Das BVerfG wartet auf den kommenden Präsidenten. Doch die Politik vernachlässigt ihre Wahl-Aufgabe. Grund zur Unruhe ist das freilich nicht, meint Christian Rath.
Ferdinand Kirchhof ist immer noch Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), obwohl seine Amtszeit schon am 30. Juni dieses Jahres abgelaufen ist. Der Grund für die bereits dreimonatige Nachspielzeit ist banal. Die Politik hat noch keinen Nachfolger gewählt.
Dabei ist die Personalie von besonderem Gewicht. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Kirchhofs Nachfolger nicht nur Vorsitzender des Ersten Senats und damit Vizepräsident des Gerichts wird. Er (oder sie) dürfte schon im Mai 2020 Präsident des BVerfG werden, weil dann die zwölfjährige Amtszeit des jetzigen Präsidenten Andreas Voßkuhle endet.
Wenn die CDU/CSU, die das Vorschlagsrecht für diese Position innehat, einen ausreichend jungen Kandidaten benennt, kann dieser die Präsidentenrolle rund zehn Jahre ausfüllen. Zwar wirkt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts in seinem Senat als primus inter pares und hat auch nur eine Stimme. Nach außen ist er aber das Gesicht des Verfassungsgerichts.
Ist es, wie nun oft zu hören ist, ein Zeichen mangelnden Respekts, wenn die Politik das Verfassungsgericht bei einer so wichtigen Personalentscheidung hängen lässt? Ist es gar Ignoranz oder eine Machtdemonstration?
Verwundert verweisen manche auch auf die USA, wo wochenlang erbittert über die Besetzung eines Supreme Court-Posten gestritten wurde, während bei uns kaum jemand von der verschleppten Richterwahl Notiz nimmt, obwohl die Position formal höherrangig ist. Kann es sein, dass inzwischen sogar den Medien und der Bevölkerung egal ist, wie das Bundesverfassungsgericht behandelt wird?
Viel besser als in den USA
Der Vergleich mit den USA ist zwar schief, aber deshalb auch instruktiv. Dort werden Supreme Court-Richter mit einfacher Mehrheit im Senat gewählt und bleiben unbefristet im Amt. Und weil zuletzt im Gerichtshof häufig nach Parteipräferenz abgestimmt wurde, ging es bei der jetzt erfolgten Wahl des Kandidaten Brett Kavanaugh tatsächlich um die politische Erorberung des Supreme Courts für die Republikaner.
Der Unterschied zu Deutschland ist doppelt deutlich: Zum einen werden bei uns die Verfassungsrichter (in Bundestag oder Bundesrat) mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt. Das heißt: die großen Blöcke bekämpfen sich dabei nicht, sondern verständigen sich im Vorfeld der (unregelmäßig
stattfindenden) Verfassungsrichterwahlen auf die Kandidaten, oft als Paket.
Und weil so eher gemäßigte und vor allem unabhängige Kandidaten gewählt werden, ist es auch kein Wunder, dass es dem Gericht gelingt, seine Urteile oft einstimmig oder mit großer Mehrheit zu treffen. Die Richter wollen Probleme lösen, nicht einen Vorteil für "ihre" Partei herausschlagen. Insofern ist es nur konsequent, dass die Verfassungsrichterwahl in Deutschland nicht zum politischen Medienspektakel wird.
Das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit macht die Wahl aber gleichzeitig auch komplizierter. In den Auswahlprozess waren schon immer mindestens drei Parteien einbezogen (wenn man CDU und CSU korrekterweise als getrennte Parteien versteht, wozu es in diesem Sommer genug Anlass gab). Mit der zunehmenden Schwäche der Volksparteien wird das Auswahlverfahren aber noch komplexer, wie die Kirchhof-Nachfolge eindrücklich zeigt.
Im Bundestag, wo der neue Richter gewählt wird, erreichen CDU/CSU und SPD zusammen keine Zwei-Drittel mehr. Selbst wenn man die Grünen dazu nimmt, wird die Zwei-Drittel-Marke knapp verfehlt. Erforderlich ist für die Wahl also die Absprache mit der etwas größeren FDP-Fraktion.
Doch auch die Grünen müssen gefragt werden. Schließlich wird der Vizepräsident des Gerichts diesmal vom Bundesrat bestimmt und dort haben die Grünen faktisch ein Vetorecht, weil sie derzeit an neun Landesregierungen beteiligt sind. Es müssen sich also erst einmal neue Aushandlungsprozesse etablieren. Mit Respektlosigkeit gegenüber dem Verfassungsgericht hat das alles nichts zu tun.
Handwerkliche Mängel
Hinzu kommen handwerkliche Mängel und Probleme. Die FDP beschwerte sich jüngst, dass auf Unionsseite noch niemand Kontakt aufgenommen habe, obwohl man doch auf die Stimmen der Liberalen angewiesen ist. Zudem wurde der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker Kauder, der sich immer für die Verfassungsrichterwahlen interessierte, im September überraschend abgewählt. Anders als Kauder ist sein Nachfolger Ralph Brinkhaus Ökonom und kein Jurist. Und weil die Kirchhof-Nachfolge als so wichtig angesehen wird, kümmern sich die ganz großen Namen der Bundespolitik darum, unter anderem Kanzlerin Merkel und SPD-Parteichefin Nahles. Beide haben aber bekanntlich noch zwei, drei andere Probleme.
Die Verzögerung sagt also vor allem etwas über die begrenzte Leistungsfähigkeit dieser Koalition aus, nicht über ihre Haltung zum Verfassungsgericht.
Aber man kann es den Berliner Protagonisten auch nicht verdenken, dass sie mit Blick auf ihre begrenzten Problemlösungsfähigkeiten die Nachfolge Kirchhof nicht ganz nach vorne rücken. Denn das BVerfG leidet abgesehen von der imaginierten Respektlosigkeit wirklich nicht sehr unter der Verzögerung. Schließlich ist Ferdinand Kirchhof gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte. Er ist ein geachteter und beliebter Senatsvorsitzender. Niemand wird sagen, dass seine fortdauernde Tätigkeit das Verfassungsgericht schwächt. Im Gegenteil versucht der Erste Senat nun - mit Kirchhof - noch Verfahren abzuschließen, die eigentlich auf die Zeit nach dem Richterwechsel verschoben waren, zum Beispiel die Prüfung der Landesgesetze zum Kfz-Kennzeichen-Abgleich.
Mag sein, dass die Lebensplanung von Ferdinand Kirchhof etwas durcheinander geraten ist. Aber dafür darf er noch einige Monate das Grundgesetz interpretieren und gesellschaftliche Konflikte lösen. Es gibt wirklich Schlimmeres.
Amtszeit am BVerfG abgelaufen: . In: Legal Tribune Online, 22.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31625 (abgerufen am: 10.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag