann es durchaus von Interesse sein, um wen es geht. "Wenn es etwa um Unternehmer, Politiker, Schauspielerinnen oder Sportlerinnen geht und die Entscheidung einen Bezug zu ihrer beruflichen Tätigkeit hat, dürfte das öffentliche Informationsinteresse regelmäßig überwiegen", so Bernzen.
Das sehen allerdings Medien und Gerichte unter Umständen sehr unterschiedlich. Als etwa der Bundesgerichtshof (BGH) kürzlich einen Beschluss zur sogenannten Maskenaffäre erließ, nannten zahlreiche Medienberichte den früheren CSU-Bundestagsabgeordnete Georg Nüßlein und den ehemaligen bayerische Ex-Justizminister Alfred Sauter beim Namen – es war längst öffentlich bekannt, um wen es ging, der Fall hatte hohe Wellen geschlagen. Der BGH sprach in der Presseerklärung dagegen von den Abgeordneten N. und S.
"Abgeordnete können relativ wenig Schutz in Anspruch nehmen, wenn es um ihre Tätigkeit als Abgeordnete geht", so Bernzen. "Bei Amtsträgern überwiegen die persönlichen Rechte und Interessen nur ausnahmsweise, etwa wenn durch die Veröffentlichung eine konkrete Bedrohung zu befürchten ist."
Die Gerichte tendieren dazu Namen in praktisch jedem Fall wegzulassen. Selbst der Europäische Gerichtshof, der lange seien Entscheidungen nach den Verfahrensbeteiligten benannte, erwähnt seit dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung standardmäßig keine Namen mehr.
Wenn aus dem Polizeipräsidium Düsseldorf das Polizeipräsidium E. wird
Auf dem Justizportal des Landes Nordrhein-Westfalen ist sogar ein Fall zu finden, in dem vom "Polizeipräsidium E." in der "Stadt E". die Rede ist – obwohl es tatsächlich um die Anmeldung einer Demonstration in Düsseldorf ging. Im Einzelfall kann es zwar notwendig sein, auch Städtenamen und Behörden zu verschlüsseln, wenn ansonsten Rückschlüsse auf eine zu schützende Person gezogen werden können. Ob das der Fall ist, wenn es um die Anmeldung einer Demonstration ging, dürfte aber fraglich sein.
Generell sollten Behörden und Städtenamen aber nicht anonymisiert werden, erklärt das Justizministerium. Die entsprechende Verwaltungsvorschrift des Landes, an der sich die Gerichte orientieren müssen, liegt LTO vor – allerdings mit zahlreichen Auslassungen. Der Grund: Falls bekannt würde, wie die Anonymisierung zu erfolgen hat, könnten anonymisierte Passagen entschlüsselt werden, erläutert ein Sprecher des Justizministeriums.
Ob das Land zumindest genauer darüber Auskunft geben muss, ist auch noch Gegenstand eines Verfahrens: OpenJur hat das Land NRW aufgefordert, die Verwaltungsvorschrift nach dem Informationsfreiheitsgesetz herauszugeben. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat dem nur teilweise stattgegeben: Das Justizministerium müsse über das "was" der Anonymisierung informieren, aber nicht über das "wie" (VG Düsseldorf, Urt. v. 23.11.2020 - 29 K 13336/17). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat allerdings die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen.
Korrektur am 29.7.2022 um 9:43, ergänzt wurde der vollständige Namen des Hamburger Datenschutzbeauftragten Thomas Fuchs.
Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49173 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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