EuGH stärkt anwaltliche Verschwiegenheitspflicht: Offen­ba­rungspf­lichten können EU-Grund­rechte ver­letzen

von Martin W. Huff

09.12.2022

Das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant genießt nicht nur in der deutschen Rechtsordnung, sondern auch in der europäischen Grundrechtscharta ganz besonderen Schutz. Das hat jetzt der EuGH bekräftigt. Einzelheiten von Martin W. Huff.

Nur in absoluten Ausnahmefällen und nach einer sorgfältigen Güterabwägung darf der Staat in die Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und Mandanten eingreifen. Das Ansinnen des europäischen Gesetzgebers, bei bestimmten Steuergestaltungen Anwälte zu Informationen an andere Beteiligten zu zwingen, verstößt nach einem neuen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg gegen die EU-Grundrechtscharta (Urt. v. 08.12.2022, RS C-694/20).

Immer öfter versuchen Staaten der Europäischen Union, Rechtsanwälte und Steuerberater dazu zu zwingen, bestimmte Informationen, die sie im Zusammenhang mit einem Mandat erlangen, dem Staat mitzuteilen. In der Regel geht es ihnen dabei um die Unterbindung steuerlicher Missbräuche. Gegen derartige wehren sich indes die Vertreter der freien Berufe immer wieder. Und erhalten jetzt deutliche Schützenhilfe vom EuGH.

Zum Hintergrund: Die EU-Richtlinie (RL) 2011/16/EU sieht nach einer Änderung im Jahr 2018 vor, dass alle Beteiligten ("Intermediäre", wie es die Richtlinie formuliert) die an potentiell "aggressiven, grenzüberschreitenden Steuerplanungen" beteiligt sind, diese den zuständigen Steuerbehörden melden müssen. Diese Verpflichtung betrifft alle, die an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung dieser Gestaltungen beteiligt sind. Außerdem sind auch diejenigen erfasst, die Unterstützung oder Beratung leisten, oder der Steuerpflichtige selbst.

Belgischer Verfassungsgerichtshof legte vor

Allerdings kann, so sieht es die Richtlinie vor, jeder Mitgliedstaat Rechtsanwälte von dieser Pflicht befreien, wenn sie gegen eine nach nationalem Recht vorgesehene Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen sind die Rechtsanwälte jedoch verpflichtet, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gegenüber den zuständigen Behörden zu unterrichten.

Letzteres sieht in Belgien ein Dekret zur Umsetzung der Richtlinie in der Flämischen Region vor. Zwei Anwaltsverbände rügten nunmehr beim belgischen Verfassungsgerichtshof, dass es unmöglich sei, der Verpflichtung zur Unterrichtung nachzukommen, ohne das anwaltliche Berufsgeheimnis zu verletzen. Der belgische Verfassungsgerichtshof rief dazu den EuGH im sogenannten Vorabentscheidungsverfahren an und fragte ihn, wie die EU-Richtlinie im Sinne der europäischen Grundrechte zu verstehen sei.

EuGH: Unterrichtungspflicht verletzt Berufsgeheimnis

In seinem Urteil vom Donnerstag stellt der EuGH klar, dass schon die reine Unterrichtungspflicht das Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, das durch Art.7 der EU-Grundrechtecharta besonders geschützt ist, verletzt.   

Das Berufsgeheimnis, so die Luxemburger Richter, umfasse auch die Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch hinsichtlich ihrer Existenz. Abgesehen von Ausnahmefällen müssten Mandanten daher darauf vertrauen dürfen, dass ihr Rechtsanwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie sich von ihm beraten lassen.  

Die Unterrichtungspflicht im belgischen Recht greife ungerechtfertigt in dieses Recht ein, so der EuGH. Denn sie habe zur Folge, dass die anderen Beteiligten von der Identität des Rechtsanwaltes Kenntnis erlangten. Schon dies sei eine Verletzung der besonders geschützten Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant.  

Sie erführen auch von seiner Analyse, wonach die in Rede stehende Steuergestaltung meldepflichtig sei, und von der Tatsache, dass er zu diesem Thema konsultiert werde. Da die anderen Intermediäre verpflichtet seien, die zuständigen Steuerbehörden über die Identität und die Mandatierung des Rechtsanwalts zu informieren, bewirke diese Verpflichtung mittelbar auch einen zweiten Eingriff in das Recht auf das Berufsgeheimnis.

Offenlegung der Identität des Rechtsanwalts nicht erforderlich

Dieser Eingriff sei auch nicht gerechtfertigt, so das Gericht weiter. Die 2018 vorgenommene Änderung der Richtlinie diene zwar dem Gemeinwohlziel, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern. Die Unterrichtungspflicht sei aber nicht erforderlich, da alle Beteiligten, insbesondere auch der Steuerpflichtige selbst, zur Vorlage dieser Informationen bei den zuständigen Behörden verpflichtet seien. Die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalts sei nicht erforderlich.  

Durch die Meldepflicht der anderen, nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Beteiligten und sonst des relevanten Steuerpflichtigen werde grundsätzlich gewährleistet, dass die Steuerverwaltung informiert wird. Außerdem könne die Steuerverwaltung, nachdem sie eine solche Information erhalten habe, bei Bedarf ergänzende Informationen unmittelbar vom relevanten Steuerpflichtigen verlangen, der sich dann für Beistand an seinen Rechtsanwalt wenden könne. Die Steuerverwaltung könne auch eine Überprüfung der steuerlichen Situation dieses Steuerpflichtigen durchführen. Daher gehe der Schutz der EU-Grundrechtecharta eindeutig vor.

Auch BRAO-Verschwiegenheitspflicht wird gestärkt

Das Urteil betrifft zwar grundsätzlich nur die belgische Regelung. In Deutschland hat es bisher solche Eingriffe in die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht in Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Richtlinie nicht gegeben. Aber immer wieder wird zum Beispiel auch im Rahmen der Geldwäschebekämpfung und anderer Meldepflichten versucht, in die anwaltlichen Verschwiegenheitspflichten einzugreifen. Diesen Versuchen schiebt der EuGH jetzt einen Riegel vor. Die in § 43a der Bundesrechtsanwaltsordnung geregelte Verschwiegenheitspflicht, deren Verstoß auch strafrechtlich in § 203 StGB sanktioniert ist, erhält dadurch eine deutliche Stärkung.

Die deutsche Anwaltschaft begrüßt insofern folgerichtig die Luxemburger Entscheidung: "Der EuGH würdigt das anwaltliche Berufsgeheimnis bei gerichtlicher Vertretung und anwaltlicher Beratung ausgiebig und kommt folgerichtig zu dem Schluss, dass die aus der Richtlinie folgende Pflicht von Rechtsanwälten, andere Intermediäre von ihrer Meldepflicht zu unterrichten, gegen Artikel 7 der Europäischen Grundrechtecharta verstößt“, heißt es in einer Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins gegenüber LTO. Weiter geht der DAV davon aus, dass bestehende Meldepflichten in Deutschland "in absehbarer Zeit auch Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen werden".

Wie auch immer es kommen mag: Wenige Tage nach seinem 70. Geburtstag ist es dem EuGH jedenfalls gelungen, seine besondere Stellung im Rechtssystem der EU zu verdeutlichen. Nur noch in extremen Ausnahmefällen dürften nach dieser klaren Entscheidung Versuche, für Anwälte besondere Mitteilungspflichten zu schaffen, erfolgreich sein.

Es ist zu hoffen, dass sowohl die EU-Kommission wie auch die Mitgliedstaaten in Zukunft diese Maßgabe berücksichtigen werden.

Zitiervorschlag

EuGH stärkt anwaltliche Verschwiegenheitspflicht: Offenbarungspflichten können EU-Grundrechte verletzen . In: Legal Tribune Online, 09.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50427/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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