"Bitte dringend aus der Vote entfernen": Ein Hamburger Strafrichter soll ein Urteil gegen einen Umweltaktivisten vorgeschrieben haben. Der Angeklagte wittert Befangenheit, dringt damit aber bei Gericht nicht durch. Was ist dran an der Aufregung?
Wer sich auf der Anklagebank wiederfindet, sollte neben seinem Verteidiger wenigstens eine große Stütze im Strafverfahren haben – den gesetzlichen Richter, den aus diesem Grund Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) garantiert. Er hat unvoreingenommen und vorurteilsfrei über die Schuld des Angeklagten zu befinden. Ohne ihn gibt es keinen rechtsstaatlichen Prozess. Aber ab wann erfüllt ein Richter diesen Anspruch nicht mehr? Anders gefragt: Wann wird aus Vorbereitung Vorverurteilung?
Ein Fall aus Hamburg hat kürzlich eben diese Frage aufgeworfen. Dort musste sich ein Umweltaktivist vor dem Amtsgericht (AG) Hamburg-Harburg wegen des Vorwurfs der Nötigung und Störung öffentlicher Betriebe nach § 316 b Strafgesetzbuch (StGB) verantworten. Der Mann ist erklärter Atomkraftgegner und hatte sich im Jahr 2014 zusammen mit einem weiteren Aktivisten an ein Bahngleis gekettet, um einen Urantransport zu blockieren.
Nachdem sein damaliger Mitstreiter bereits wegen derselben Straftaten verurteilt worden war, stand nun die Verhandlung gegen den Aktivisten an. Er beantragte Akteneinsicht und bekam zu diesem Zweck die Prozessakte ausgehändigt. Ab hier wurde es kurios: In einer Seitentasche der Akte fand sich ein Stapel Papiere, zuoberst ein weißes Blatt mit handschriftlichem Vermerk: "Bitte vor der Akteneinsicht alle Unterlagen dringend aus der Vote entfernen. Danke" Gefolgt von einem lächelnden Smiley.
Angeklagter Aktivist: "Ehrliches Interesse an Sachaufklärung nicht vorhanden"
Bei der Tasche handelt es sich nach Auskunft des Hamburger Justizpressesprechers Dr. Kai Wantzen um einen Umschlag unter dem Aktendeckel , der zur Aufbewahrung von Unterlagen dient, die nicht der uneingeschränkten Akteneinsicht unterliegen, wie z.B. medizinische Gutachten, Auszüge aus dem Bundeszentralregister oder eben Notizen des Richters. Dieser Umschlag wird vor Aushändigung der Akte gewöhnlich entfernt, was man hier offenbar trotz des Vermerks vergessen hatte.
Was dort offenbar hätte entfernt werden sollen, waren Notizen u. a. zur Identität des Angeklagten, dem Verfahrensablauf und Beweismitteln, die offenbar von dem mit der Sache befassten Richter gefertigt worden waren. In den Unterlagen, die der Aktivist auf einer Webseite veröffentlicht hat, finden sich zudem ein handschriftlich beschriebener Zettel mit Details zum vermeintlichen Tathergang und ein formularartiges Blatt mit einem computerschriftlichen Unterpunkt "Urteilsverkündung". Daneben steht, maschinell vorausgefüllt "Nötigung in Tateinheit mit Störung öffentlicher Betriebe" und handschriftlich "316 b FS bis 5 J. oder Geldstra", was offenbar die relevante Vorschrift aus dem StGB und den dort vorgeschriebenen Strafrahmen meint.
Auf Seiten des Angeklagten und seiner Verteidigerin verstärkte das die Besorgnis, dass der Richter sich sein Urteil bereits gebildet haben könne. Sie stellten einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit. In dem Schriftstück, das LTO einsehen konnte, schildert der Aktivist seinen Eindruck. Es ist die Rede von "politischen Prozessen", in denen "ein ehrliches Interesse an einer Sachaufklärung überhaupt nicht vorhanden" sei. "Die Strafe mag zwar etwas höher oder milder ausfallen, steht jedoch dem Grunde nach bereits von Anfang an fest."
Peinliche Panne, aber auch rechtlich bedenklich?
Diesen Eindruck verfestigen nach Auffassung des Aktivisten auch die Unterlagen, die sich zufällig in der Akte fanden. Die darin enthaltene Notiz zu Tatbestand und Strafrahmen sei eine "Vorformulierung" des Urteils, heißt es im Befangenheitsantrag, die eine "gravierende Verletzung grundlegendster prozessualer Rechte" bedeute. Auch der Vorwurf der Rechtsbeugung wird in dem Schreiben jedenfalls angerissen.
In einigen Online-Medien sowie auf Twitter fand die Angelegenheit ein großes Echo, es entspann sich eine Diskussion über richterliche Vorbereitungspraktiken und deren Legitimität. "Peinliche Gerichtspanne" hieß es in einem Artikel der Jungen Welt und "Atomkraftgegner findet vorgefertigtes Urteil in Prozessakte". Ersteres dürfte unbestritten sein, aber handelt es sich wirklich um ein "vorgefertigtes Urteil"?
Das Hamburger Amtsgericht, namentlich der mit dem Ablehnungsgesuch befasste Richter, hat dazu jedenfalls eine klare Meinung: Er lehnte das Gesuch ab. Es gebe keinen Grund, an der Unvoreingenommenheit des zuständigen Richters zu zweifeln. Es sei "dem Tatrichter unbenommen, sich schon vor der Hauptverhandlung durch die Fertigung eines Urteilsentwurfs entsprechend dem jeweiligen Ermittlungs- und Verfahrensstands auf die Hauptverhandlung vorzubereiten". Auch der Vermerk, nach dem die Unterlagen aus der Akte entfernt werden sollten, sei nichts Ungewöhnliches, fand der hanseatische Richterkollege. Notizen, die sich ein Richter zur Vorbereitung auf die Verhandlung mache, seien nicht Bestandteil der Akteneinsicht.
Vorbereitung bedeutet nicht Befangenheit
Ähnlich beurteilt das in seiner Mail an LTO auch Justizsprecher Wantzen. Es sei "offensichtlich, dass es sich um Notizen zur Vorbereitung der Hauptverhandlung und nicht um einen Urteilsentwurf handelt". Die Unterlagen seien erkennbar als "eine Art Ablaufplan" verwendet worden, der die wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung sowie die wichtigsten Beweismittel mit Fundstellen enthalte und zudem Raum für eigene Notizen biete. Dass darin auch Angaben zum Anklagevorwurf und zum Strafrahmen sowie zu den korrekten Bezeichnungen der Tatbestände enthalten waren, sei nur naheliegend. Auch der BGH habe entscheiden, so Wantzen, dass die Fertigung eines Urteilsentwurfs zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung keine Besorgnis der Befangenheit begründe (Anm. der Red.: BGH, Beschl. v. 10.11.2004, Az. 1 StR 414/04). Doch darum sei es hier ja nicht einmal gegangen. So könne es dann erst recht nicht der Fall sein, "wenn sich ein Richter Notizen der beschriebenen Art macht".
Zudem verweist der Sprecher auf eine Stellungnahme des Richters, gegen den sich der Ablehnungsantrag richtete. Dieser gab an, seine Vorgängerin habe die Notizen angefertigt, er selbst habe davon gar keine Kenntnis gehabt und sie auch nicht gesichtet. Das stellt zwar auch der Angeklagte nicht in Abrede stellen, beharrte aber in seinem Antrag darauf, dass schon die bloße Möglichkeit, dass die vermeintliche Rechtsverletzung "durch, im Wissen, oder mit Billigung" des nun verhandlungsführenden Richters geschehen sei, zur Besorgnis der Befangenheit ausreiche.
Dass die Notizen, ob nun von der Vorgängerin oder dem Richter selbst verfasst, kein vorgefertigtes Urteil sind, liegt auch für Strafrechtsprofessor Matthias Jahn aus Frankfurt am Main nahe. Allein aufgrund einer gewissenhaften Sitzungsvorbereitung müsse ein Angeklagter nicht zwingend den Eindruck haben, dass sich der Richter bereits eine unumstößliche Meinung zum Fall gebildet habe, erklärte der Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. auf LTO-Anfrage. "So lange noch erkennbar ist, dass der Richter für die Eindrücke aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung noch offen und aufnahmebereit ist, wird nicht von Befangenheit auszugehen sein. Etwas anderes kann sich aus den konkreten Unterlagen regelmäßig nur dann ergeben, wenn zentrale Elemente der Beweiswürdigung schon abschließend fixiert sind." Das komme, so Jahn, bei Formulierungen wie "das ist ja sicher gelogen" oder "das glaubt doch kein Mensch" in Betracht. Selbst das teilweise Abfassen eines Urteils könne "befangenheitsrechtlich neutral sein", solange der Richter bereit bleibe, noch einmal "alles umzuwerfen".
Aufregung um "vorgeschriebenes" Urteil in Hamburg: . In: Legal Tribune Online, 06.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31897 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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